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Warum mich Handyketten gruseln

Foto: Jessy Asmus

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Liebe Erdenbürger und Erdenbürgerinnen,

ich habe eine wichtige Frage:

Handyketten, ja? Ihr schnürt euch jetzt also ernsthaft euer Smartphone an einer Kordel um den Hals? Als ich die Handykette zum ersten Mal sah, hatte ich Mitleid mit ihren Erfindern: Haha, oh Gott, schlechter Witz, so sehen Erfindungen aus, die fünf Jahre zu spät kommen.

Hätte es eine Nummer der Handykettenerfinder gegeben, hätte ich sofort angerufen und gesagt: kleiner Tipp zum Zeitgeist, Leute. Verkauft lieber Handykäfige, die das Handy in der Handtasche möglichst unerreichbar machen, damit man in der Tram statt zum iPhone doch lieber endlich wieder zum Buch greift. Die Leute wollen weg von ihren Handys, nicht zu ihnen hin. Checkt ihrs nicht?

Denn wir hatten uns doch darauf geeinigt, dass seit allerspätestens eineinhalb, wenn nicht gleich seit etwa zweieinhalb bis drei Jahren endgültig die digitale Achtsamkeit angebrochen ist, oder? Wird nicht seit einiger Zeit in jedem Medium von Print bis Online, an jedem Tresen der Stadt, in allen WG-Küchen und ja, auch in der hinterletzten Kleingartensiedlung, immer wieder aufs Neue erkannt, dass Daueronlinesein nicht einmal mehr halb so spannend ist wie zu Beginn der Zehnerjahre? Dass Facebook, Twitter, Instagram und Whatsapp zwar massenweise genutzt werden, aber von vielen auch zu exzessiv und gedankenlos?  Zu viel? Zu laut? Zu anstrengend? Zu traurig? Zu ADHS-fördernd, zu allgemein seelenschädlich? Verkünden nicht zuletzt immer mehr Leute ihren Ausstieg aus den sozialen Netzwerken, angefangen mit den Instagram-Pausen einiger Kardashians bis zuletzt zum neuen Twitter-Abstinenzler Robert Habeck von den Grünen? Und war da nicht auch irgendwas mit digitaler Vorsicht, weil Datenschutz, Privatsphäre und politische Alertheit?

Ich weiß, das waren viele Fragen. Aber ich bin noch nicht einmal fertig: Wird nicht das Zuviel-ins-Handy-gucken von den meisten von uns nur noch heimlich und von großen Selbsthassattacken begleitet weiterpraktiziert oder halt von jenen, die beruflich drauf angewiesen sind? Ist die berüchtigte ständige Erreichbarkeit nicht längst als einer der größten Fehler der modernen Gesellschaft enttarnt und gehören kleinere und größere digitale Detox-Kuren nicht mittlerweile in unseren Alltag, wie eine regelmäßige Bewegungsroutine oder Körperhygiene – und sei es auch nur als wackeliger Neujahrsvorsatz? Wird nicht in jedem Freundeskreis mittlerweile diejenige Person, die ständig ihr Smartphone auf laut geschaltet auf dem Tisch liegen hat und zwischendurch für Intervalle von drei Minuten komplett in ihrem Screen verschwindet, zuerst ausgelacht, dann verwarnt und schließlich geächtet?

Sind wir nicht heute im Bezug auf Smartphones alle der Meinung: Die Dosis macht das Gift? Und freuen uns, spätestens seit der Einführung von Screentime unseren Handykonsum ein für alle Mal aktiv runterschrauben zu können?

Holt die Handys wieder raus, nach uns Ritalin und Überwachungsstaat!

 

Doch anscheinend stimmt all das nicht. Anscheinend checke ich es nicht. Die Handykette ist das neue große Ding, der Brustbeutel der Moderne, das unverzichtbare und völlig unironisch zur Schau gestellte Super-Accessoire, trendy Symbol der urplötzlichen Totalamnesie allen Wissens ob der Risiken des Digitalen. Die Message der Handykette: Ach Leute, was soll die Bescheidenheit, wir wissen’s doch alle, wer heute keine Insta-Story davon macht, wie er die regennasse Straße überquert, stirbt morgen an mangelnder Anerkennung. Holt die Handys wieder raus, nach uns Ritalin und Überwachungsstaat! Denn die eineinhalb Sekunden, die es braucht, um das Telefon aus der Hosen- oder Handtasche zu holen, ruinieren ja jeden Insta-Moment!

Ich habe „Handykette“ mal gegoogelt. Die Menschen sind begeistert. „Super praktisch, damit man das Handy immer bei sich hat, die Hände aber frei bleiben. (…) Besonders praktisch beim Sport, in der Arbeit, beim Einkaufen, eigentlich in jeder Situation, in der man unruhig wird, wenn das Handy in der Tasche vergraben ist (…) Die Handykordeln kann man wie eine Kette um den Hals tragen – oder crossbody quer um den Körper.“ Genau. Bald auch für unter der Dusche. Hilft einfach gegen die Nervosität, wenn man weiß, der Stoff ist nah. Sollte man Alkoholikern eigentlich auch mal raten. Tragen Sie einfach immer einen kleinen Schnaps um den Hals, das beruhigt die Nerven.

Verwirrte Grüße,

eure Mercedes

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