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„Sie wollen nicht, dass jemand sieht, wie die Menschen dort sterben“

Die afghanischen Geflüchteten wollen in die EU – und werden an der Grenze zu Polen aufgehalten.
Foto: Dominika Zarzycka / imago images

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Ein verwackeltes Handyvideo sorgt dafür, dass Franciszek Sterczewski auf einmal in ganz Polen bekannt wird. Darin sieht man Sterczewski, er trägt Jeans und einen dunkelblauen Parka, in der linken Hand hält er eine dieser großen blauen Ikeatüten fest. Er flitzt über eine Wiese, verfolgt von schwer bewaffneten Soldaten, die versuchen, ihn einzufangen. Es erinnert ein bisschen an Flitzer im Fußballstadion, wenn er dann einen Haken schlägt, einer der Soldaten wegrutscht, hinfällt und die Zuschauer:innen dabei johlen. Doch einige Meter weiter stürzt auch Sterczewski, der junge Mann mit der Ikeatüte – und die Jagd hat ein Ende.

„Das Video sieht vielleicht lustig aus, doch es ist bitterer Ernst“, sagt Franciszek Sterczewski zwei Wochen später. Der 33-Jährige ist Abgeordneter der Bürgerkoalition im polnischen Parlament. Aufgenommen wurde das Video von ihm und der Ikeatasche in Usnarz Górny, an der Grenze zwischen Polen und Belarus. Die blaue Tüte ist deswegen so wichtig, weil in ihr Decken und Medikamente waren, so erzählt es der Politiker. Sie waren für eine Gruppe von 32 Afghan:innen bestimmt, die seit eineinhalb Monaten an dieser Außengrenze der EU, in einer Art Niemandsland zwischen Belarus und Polen, festsitzt. Die Afghan:innen kamen aus Belarus, nun stehen zu diesem Land hin Grenzposten, die sie nicht durchlassen. Auf der anderen Seite stehen polnische Grenzsoldat:innen, um zu verhindern, dass die Afghan:innen ihr Land betreten. Die Gruppe hat kaum genügend Wasser und Essen, berichten sie in einem Gespräch mit der Tagesschau. Nachts wird es dort gerade schon sehr kalt, die Temperaturen sinken auf bis zu zehn Grad.  Doch die Grenzsoldat:innen lassen Sterczewski nicht zu den Geflüchteten. Wie ein menschliches Schild verhindern sie jede Kontaktaufnahme und jeden Unterstützungsversuch von außen.

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Der Politiker Franciszek Sterczewski, 33, hatte Ende August versucht, Geflüchtete mit Decken und Medikamenten zu versorgen – aber Grenzsoldat:innen hinderten ihn daran.

Foto: Astrid Benölken, Tobias Zuttmann

Seit einigen Wochen versuchen immer mehr Menschen aus Ländern wie Afghanistan, wo nach dem internationelen Truppenabzug die Taliban die Kontrolle übernommen haben, aus Irak oder Somalia von Belarus aus in die Europäische Union zu fliehen – nicht nur in Usnarz Górny, nicht nur in Polen. Auch im Nachbarland Litauen ist die Fluchtbewegung spürbar, dort wurde im Vergleich zum Vorjahr von 81 Prozent mehr Geflüchteten berichtet. Angeblich soll Belarus die Fluchtbewegung unterstützen. Es gibt zumindest Gerüchte, Menschen würden direkt an die Grenzen zu Polen und Belarus gebracht werden. Auf jeden Fall aber ermöglicht Belarus den Flüchtenden eine vereinfachte Einreise durch eine unkomplizierte Visa-Vergabe und die Grenzposten hindern die Flüchtenden nicht daran, sich der Grenze zu nähern. Die wenigsten Geflüchteten wollen in Belarus bleiben. Ihr Ziel ist die EU, und damit erst einmal Polen. 

Ist die Aufnahmebereitschaft ein Schachzug Lukaschenkos?

