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In Amerika lebt man in einer Filmkulisse

Illustration: Veronika Günther

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Die Polizeisirenen sind zum Beispiel so eine Sache. Amerikanische Polizeisirenen klingen für mich immer eins drüber, ungefähr so: „Heeeuuueeelll!!!“ Sie sind wahnsinnig laut und dramatisch. Ich verbinde dieses dramatische Heulen mit amerikanischen Filmen und damit, dass in den amerikanischen Filmen gerade etwas Schlimmes passiert ist. Die Polizeisirenen, die ich aus meinem Alltag und „Benjamin Blümchen“-Hörspielen kenne, und mit denen ich aufgewachsen bin, klingen dagegen ziemlich betulich, ungefähr so: „Tatüüü-tataaa“. Bei deutschen Sirenen vermutet ich hinter dem Einsatz darum eher eine kleine Katze, die in einem Baum festsitzt, bei amerikanischen einen Mord. 

Ich bin mit vielen Fernseh-Stunden und mit amerikanischer Fernseh-Popkultur aufgewachsen. Ich komme aus einer Familie, in der es (zumindest zu meinen Lebzeiten) nie die in Deutschland typische „Nur die ersten drei Programme“-Regel gab. Soweit ich mich erinnere, auch keine „Nur eine halbe Stunde pro Tag“-Regel. Ich erinnere mich nur daran, dass ich oft auf dem Sofa saß, kalten Zitronentee trank und die „Simpsons“ und die „Bill Cosby Show“ anschaute. Ich habe als Kind viele US-Sitcoms der Achtziger und Neunziger gesehen: „Golden Girls“, „Alle unter einem Dach“, „Full House“, „Der Prinz von Bel Air“, „Eine schrecklich nette Familie“, „Roseanne“, und Jugendserien wie „Sabrina“ oder „Parker Lewis“. Und natürlich  (und jeden davon mehrfach) einen Haufen Kinder- und Jugendfilme wie „E.T.“ oder „My Girl“ (beide Teile), und berühmte, jugendfreie Filme wie „Forrest Gump“, die am Wochenende zur Prime Time liefen. Als Jugendliche hatte ich dann immer Freunde, die gerne DVD-Abende machten, und wir liehen fast ausschließlich amerikanische Filme aus. Das Fernsehen versorgte mich weiter mit Sitcoms und mit Serien wie „Dr. House“, „Monk“ und „Law&Order“.

Fenster, die man hochschiebt, Doggybags und Refill-Kaffee? Alles ausgedacht

Aber obwohl alles, was ich konsumierte, aus den USA kam, hat es lange gedauert, bis ich zum ersten Mal selbst dort hinreiste. Vor allem als Kind und vor allem, weil ich ja nie „echtes“ amerikanisches Fernsehen sah, keine Nachrichten oder Dokumentationen, war die Welt in den Serien und Filmen für mich darum keine amerikanische Welt, sondern eine Fantasie-Welt. Eine reine Kulisse. Etwas, dass die Filme- und Serien-Macher sich ausgedacht hatten. Die Vorstädte mit den niedrigen, breiten Häusern und den großen Rasenstreifen davor. Die Veranden vorne an den Häusern. Fenster, die man hochschiebt statt aufklappt. Motels mit einzelnen Eingängen für alle Zimmer. Highways, die durchs Nichts führen. Diner, Boothes, Refill-Filter-Kaffee, Doggybags, Bier ohne Schaumkrone, Müllschlucker-Abflüsse, riesige Kühlschränke mit Milchcontainern drin, Toilettenschüsseln, die immer bis zur Hälfte mit Wasser gefüllt sind. Große, weiße Schilder mit auswechselbaren Buchstaben, individualisierte Nummernschilder, Feuerleitern an roten Backsteinhäusern, Kirchen ohne Kirchturm, eingezäunte Basketballplätze. Mädchen mit perfekt geföhnten Haaren, Baseball, Football, schrillende Schulklingeln, Spinde auf Schulfluren, gelbe Schulbusse, Abschlussbälle. Sechzehnjährige, die Auto fahren, Automatikschaltung. Die Polizeisirenen. Alles ausgedacht.

Im vergangenen Jahr war ich zum ersten Mal in den USA. Und obwohl ich natürlich längst wusste, dass die Serien- und Film-Welt eine amerikanische Welt ist, dass es sie wirklich gibt, war es doch höchst seltsam, dort auf einmal so hineingeworfen zu sein. Alles, was in der New Yorker U-Bahn neben mir gesagt wurde, klang wie aus dem Skript einer Folge „How I Met Your Mother“. Ein Roadtrip von Washington D.C. bis nach New Orleans verstärkte das Gefühl immens, weil ich jetzt auch all die Vorstädte, Motels, Diners, Nummernschilder und Refill-Kaffees sah. Ich habe sehr oft „Das kenne ich aus dem Fernsehen!“ gesagt, so oft, dass ich es irgendwann nur noch gedacht habe, weil es mir selbst schon auf die Nerven ging.

Bis heute kann ich eine Geschichte besser als Fiktion annehmen, wenn sie in den USA spielt

Ich habe auf dieser Reise zum ersten Mal darüber nachgedacht, wie wohl Amerikaner in meinem Alter früher „E.T.“, „Sabrina“, „My Girl“ und die „Simpsons“ gesehen haben müssen. Für mich war das alles weit weg, Geschichten aus einer anderen, erfundenen Welt. Der Bezug zu meinem eigenen Leben fehlte beinahe komplett. Aber für einen Dylan, der in den Achtziger Jahren in einem kalifornischen Vorort aufgewachsen ist? Für den sah die Umgebung, in der auf einmal E.T. auftauchte, doch genauso aus wie in Spielbergs Film! Und für eine Amanda, die in den Neunzigern auf eine Highschool in Massachusetts gegangen ist? Die lebte doch in  der gleichen Welt wie die Teenager-Hexe Sabrina! Ich frage mich, wie es gewesen sein muss, all das ohne die für mich völlig natürliche Distanz angeschaut zu haben.

Die US-Filme und -Serien haben nicht nur mein Bild von Amerika geprägt. Sie haben vor allem mein Bild von der typischen Kulisse für Filme und Serien geprägt. Bis heute kann ich eine Geschichte besser als Geschichte annehmen, als Fiktion, als etwas, das mit mir nichts zu tun hat, wenn sie in den USA spielt. Die Vorstellung, eine der für mich gruseligsten Szene der Filmgeschichte (aus „Mulholland Drive“ ) würde nicht in einem amerikanischen Diner spielen, sondern in einer Berliner Raststätte, macht mich ganz schwach. Und natürlich weiß ich, dass „The Wire“ eine sehr realistische US-Serie ist – trotzdem hat mich mein Besuch in Baltimore im Frühjahr härter getroffen, als ich gedacht hätte.

Ich bin jetzt gerade für einige Wochen am Stück in den USA. Ich trinke Milch aus riesigen Packungen, die in einem riesigen Kühlschrank stehen, und wenn ich das Fenster aufschiebe, kann ich oft eine Polizeisirene heulen hören. Ich kann dann manchmal immer noch nicht glauben, dass das die Wirklichkeit ist. Und muss mir selbst immer wieder sagen, dass womöglich bloß irgendwo eine kleine Katze im Baum festsitzt.

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