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Ich bin 16 Stunden in der Oktoberfest-U-Bahn mitgefahren

Foto: Frank Leonhardt / dpa / Collage: jetzt.de

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Die Wiesn verwandelt München. Zwei Wochen lang ist hier alles ein bisschen oder sehr anders. Ein Ort, so dachte ich mir, an dem man diese Veränderung konzentrierter als irgendwo sonst spüren muss, ist die U4. Die U-Bahn-Linie, die Richtung Theresienwiese fährt. Sie transportiert in einer Dauerschleife (meist halbwegs) nüchterne Gäste zum Oktoberfest und Betrunkene heimwärts. Sie ist voll und laut und hier prallen die Gegensätze aufeinander, die München zur Wiesnzeit ausmachen: Nüchterne treffen auf Volltrunkene, Alltag auf Oktoberfestwahnsinn, und das alles von früh bis spät. Ich wollte deshalb einen Tag in der U4 verbringen. Eine Wiesn-Menschheits-Beobachtung in fünf Kapiteln.

Kapitel 1: Viel Lärm um Nichts

8 Uhr, Arabellapark

Rentner 1: Fahrst du naus auf’d Wiesn?

Rentner 2: Na, i fahr mim Radl nach Freising nunter.

Rentner 1: Mei, i dad so gern no fahren.

Rentner 2: Konnst ned, gelt. Wegam Sturz.

Rentner 1: Ja, wegam Sturz.

Rentner 2 (mitleidig): Mei.

Los geht es, wie immer alles losgeht: ganz harmlos. Um kurz nach acht steigen die ersten Menschen in Tracht in die U-Bahn, ein paar fahren sogar jetzt schon bis zur Haltestelle Theresienwiese. Das Ordnungspersonal, das später aufpassen muss, dass die ganzen Betrunkenen nicht ins Gleisbett fallen (und damit einen der härtesten Wiesn-Jobs macht), frühstückt aber gerade noch in Seelenruhe Butterbrezen. Wer an einem Montagmorgen um acht zur Wiesn fährt, ist wirklich etwas zu früh dran – die Zelte machen nämlich erst um zehn auf. Davor passiert rein gar nichts. Weder oben auf der Theresienwiese (was allerdings nur Spekulation ist, denn ich darf ja nicht an die Oberfläche) noch unten in der U-Bahn.

Der Morgen ist die Atempause der Stadt: Der Rausch des Vorabends ist nicht mehr zu sehen, der neue noch weit weg. Der Zug riecht noch kein bisschen nach Alkohol, sondern ist so steril und sauber, dass man vom Boden ein Hendl essen könnte, und die U-Bahnfahrer sind noch einigermaßen gut drauf (auch, wenn sie sich ein wenig müder anhören als sonst). Diese Stunden ähneln aber auch der Zeit im Zelt, während die Band noch Blasmusik spielt und nicht auf die Wiesn-Hits umgestiegen ist – fad. 

Nur die Nachrichten auf dem großen Display in der Zugmitte lassen ahnen, dass Wiesnzeit ist: „Mann im Dirndl will auf Damentoilette ins Hacker Festzelt“, steht da.

Kapitel 2: Der Widerspenstigen Zähmung

13 Uhr, Hauptbahnhof

Typ 1:  Und dann hat er den mit dem Masskrug verprügelt. Also, wenn wir später Stress kriegen, dann Finger weg vom Masskrug, Alter.

Typ 2: Was soll denn das jetzt schon wieder? Warum gehst du denn jetzt schon wieder davon aus, dass wir Stress kriegen? 

Typ 1: Hä?

Typ 2: Können wir nicht EINMAL irgendwo hinfahren und NICHT davon ausgehen, dass wir Stress kriegen? Mann, diese Einstellung. Echt.

Typ 1: Ich sag ja nur, WENN wir in Schwierigkeiten kommen, ich mein ja, für den Fall…

Typ 2: Scheiß auf deinen Fall.

Die beiden jungen Männer mit den Baseballcaps (die „Mass“ aussprechen wie den Schokoriegel „Mars“) steigen in die U-Bahn Richtung Theresienwiese. Ihre Haltung, auf gar keinen Fall in Tracht aufs Oktoberfest zu gehen, stellen sie genauso bereitwillig zur Schau wie den Schritt ihrer Jeans, als sie sich hinsetzen. Ich bin mittlerweile schon über 20 Mal mit der U4 vom Arabellapark bis zum Heimeranplatz gefahren und überlege, ob das Honorar, das ich von der Redaktion bekomme, mich irgendwie für die Lebenszeit entschädigt, die ich hier verplempere. Aber ich wollte es ja unbedingt machen, unbedingt wissen, wie es sich anfühlt, hier einen ganzen Tag abzuhängen.