Die polnische und litauische Regierung vermuten hinter der Fluchtbewegung deshalb einen Schachzug des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko. Ihn treibe nicht die Sorge für Geflüchtete aus Krisenregionen um, sondern sein eigenes politisches Überleben. Denn seitdem Lukaschenko vor mehr als einem Jahr die Wahlen manipulierte und sich selbst erneut zum Wahlsieger kürte, steht der Diktator so stark unter Druck wie noch nie in seiner 27-jährigen Regierungszeit. Massenproteste brachen aus und die internationale Staatengemeinschaft strafte ihn mit Sanktionen. Polen und Litauen taten sich als stärkste Unterstützer der Demokratiebewegung hervor. Die Geflüchteten, die nun ihr Land betreten, sind Lukaschenkos Rache, glauben sie. „Die polnische Regierung sagt, wenn wir den Geflüchteten erlauben, Polen zu betreten, unterstützen wir damit das belarussische Regime. Sie verstehen nicht, dass wir hier über Menschen reden“, sagt Katarzyna Czarnota bei einem Treffen mit jetzt. Sie ist Anwältin und war gemeinsam mit verschiedenen Kolleg:innen kürzlich selbst vor Ort. „Die Menschen in Usnarz Górny haben laut und vor den Medien um Asyl gebeten, aber das hat niemanden auch nur im Geringsten interessiert“, sagt Czarnota. Man wolle Stärke zeigen, die Einzelschicksale interessierten dabei niemanden.

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Wenige Tage vor Ausrufung des Ausnahmezustands war Anwältin Katarzyna Pierzynowska an der Grenze und versuchte, Geflüchteten mit der Antragstellung auf Asyl zu helfen.

Foto: Astrid Benölken, Tobias Zuttmann

Am 2. September verhängte die polnische Regierung den Ausnahmezustand in einem drei Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze. Es ist der erste Ausnahmezustand in Polen seit 1981. Das schränkt die Rechte der Bürger:innen hier deutlich ein. Die polnische Regierung begründete ihre Forderung nach dem Ausnahmezustand damit, dass die Art und der Umfang, mit dem Geflüchtete an die Grenze kamen, „von absichtlichen und geplanten Aktionen der belarussischen Autoritäten herrühre, die das Ziel hätten, die Situation an der Grenze zu destabilisieren. Die Geflüchteten seien „lebende Waffen“ eines „hybriden Kriegs“.

Für Katarzyna Czarnota hat der Ausnahmezustand einen anderen Grund. Denn durch die neuen Regelungen dürfen sich auch keine Medienvertreter:innen oder Mitglieder von NGOs in dem Bereich aufhalten – an der Stelle, wo die 32 Afghan:innen ausharren, aber auch an der grünen Grenze, an der Menschen im Schutz des Waldes nach Polen fliehen. „Sie wollen nicht, dass jemand sieht, wie die Menschen dort sterben“, sagt sie aufgebracht. Auch die Anwältin Katarzyna Pierzynowska war wenige Tage vor Ausrufung des Ausnahmezustands an der Grenze und versuchte, Geflüchteten mit der Antragstellung auf Asyl zu helfen.

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Anwältin Katarzyna Czarnota sagt beim Treffen mit jetzt: „Die Menschen in Usnarz Górny haben laut und vor den Medien um Asyl gebeten, aber das hat niemanden auch nur im Geringsten interessiert.“

Foto: Astrid Benölken, Tobias Zuttmann

„Aber leider war das alles nur Theorie“, sagt Pierzynowska. Zwar stellten Geflüchtete Pierzynowska und ihrer Kollegin Czarnota Vollmachten aus, sodass die Anwältinnen sie rechtlich vertreten dürfen, aber „die Grenzbeamten haben die Papiere der Geflüchteten zerstört oder haben versucht, uns auf dem Weg zu den Sammelstellen wieder loszuwerden“, so erzählt es Pierzynowska. „Das ist natürlich illegal“, erklärt Czarnota. Sie erinnert sich noch gut an eine zwölfköpfige Familie aus dem Irak, die sie mitten im dichten Wald traf. Viel Zeit zum Reden blieb nicht, die Grenzbeamt:innen drängten, es reichte gerade einmal dazu, dass sie zwölf Anwaltsvollmachten unterschrieben, dann wurden sie weggebracht. Das ist inzwischen zwei Wochen her, Czarnota hat nichts mehr von der Familie gehört. „Wir vermuten, dass die Familie wieder illegal zurück nach Belarus abgeschoben wurde, ohne Chance, Asyl zu beantragen.“

„Ein Klima der Angst vor Geflüchteten“

Polen hat die Genfer Konvention unterschrieben, Geflüchtete dürfen also in Polen Asyl beantragen, ihr Recht auf diesen Schutzstatus wird dann in einem Asylprozess überprüft. Doch in den vergangenen Wochen wurden nach Aussagen der Anwältinnen hunderte Push-Backs beobachtet. Das bedeutet: Die Grenzbeamt:innen schicken die Geflüchteten zurück in den Wald und ignorieren ihren Wunsch auf Asyl. „Die Grenzbeamt:innen kennen die Gesetze nicht. Sie hören nur auf die Befehle, die ihnen von ihren Vorgesetzten gemacht wurden. Diese Hierarchie ist ein Treiber der Gewalt“, meint Czarnota.

