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"Ich bin kein Mädchen mehr, ich bin eine Frau"

Collage: Daniela Rudolf

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Das vergangene war ein denkwürdiges Jahr für mich. Ich wurde verdächtig oft von älteren Herren angegraben. Öfter, als je zuvor. Und jedes Mal lief das ähnlich ab. Nicht wie sonst, wenn einen als junge Frau alte Männer anmachen. Nicht schmierig und notgeil. Im Gegenteil: harmlos. Fast rührend und auch sehr schmeichelhaft, und nur zum Schluss hin etwas verstörend. Weil ich nämlich anfangs überhaupt nichts und am Ende alles begriff. 

Im Sommer musste ich zum Beispiel oft zu einem Arzt. Dieser Arzt war nicht mehr 40 aber auch noch nicht 60. Er war sehr nett, vertrauenswürdig, höflich, kompetent, ehrlich, anständig. Neben den medizinischen Angelegenheiten haben wir immer auch noch ein bisschen übers Leben geredet. Das fand ich gut. Ist doch schön, wenn so ein Arzt mal ein bisschen normal mit einem redet, sich für einen interessiert und einem ein gutes Gefühl gibt. Die Menschen wären sicher grundsätzlich gesünder, wenn ihr Arzt ihnen statt dem fünften Tablettenrezept einfach etwas Zeit und ein offenes Ohr schenken würde. So dachte ich mir das. 

Als ich zum letzten Mal da war, sagte er zu mir nach unserer gewohnten Unterhaltung, dass wir doch mal abends ein Bier zusammen trinken gehen könnten. „Wah!“, dachte ich. „Oh je!“, dachte ich auch. Und: „Jetzt verstehe ich erst!“ Ich ignorierte das Angebot, lächelte höflich und ging.

Auf der Straße dachte ich weiter: „Hilfe! Alles falsch verstanden! Alter, verzweifelter Mann! Ich Dummerjan! Ein Kleine-Mädchen-geiler-Hund ist das! Wie kommt er drauf, mich anzumachen? Was stellt der sich vor, der sieht doch mein Geburtsdatum! Klare Sache für mich: Midlife-Crisis, Notgeilheit, Einsamkeit nach der Scheidung, wilde Fantasien, der will noch wahllos mitnehmen, was geht, bevor alles endgültig erschlafft!“ Oder so. Auf jeden Fall: Realitätsverschiebung seinerseits!

Was war nur mit mir passiert? Warum standen neuerdings zurechnungsfähige alte Herren auf mich?  

 

Ich meine: Man kennt das ja. Seit ich fünfzehn bin, kommt mir dann und wann ein Typ unter, der mein Vater sein könnte und mich angräbt und das hat immer etwas leicht Schmieriges. Nur: Bei diesem Mann kam es mir ja gar nicht schmierig vor. Dafür war er zu ehrlich interessiert und zu charmant-charmant. Er war nicht anzüglich, es war alles sehr respektvoll und höflich. Und: Ähnliches passierte mir in diesem Jahr noch öfter. Ich stelle mir also viele weitere Fragen. Was war nur mit mir passiert? Warum standen neuerdings zurechnungsfähige alte Herren auf mich? Warum flirteten sie mit mir, als sei es das normalste der Welt? Etwas war anders und ich begriff es nicht. 

Bis ich es doch begriff. Die flirteten mit mir, als sei es das Normalste der Welt, weil es das Normalste der Welt war. Mein Geburtsdatum heißt allmählich nicht mehr: Anmachverbot, weil sozusagen minderjährig. Es heißt nicht mehr: Och, so ein junges Mädchen! Es heißt: Naja, mei, auch bald 30. Wenn ältere Männer auf der Suche nach einer Frau sind, dann bin ich plötzlich auf ihrem Radar. Zugegeben, mit 27 auf dem ganz unteren Rand ihres Radars, aber immerhin dort ein deutlicher Punkt. 

