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„Ich werde es nie verstehen“

Foto: Warner Music Germany

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Am 20. Juli 2017 nahm sich Chester Bennington, der Sänger der US-Rockband Linkin Park, das Leben. „Post Traumatic“ ist nun der Versuch seines Freundes und langjährigen Frontmannkollegen Mike Shinoda (41), die Tragödie künstlerisch aufzuarbeiten. Das gelingt ihm. Gewissermaßen kann man Shinoda dabei zuhören, wie er seine Trauertherapie angeht. Wir haben uns mit Mike Shinoda im „Sunset Marquis“-Hotel in Los Angeles unterhalten.

jetzt: Mike, wann hast Du beschlossen, Chesters Tod künstlerisch aufzuarbeiten?

Mike Shinoda: Sehr bald. Für mich kam keine andere Option infrage, mich mit dem, was passiert ist, auseinanderzusetzen. Kunst war immer schon der Ort, an den ich ging, wenn ich Probleme hatte oder schwierige Situationen durchmachte. 

Dein Leben lang?

Ja. Beim Malen, Zeichnen und Songs schreiben fühle ich mich sicher - in diese Welt habe ich mich bereits als Kind sehr gern geflüchtet. Für mich funktionierte diese Art des Eskapismus immer schon besser, als zum Beispiel einen Film zu gucken. Wenn du selbst etwas machst und kreativ bist, dann ist das ein wirklich wertvolles Ventil. 

Hast Du nach Chesters Selbstmord auch eine klassische Psychotherapie gemacht?

Nein. Ich habe darüber nachgedacht, aber mir dann keinen professionellen Therapeuten gesucht. Ich habe ein sehr gutes Netzwerk von Freunden, einige von ihnen sind tatsächlich Psychiater von Beruf, die haben mich natürlich unterstützt. Viele meiner Freunde sind sehr einfühlsam und klug und haben mir sehr geholfen.

Kannst Du Namen nennen?

Zum Beispiel Rick Rubin (der US-amerikanischer Musikproduzent, Anm. d. Red.). Er hat in seinem Leben alles gesehen, besitzt einen wundervollen Geist und hält sich in Gesprächen nicht mit Unsinn auf. Rick hat ein paar unserer Platten aufgenommen, er kannte Chester gut. Und er wusste natürlich, dass er lange schon unter Depressionen litt. Wir sprachen darüber, dass du den meisten Menschen mit schweren Depressionen ansehen kannst, wie extrem unwohl sie sich in ihrer eigenen Haut fühlen. Und dass es bei Chester eben nicht so war. Er kam ganz gut mit sich selbst zurecht, er hatte immer einen Draht zu seinem Inneren. Wir kamen zu der Einsicht, dass wir keine Antworten bekommen werden. Natürlich, auch ich frage mich: „Warum?“ Aber niemand kann diese Frage beantworten. Ich gehörte zu den Menschen, die ihn sehr gut und sehr lange kannten, aber ich werde es nie verstehen.

„Er hat sich so sehr geöffnet, wie sich Menschen mit dieser Krankheit nur selten öffnen“

Wenige Monate vor seinem Tod haben wir noch in Berlin über das damals neue Linkin-Park-Album „One More Light“ gesprochen. Chester war gut drauf, sehr reflektiert, und er sprach offen über seine Probleme, seinen Alkoholrückfall, seine Wut und seine seelischen Nöte. 

Ich weiß. Er hat sich so sehr geöffnet, wie sich Menschen mit dieser Krankheit nur selten öffnen. Er zeigte sich so ehrlich und so verletzlich. Chester hatte seit vielen Jahren mit Süchten zu kämpfen, es war ein Auf und Ab. Während der Arbeit an „One More Light“ hatte er eine schlechte Phase, aber wir dachten, es ginge bergauf. Viele Menschen unterstützten ihn, viele haben ihn aber auch regelrecht fertiggemacht, weil sie nicht einverstanden waren mit den klanglichen Entscheidungen, die wir auf „One More Light“ getroffen hatten. Er war sauer, weil die Leute so widerlich zu ihm waren. Die Verrisse des Albums haben ihn sehr verletzt.

Hattest Du Angst um ihn?