Während seiner Zeit an der Grenze fand der Parlamentsabgeordnete Franciszek Sterczewski nach eigener Angabe zehn Geflüchtete im Wald und schaffte es, dass sie einen Asylantrag stellen konnten und nun sicher in einem Auffanglager sind. Sterczewski sagte den Grenzposten, dass sie den Befehlen ihrer Vorgesetzten nicht Folge leisten müssen, wenn sie damit Gesetze wie das Asylrecht brechen – doch ohne Erfolg: „Es ist verrückt, aber die Wachen haben mehr Angst vor der Regierung als davor, das Gesetz zu brechen.“ Die Soldat:innen seien davon überzeugt, ihrem Land zu dienen und das Richtige zu tun, sagt auch Anwältin Czarnota. Deshalb sei es unwahrscheinlich, dass diese ihre Meinung in den nächsten Wochen ändern und den Geflüchteten doch noch helfen würden. Das könnte dramatische Folgen haben, wenn es bald noch kälter werde. „Die Regierung hat seit 2015 ein Klima der Angst vor Geflüchteten geschaffen und damit die Grundlage für die soziale Akzeptanz von Gewalt an der Grenze“, fasst Czarnota die Gesamtsituation zusammen.

Allerdings kritisieren nur wenige Politiker:innen diesen Kurs der PiS-Regierung. Franciszek Sterczewski ist eine Ausnahme. Besonders enttäuscht ist er von den Oppositionspolitiker:innen. Sie würden nur an ihre Umfrageergebnisse denken und lieber schweigen als Menschlichkeit zu zeigen, sagt er. Die Umfrageergebnisse der regierenden PiS-Partei sind nach dem harten Durchgreifen gestiegen, für Sterczewski keine Überraschung: „Das ist ein sozialer Mechanismus – ein furchtbarer. Es ist die Technik der PiS-Partei, einen Feind zu kreieren, den Leuten Angst zu machen.“

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In Poznań (Posen) spricht Politiker Sterczewski auf einer Solidaritätsveranstaltung für die Geflüchteten. Etwa 150 Menschen sind gekommen.

Foto: Astrid Benölken, Tobias Zuttmann
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Foto: Astrid Benölken, Tobias Zuttmann

Zurück in seiner Heimatstadt Poznań (Posen) spricht Sterczewski auf einer Solidaritätsveranstaltung vor dem Polnischen Theater für die Geflüchteten. Etwa 150 Menschen sind gekommen. Helfer:innen verteilen Zettel mit rot-weißen Grenzpfeilern und einem ins Polnische übersetzte Gedicht der Lyrikerin Warsan Shire, das ein Chor anstimmt: „Bo nikt nie opuszcza domu chyba/ że dom ten to paszcza rekina“, zu Deutsch: „Niemand verlässt sein Zuhause, es sei denn/Das Zuhause ist das Maul eines Haifischs.“ In bauchigen Einmachgläsern sammeln sie Spenden für Geflüchtete. Eine Frau auf der Bühne ruft „Niemand ist illegal“ ins Mikrofon, so steht es auch in bunten Buchstaben auf dem Banner, der am Balkon über der Bühne hängt. Fahrradfahrende halten an, vorbeischlendernde Fußgänger:innen schlecken Eis und beobachten das Konzert. Es ist eine Veranstaltung entstanden aus Hilfs- und Hoffnungslosigkeit. An der Grenze, sagen die Aktivist:innen auf der Bühne, können sie jetzt nichts mehr bewirken. Und doch, sagt Sterczewski, mache ihn das alles irgendwo stolz. Es gebe ihm Hoffnung auf eine Zukunft, in der man anders mit Geflüchteten umgeht: „Ich sehe eine junge Generation, die offener ist, die mutiger ist.“An diesem Abend zeigen die Menschen ihren Mut und ihre Solidarität mit Musik und Gedichten – Sterczewski zeigte sie mit seiner Ikeatüte und einem beherzten Sprint.

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