Dass sich in Sachen Altersunterschiede regelmäßig die Relationen verschieben, kennt man ja eigentlich. Mit 14 kam einem schon ein 17-Jähriger ziemlich erwachsen vor. Zwischen 20 und 25 waren drei Jahre Altersunterschied dagegen ein totaler Witz und sieben bis zehn komplett in Ordnung. Wichtiger als Zahlen wurde mit jedem Jahr die Tatsache, dass sich zwei ausgewachsene Menschen begegnen, körperlich und geistig ungefähr auf einer Wellenlänge. 

Und was die Jugend dalässt, ist ein Spiegel. Da guckt man rein und sieht: Man hat keine Eierschale mehr auf dem Kopf. Man hat jetzt eine Frisur.

Aber die Verschiebung, die zwischen 27 und 30 stattfindet, die ist irgendwie mehr als die Verschiebungen zuvor. Weil sie etwas Großes bedeutet. Und zwar den Abschied von der Jugend. Natürlich ist man zwischen 27 und 30 auch noch irgendwie jung. Aber die Jugend, die sich nach dem 18. Geburtstag Jahr für Jahr hat so lässig überreden lassen, einfach noch ein wenig da zu bleiben, die zieht sich mit 27 die Stiefel an, wirft sich den Schal um und sagt: „Gibt’s noch was? Denn sonst: Adé mein Freund!“ Und dann macht sie den Reißverschluss ihrer Tasche zu und darunter sieht man verschwinden, was man für immer und ewig zu besitzen glaubte: Den Welpenschutz. Die „Ich weiß noch nicht, ich hab ja noch Zeit“-, die „Oh, sorry, ich mach das zum ersten Mal“ und die „Ich bin neu hier“-und „Ach, so macht man das?“-Sätze. 

Und was die Jugend dalässt, ist ein Spiegel. Da guckt man rein und sieht: Man hat keine Eierschale mehr auf dem Kopf. Man hat jetzt eine Frisur. Und die sehen die Männer, auf die eigentlich die Bezeichnung „Herren“ besser passt, auch, und fangen an, einen anzuflirten. Weil's jetzt wohl okay ist. Und dann denkt man nach und kommt drauf: Stimmt, es muss wohl so weit sein. Ich bin kein Mädchen mehr, ich bin eine Frau.

Man macht vieles nicht mehr zum ersten Mal, sondern eher zum achten, zwölften oder dreihundertsten Mal. Man verdient allmählich sein eigenes Geld. Man findet, dass die Studenten auf der Straße nicht mehr aussehen wie man selbst, sondern wie Fünftklässler. Man findet Babys verdächtig gut. Man ist jetzt offiziell einer dieser Menschen, die auf der Straße rumlaufen und von denen man denkt: Aha, wieder so ein Mitten-im-Leben-Mensch, naja, irgendwas zwischen 30 und 50 wird er schon sein. Und dass Kurt Cobain und seine Club-27-Freunde sich in genau diesem Alter entschlossen, nicht allein zu Hause zu bleiben und das Alter geschehen zu lassen, sondern einfach mit der Jugend mitzugehen, das war, wie man jetzt merkt und erst merken kann, wenn man selbst in diesem Alter ist, kein Zufall. 

Aber ist es wirklich so traurig? Natürlich ist es ein bisschen traurig. Weil der Jugendbonus etwas Schönes ist. Er macht, dass man für Sachen Lob kriegt, die babyeinfach sind. Dass man in Schutz genommen wird und noch nichts richtig zählt. Dass die Menschen immer ein bisschen zu wenig von einem erwarten und die eigene Leistung dann umso glänzender aussieht. Er macht, dass man Rumschreien und Ausrasten und viel dummes, lustiges Zeug machen darf, und das dann als Jugendkram gilt. 

Aber was er auch macht: Dass man nie ganz für voll genommen wird. Und vielleicht ist es ja ganz gut, wenn das endlich mal aufhört. 

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