Wir haben immer versucht, so gut es geht aufeinander aufzupassen. Im Hinterkopf ist die Sorge immer da, man schaut schon hin. Doch manches, was in einem Menschen vorgeht, bekommst du nicht zu Gesicht. 

Fünf Songs, die jetzt auf dem „Post Traumatic“-Album enthalten sind, hast du bereits im Januar auf der gleichnamigen EP veröffentlicht. Wie haben die Fans reagiert?

Unglaublich berührend. Die Musik ist bewusst so konzipiert, dass ich so wenig Distanz wie möglich zwischen den Fans und mir aufbaue, ich will die Leute wirklich hineinlassen in meine Welt. Und ich bin von Anfang an überwältigt gewesen, was für ein liebevoller, tröstender Ort meine Seiten in den sozialen Medien sind. Viele meckern ja immer, dass die Kids nur noch am Handy sind anstatt zu reden, dass sie ausgestöpselt sind vom Leben. Meine Erfahrung des letzten Jahres ist eine komplett andere: Die Fans haben sich in den sozialen Netzwerken wirklich mitfühlend um mich, aber auch umeinander, gekümmert. Ich finde das so wundervoll. 

Auf „Place To Start“ hört man, wie Freunde von dir auf den Anrufbeantworter sprechen, um sich nach dir zu erkundigen.

Ja, es haben sich unheimlich viele Menschen gemeldet. Die Fragen waren immer „Was ist passiert?“ und „Wie geht es dir?“ Wenn ein Familienmitglied oder enger Freund stirbt, dann erkundigt sich normalerweise ein enger Kreis nach dir. Wenn du in der Öffentlichkeit stehst und die ganze Welt Bescheid weiß, dann ist dieser Kreis ungleich größer. Ich habe diese Fragen also sehr, sehr oft beantwortet. Meist online. Ich konnte in den ersten Wochen das Haus so gut wie gar nicht verlassen.

„Sobald mich jemand auf Chester ansprach, war ich im Kopf sofort wieder an dem Moment, als ich davon hörte“

Warum nicht?

Zum einen wollte ich Zeit für mich und meine Trauer haben. Und einmal ging ich Mittagessen und es kamen die Paparazzi. Sie umstellten mein Auto und belagerten mich förmlich. Ich konnte nicht mehr weg, ohne die Leute mehr oder weniger umzufahren. Und dann dieses „Mike, erzähl‘ mal“, „Mike, bist Du traurig?“ Ich habe nur gesagt, dass sie sich schämen sollten, und mich wochenlang daheim verkrochen.

Wann bist Du wieder rausgegangen?

Du hältst so etwas nicht ewig durch, schon rein praktisch nicht. Ich musste meine Kinder zur Schule bringen, ich musste zu Geburtstagspartys der Kinder. Logisch, alle anderen Eltern dort wieder „Mike, wie geht es dir“, „Können wir dir helfen?“ Das ist alles sehr süß und gut gemeint, aber es wirft dich immer wieder so zurück. Sobald mich jemand auf Chester ansprach, war ich im Kopf sofort wieder an dem Moment, als ich davon hörte. Ich dachte mir, wenn ich diese Fragen schon nicht beantworten kann, dann will ich mich wenigstens künstlerisch mit ihnen auseinandersetzen. „Post Traumatic“ ist ein sehr persönliches Statement über diese Phase meines Lebens. 

Die auf dem Album enthaltenen und bereits früher veröffentlichten Stücke „Watching As I Fall“ und „Nothing Makes Sense Any More“ sind viel düsterer und verzweifelter als jüngere Nummern, etwa „Lift Off“ oder das HipHop-Stück „About You“. Ist dir das bewusst? 

Ja. Ich habe immer versucht, das Gefühl, das ich gerade hatte, in der Musik einzufangen. Die Phasen der Trauer kommen nicht immer in der klassischen Reihenfolge, sie passieren eher nach dem Zufallsprinzip. Aber grundsätzlich war mein Jahr eine Reise von einem sehr dunklen, traurigen Ort zu etwas Hellerem und Neuen. Chester lebt nicht mehr. Er war ein ganz besonderer Mensch, mit einer der besten Stimmen unserer Zeit. Wir waren alle glücklich, ihn gekannt zu haben. Ich will nicht sagen, dass man sich damit abfinden muss, denn das schaffe ich nicht. Ich finde es immer noch unbegreiflich. Aber man muss irgendwie damit zurechtkommen.