Zwei griesgrämig dreinblickende Frauen fahren um halb zwei von der Theresienwiese wieder zurück Richtung Innenstadt und schimpfen auf Spanisch, vor allem über das Wetter, glaube ich, aber irgendetwas scheint ihnen sonst noch nicht zu passen. Vielleicht liegt es daran, dass sie um halb zwei Uhr nachmittags schon wieder heimfahren? Gerne würde ich ihnen das Konzept Oktoberfest erklären: dass es erst ein bisschen später lustiger wird und dass man dann ins Zelt gehen könnte (dann ist das Wetter auch nicht so nervig). Gerne würde ich mit ihnen einen zweiten Versuch starten, aber sie schauen so grantig drein, dass ich mich nicht traue, sie anzusprechen. Übrigens: Nichts entlarvt einen Touristen so sehr wie ein durchsichtiger Einmal-Regenponcho über einem Dirndl.

Ein paar Minuten später sehe ich an der U -Bahn-Station Schwanthalerhöhe einen jungen Mann in Lederhosen, der so entschlossen eine Banane schält, als könnte diese eine Banane ihn für alles wappnen, was er heute auf dem Oktoberfest erlebt. Ich glaube, jetzt geht’s dann langsam los.

Kapitel 3: Der Sturm

18 Uhr, Hauptbahnhof

Er: „Wie weit fahren wir noch?“

Sie: „Eine Station.“

Er: „Und jetzt?“

Sie: „Eine Station.“

Er: „Und jetzt?“

Sie: „Eine Station.“

Er: „Die schreibt mit, schau.“

Sie: „Nein. Tut sie nicht.“

Jedes Mal, wenn die Frau einen Satz sagt, muss sie hicksen. Ihre Autorität in Sachen Heimweg-Orientierung scheint das nicht zu untergraben. Mittlerweile ist Feierabendverkehr. Betrunkene treffen auf Berufstätige, die einfach nur nach Hause wollen, die wiederum treffen auf Münchner, die in ihrer 500-Euro-Tracht zur Wiesn rausfahren. In den Zelten ist es jetzt wohl soweit, dass die nüchternen Neuankömmlinge die meist englischsprachigen Touristen verdrängen, die schon seit zehn Uhr am Wiesntisch sitzen. In der U-Bahn dagegen macht sich bei mir das erste Mal die diffuse Angst breit, angekotzt zu werden.

Es ist jetzt ungefähr so voll, wie ich mir das vorgestellt habe, man spürt das Drängen, die Vorfreude der Menschen, vielleicht auch ihre Nervosität, ob sie noch einen  freien Tisch finden werden. Und ich frage mich, was eigentlich mit mir verkehrt ist, weil ich jetzt plötzlich richtig gute Laune bekomme. Ich schaue auf die Uhr: Fast neun Stunden hat es gedauert, bis sich dieses Wiesn-U-Bahn-Gefühl eingestellt hat. Vor ungefähr einer Stunde habe ich mich noch gefragt, wie lange es wohl dauern wird, bis ich mich nach dem Sinn des Lebens frage. Jetzt geht es mir prächtig. Fremder Masskrug-Atem überall, in jeder meiner Poren.

„Hauptbahnhof, Hauptbahnhof, ihr seid's am Hauptbahnhof!“

Für die Menschen, die jetzt links und rechts in die U-Bahn schieben und alles zerdrücken, was sich nicht dünn wie ein Windhund zu machen weiß, ist der Sinn klar, zumindest der Sinn der nächsten Stunden: saufen. Ich lächle die Menschen in Tracht freundlich an, um ihnen klarzumachen, dass nicht alle sie hassen. (Von denjenigen, die meinen Blick erwidern, können mich die meisten auch noch mit beiden Augen fixieren.) Und das Beste: Mittlerweile riecht es in jedem Zug der Linie U4 eindeutig nach Alkohol. Halleluja, hat ja auch lang genug gedauert.

Die Ordner am U-Bahnsteig Hauptbahnhof fangen an, durch die Lautsprecheranlagen zu plärren, dass die Menschen sich jetzt am Hauptbahnhof befinden. Sie sprechen dabei, wie man mit ganz kleinen Kindern spricht, die etwas nicht verstehen: Sehr deutlich und sehr oft hintereinander sagen sie das Gleiche: „Ihr seid's am Hauptbahnhof.“ Außerdem sind sie trommelfellzerfetzend laut, während sie sprechen.  Ich stelle mir vor, dass die Menschen, die die Durchsagen machen, untereinander ein Spiel spielen: Wer die Boxen am meisten zum Krachen bringt und die Menschen am Gleis am meisten zusammenzucken lässt, kriegt einen Kasten Bier.

Es ist kurz vor halb sieben, als endlich jemand anfängt, eine Melodie über den gesamten U-Bahnsteig zu grölen. Es sind Löwen-Fans. Wenn man sich in dieser Stadt auf etwas verlassen kann, dann darauf, dass die ersten, die  singen, betrunkene Fans des TSV 1860 sind. „Mein Verein für alle Zeit“, singen sie und treffen dabei sogar noch fast die Töne.

Kapitel 4: Mass für Mass

21:30 Uhr, Theresienwiese

Junger Mann (fröhlich, laut): Morgen stell ich mir keinen Wecker, stell ich mir keinen Wecker, stell ich mir keinen Wecker!

Lautsprecher: Musst ja nicht!  

