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Älterwerden in der Öffentlichkeit
Neulich hat sich Alice Schwarzer mal wieder eingemischt – und ziemlich viele Menschen haben sich darum mal wieder an den Kopf gefasst. Was hat die da von „Terror“ in Köln geredet? Und von Jungs, die „Krieg spielen“? Klang alles ein bisschen wirr und irgendwie, naja, nach Alters-Stursinn. Weltoffenes und konstruktives Denken geht anders. Dabei war die Schwarzer doch irgendwann mal eine Vordenkerin. Jetzt wird sie langsam alt und ein bisschen wunderlich.
Eigentlich klar, dass Personen des öffentlichen Lebens nicht weniger konsequent altern als unsere eigenen Eltern. Bloß machen unsere Eltern das daheim – und die anderen im Fernsehen und im Internet! Um zu verstehen, was einer Alice Schwarzer gerade passiert, was davor schon einem Helmut Schmidt passiert ist, was denen passiert, die Jahr um Jahr vor Kameras und Mikrofonen stehen und sitzen, muss man sich einfach mal in sie hineindenken. Also tief Luft holen und sich kurz vorstellen, man sei Alice Schwarzer (keine Angst, gleich wieder vorbei!) oder jemand von gleichem Rang und Namen. Dann würde man wohl folgende fünf Phasen durchlaufen:
Phase 1: Du bist jung und revolutionär und/oder klug
Achtung, Phrase, aber: Die Welt steht dir offen! Du bist jung, du bist (einigermaßen) klug, du kannst gut reden und du findest es spannend, wenn was vorwärtsgeht. Also denkst du (einigermaßen) kluge Vorwärts-Gedanken in einem grade irgendwie wichtigen Themenbereich, so Avantgarde-mäßig. Deine Freunde hören dir zu, wenn du diese Gedanken aussprichst, weil du sie so charismatisch und mit Verve vorträgst und vertrittst. „Der/die wird mal ein/e ganz Große/r!“, sagen deine Freunde und bald auch andere Menschen. Du bist jetzt so eine Art Anführer. Cool! Also immer schön weiterreden!
Phase 2: Du verschaffst dir Gehör
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Du machst Karriere. Immer mehr Menschen hören dir zu, bald viel mehr als du persönlich kennst. Denn zum einen hast du mittlerweile irgendeinen wichtigen Posten inne (was Politisches oder was Mediales oder was Vorstandsmäßiges), zum anderen haben die Medien dich und deine schlauen (und provokanten) Gedanken entdeckt. Du tauchst jetzt also in der Öffentlichkeit auf und die Öffentlichkeit goutiert das: Endlich mal jemand Neues, Frisches! Selbst, wer deine neuen, frischen Gedanken nicht gutheißt, findet sie gut – weil sie die Diskussion anregen und weil endlich mal wieder was passiert. Und du, du genießt die Aufmerksamkeit, mit der du für deine Sache eintreten kannst. Und für dich selbst.
Phase 3: Alle wollen dir zuhören
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Langsam kriegst du ein neues Label: Koryphäe. Alle hängen an deinen Lippen. Es ist ihnen mittlerweile klar, dass du überall auftauchst und deinen Senf dazugibst, aber sie finden das völlig okay. Du darfst das, denn du hast halt Ahnung, Grips und kannst gut reden. Und weil dir alle zuhören wollen, wirst du von allen Stellen angefragt, zu denen man geht, um gehört zu werden: Du sitzt in Talkshows, du gibst Interviews, du schreibst Gastbeiträge. Du bist präsent. Und all die offenen Ohren um dich herum sind deine Legitimation.
Phase 4: Alle müssen dir zuhören
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Es hat sich etwas umgedreht. Du wurdest mal in Talkshows gebeten, weil dir alle zuhören wollten. Jetzt hören dir alle zu, weil du in Talkshows gebeten wirst. Man muss dir zuhören, wenn man nicht den ganzen Tag lang das öffentliche Leben ignorieren will. Das Problem: So richtig interessiert es keinen mehr, was du zu sagen hast. Deine Freunde vielleicht noch und die Menschen, die mit dir und deinen Thesen gealtert sind. Alle anderen sehnen sich nach jemand Neuem, jemand Frischem. Oder sie haben schon so jemanden gefunden und heften ihre Ohren an ihn (siehe Phase 2). Möglicherweise haben die Programmchefs der Talkshows auf ihren Stammbesetzungs-Listen eine Notiz unter deinem Namen gemacht: „Im Notfall einfach fragen. Kommt immer. Redet gern (und viel).“
Phase 5: Keiner hört dir mehr zu (aber du redest trotzdem)
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Irgendwann streicht dich der Programmchef von der Stammbesetzungsliste. Er ist selbst genervt oder gelangweilt. Dein Gehirn ist nämlich im Damals hängengeblieben und es spuckt sehr viel Damals aus. Deine ausgesprochenen Gedanken liegen wie Fossilien in der Welt herum und deine Thesen haben mittlerweile längst Kinder und Enkel, aber die verstehst du nicht mehr. Du könntest dich einfach zur Ruhe setzen.
Aber leider nervt es dich tierisch, dass dir keiner mehr so richtig zuhört. Und leider gibt es das Internet. Also redest du einfach weiter, obwohl dich keiner mehr fragt. Du schreibst das Internet voll, du mogelst dich immer wieder in die Medien, und die Öffentlichkeit denkt „Was redet denn der alte Tattergreis da?“ oder „Was sind das für wirre Gedanken dieser alten Dame?“ Sie findet dich eventuell ein bisschen süß und denkt sich, dass man alte Menschen ja nicht verunglimpfen soll. Aber ernstnehmen, was du sagst? Nee. Lieber denkt sie schon mal drüber nach, wie man deine Heldentaten und -gedanken von früher am besten in deinem Nachruf erwähnen kann. Und wenn sie nett ist, lässt sie darin dann Sätze wie „Wurde am Ende nicht mehr gefragt und hat trotzdem weitergeredet“ weg.