Wie wichtig Ist Humor bei der Trauer?

Viel wichtiger als ich dachte. Wir saßen und sitzen oft zusammen, Chesters Frau Talinda, meine Frau Anna und ich. Manche unserer Gespräche waren sehr düster, aber viele waren auch ziemlich lustig. Innerhalb dieses „Was machen wir eigentlich hier?“-Gefühls haben wir sehr viel zusammen gelacht. Chester konnte so witzig sein. Er war ein Mensch, der gern auf andere zuging. Er liebte es, sich mit wildfremden Leuten zu unterhalten. 

„Sometimes you say Goodbye over and over and over again“ sagst du in „Over Again“. Also: Manchmal verabschiedest du dich immer und immer wieder. Wie meinst Du das?

Die erste Strophe schrieb ich am 27. Oktober, dem Tag unseres Tribute-Konzerts im „Hollywood Bowl“ in Los Angeles. Die zweite Strophe schrieb ich am Tag danach. In dieser Zeit erinnerte mich einfach alles an Chesters Selbstmord, an die Tragik, an die komplette, fundamentale Zerstörung so vieler Dinge, die Teil der Struktur unseres Lebens waren. Ich habe auch deshalb diese Musik gemacht, weil mir das hilft, Struktur in mein Leben zu bringen. Ansonsten wäre da nur Chaos. 

„Egal, wie es mit Linkin Park weitergeht: Als Gemeinschaft werden wir immer eng verbunden bleiben“

Worum geht es in „Lift Off“?

Um den puren Eskapismus. Wenn mir alles zu viel wird, mache ich auch Sachen, die nichts mit all dem hier zu tun haben. Pausen vom Trauern zu machen ist okay. „Lift Off“ ist ein positiver Song, es geht letztlich auch um Utopien. Mein Vater ist Raumfahrtingenieur, er hat am Space Shuttle mitgearbeitet und an den Apache-Kampfhubschraubern, für ihn hat alles eine technische Lösung, das ist bewundernswert. Als Kind war ich manchmal bei den Raketenstarts dabei, auch mich fasziniert das, ich möchte aber nicht ins Weltall reisen. Ich denke, die Zukunft der Menschheit wird auf der Erde entschieden.

Du bist als hoffnungsvoll, was die Zukunft angeht?

Total. Weil ich sehe, mit was für einem hartnäckigen, unerschütterlichen Optimismus sich die jungen Leute aufmachen, um die Probleme zu lösen, über die wir alle reden. So eine Energie, auch so ein konstruktives Angepisstsein, habe ich noch nie erlebt. Ich bin Jahrgang 1977, ich habe die Proteste gegen den Vietnamkrieg nicht erlebt, aber damals war es ähnlich. Die Kids waren motiviert und leidenschaftlich, sie wollten die Welt verändern und haben es geschafft. Heute haben sie mit dem Internet ein spektakuläres Werkzeug in der Hand. 

Bist du mit 41 noch Teil dieser Bewegung?

Ich habe das Gefühl, ich habe mehr Gemeinsamkeiten mit vielen 20-Jährigen als mit den meisten 40-Jährigen. 

Wie wird jetzt dein Liveprogramm aussehen?

Ich werde solo auftreten und sowohl Musik von meinem Livealbum, von meinem Projekt Fort Minor und von Linkin Park spielen.

Ob und wie es mit dir und Linkin Park weitergeht, ist weiter unklar, oder?

Ja. Wir haben keine Pläne. Ab und zu treffen wir uns zum Essen oder im Studio, wir machen dann auch Musik, aber nur für uns, ohne das Ziel, etwas zu veröffentlichen. Wir müssen uns noch an die Situation gewöhnen, eine neue Stabilität finden und neue Versionen von dem kreieren, was unser Leben war. Das braucht Zeit. Und egal, wie es mit Linkin Park weitergeht: Als Gemeinschaft werden wir immer eng verbunden bleiben. Ich liebe diese Jungs, und ich glaube, sie lieben mich auch. 

Anmerkung der Redaktion: Wenn Du Dich selbst betroffen fühlst, kontaktiere bitte umgehend die Telefonseelsorge oder U25. Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 gibt es Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten. 

2010 sprachen wir mit Chester Bennington:

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