Jetzt offenbart sich in der U-Bahn am deutlichsten der wesentliche Unterschied zwischen den Oktoberfest-Hinfahrern und den Rückfahrern. Bei der Hinfahrt starren die meisten noch verbissen auf ihr Handy oder telefonieren („Wo seid ihr?“, „Ich komm jetzt!“, „Ich versteh nix!!“). Die Hinfahrer wirken hektisch, sie sind spät dran, eine Mass wollen sie schon noch unterbringen, deswegen die nervösen Telefonate, und hoffentlich schmust der Mensch, mit dem man schmusen wollte, noch nicht mit jemand anderem. Die Blicke der Zurückfahrenden dagegen sind eindeutig gekennzeichnet: Wer in Wiesn-Augen blickt, blickt in gähnende Leere oder in komplette Beseeltheit.

Die Menschen, die am Gleis immer wieder darauf hingewiesen werden, dass sie alle Türen zum Einsteigen benutzen dürfen, schieben sich konsequent alle durch die einzige U-Bahn-Tür, die es ihrer Meinung nach gibt (es ist wohl bei allen die gleiche.) Ein Mann, der eindeutig um die 60 ist, versucht eine Holländerin davon zu überzeugen, er sei 26. Ich frage einen Betrunkenen mit Hendl-Hut, wie man darauf kommt, sich so einen Hendl-Hut zu kaufen und sich den auch noch aufzusetzen. Er denkt nach. Dann antwortet er, er wisse es nicht.

Was ich jetzt dafür weiß: Man kann durchaus einen ganzen Tag mit der Wiesn-U-Bahn fahren und nicht an der Menschheit verzweifeln. Nüchtern betrachtet sind nämlich alle wirklich sehr nett zueinander: Sogar die jungen Menschen, die ihn wegen alkoholbedingten Gleichgewichtsproblemen wirklich nötig haben, bieten Älteren ihren Sitzplatz an. Junge Frauen erklären einander ihre Flechtfrisuren. Und: In der Wiesn-U-Bahn wird ganz schön viel geschmust, auch, wenn sich nicht immer alle Zungen treffen. Der berühmte Kotzhügel beispielsweise ist eindeutig der schlimmere Ort um diese Uhrzeit als die U4. (Die Berichterstattung darf dann nächstes Jahr jemand anderes übernehmen.)

Kapitel 5: Romeo und Julia

23:30 Uhr, Schwanthalerhöhe

Ein Paar in Dirndl und Lederhosen sitzt auf einer Bank auf dem Bahnsteig, sie sitzt an ihn gelehnt, er streichelt mechanisch ihren Kopf. Sie weint. Ihre Stimme setzt immer wieder schluchzend an und versiegt dann piepsend.

Sie: Warum macht sie denn sowas?

Sie: Ich mein, wenn sie das gut findet, dann soll sie halt...

Sie: Ich mein, dann soll sie doch...

Sie: Aber warum ist sie dann...

Sie: Aber ich mach mir halt Sorgen, was wenn...

Sie: Was wenn sie...

Vier U-Bahnen fahren an ihnen vorbei, bis sie endlich in eine einsteigen.

Ich sehe zum Abschluss nochmal nach dem etwa zwei Meter großen Mann in Lederhosen, der vor zwei Stunden schon im U-Bahnhof Odeonsplatz an die Wand gelehnt stand und sein Gesicht in den Händen hielt. Er steht immer noch da. Als ich morgens mit der U-Bahn ins Büro fahre, mache ich einen Umweg, um zu schauen, ob er noch an der Wand lehnt. Er ist er weg. Und die U-Bahn riecht wieder nach nichts.

Epilog: Wie es euch gefällt

Die U4 zur Wiesn-Zeit kann ein genauso trauriger Ort sein, wie das Oktoberfest selbst. Sie ist gleichzeitig: Das größte Volksfest der Welt im Untergrund. Und die Menschen auf diesem Volksfest sind halt einfach auch nur Menschen. Und weil deren Verrücktheit ansteckt und niemand nach 16 Stunden U-Bahn-Hin und Her-Gegurke von mir erwarten kann, dass ich noch normal wäre, werfe ich beim Schlafengehen meinem Freund noch gut gelaunt eine U-Bahn-Durchsage an den Kopf: „Zerscht ausschteing' lass'n, bittschön!“ Dann fährt meine Matratze unter mir auf Gleisen Richtung Arabellapark.

Was man mitnimmt von einem Tag U4 während des Oktoberfestes: Dort werden die Menschen, die sich auf dem Festgelände irgendwo zwischen Vollpfosten und ganz netten, harmlosen Deppen einordnen lassen, wieder erstaunlich normal. Es ist, als würden das Anrauschen der U-Bahn, das grelle Licht und die nüchternen Lautsprecheransagen die Leute ein Stück zurück in die Realität holen. Und als würde die Tatsache, dass es sich jemand zur Aufgabe gemacht hat, sie sicher nach Hause zu bringen (oder zumindest in die Nähe), ihnen Respekt einflößen. Und wieder ein bisschen Licht in ihr vernebeltes Gehirn pusten.

Danke dafür, U4.

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