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„Die Herrschaft der Taliban akzeptieren oder sterben“

Tausende Menschen hoffen am Flughafen in Kabul auf eine Möglichkeit der Flucht.
Foto: Shekib Rahmani / AP

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Die radikal-islamischen Taliban haben nach dem Abzug der internationalen Truppen die Macht in Afghanistan wieder übernommen. Sie wollen eine Regierung bilden, viele Afghan*innen haben große Angst. Amin Sarkosh, 34, stammt selbst aus Afghanistan. Er unterstützte die deutsche Bundeswehr vier Jahre lang als Dolmetscher vor Ort. 2014 floh er mit seiner Familie nach Deutschland, er lebt heute in Erfurt. Als Vorsitzender des Vereins MOVE e. V. unterstützt er Geflüchtete bei ihrer Integration. Amin erlebte Afghanistan sowohl unter der Herrschaft der Taliban, als auch für wenige Jahre im Frieden. Er erzählt jetzt im Interview von der Angst um seine Schwester und den düsteren Aussichten für junge Menschen.  

junge menschen afghanistan portrait

Amin Sarkosh, 34, lebt seit 2014 in Deutschland. Als Teenager lebte er in einem Dorf in Afghanistan, das von den Taliban kontrolliert wurde.

Foto: privat

jetzt: Was passiert gerade in Afghanistan?

Amin: Die Lage ist schrecklich. Die Taliban wollen die Scharia im Land einführen. Das sind sehr strenge Gesetze, die sich an ihrer extremistischen religiösen Auslegung orientieren. Wenn du klaust, schneiden sie deine Hände ab. Wenn du dich nicht an ihre Regeln hältst, erschießen sie dich. Meine kleine Schwester ist dort, sie ist 21. Ich habe die ganze Zeit Kontakt mit ihr – und solche Angst um sie, ich habe die letzten zwei Nächte nicht geschlafen. 

Was macht dir Angst?

Sie wurde schon vor zwei Wochen von den Taliban bedroht, weil ich bei der Bundeswehr als Übersetzer gearbeitet habe. Meine Tätigkeit war in unserem Dorf und auch bei den Taliban bekannt. Sie sagten: „Dein Bruder hat bei der Bundeswehr gearbeitet, ihr seid ungläubige Menschen. Wir werden dich töten. Sag uns, wo dein Bruder ist.“ Sie antwortete, dass ich bereits geflohen und nicht mehr im Land sei. Daraufhin drohten sie ihr, behaupteten, sie lüge und gaben ihr einen Tag, um ihnen zu sagen, wo ich mich in Afghanistan aufhalte. Noch in derselben Nacht floh sie nach Kabul. Dort versteckt sie sich nun und hofft, dass die Taliban sie nicht finden.

Warum ist sie nicht nach Deutschland geflohen?

Ich habe mehrmals versucht, meine Schwester nach Deutschland zu holen, und Anträge für sie hier gestellt. Aber ich habe bis jetzt keine Antwort der deutschen Bundesregierung bekommen. Sie ist volljährig und gilt im Asylrecht nicht als Mitglied meiner Familie. Sie ruft mich jeden Tag an, weint. Ich kann ihr nicht helfen, dabei bin ich doch ihr großer Bruder. Sie selbst hat zwar nicht mit der deutschen Bundesregierung zusammengearbeitet, aber das ist den Taliban egal. 

„Sie sind gegen die Demokratie, sie sind gegen Frauenrechte und Bildung“

Was bedeutet die Machtübernahme der Taliban für die Zukunft anderer junger Menschen in Afghanistan, die nicht direkt bedroht sind?

Ich sehe eine schwarze Zukunft für junge Menschen in Afghanistan. Sie haben nur zwei Möglichkeiten: Die Herrschaft der Taliban akzeptieren oder sterben. Aber selbst, wer die Herrschaft der Taliban anerkennt, hat keine Zukunft. Die Taliban wollen keine Schulbildung oder Ausbildung für junge Menschen, sie wollen nur die Scharia. Sie sind gegen Demokratie, sie sind gegen Frauenrechte und Bildung. Unter der Herrschaft der Taliban dürfen Frauen ihre Wohnung nicht ohne Begleitung verlassen und müssen Burka tragen, junge Frauen dürfen nicht in die Schule gehen.

Junge Frauen werden ihre Rechte verlieren?

Sie haben ihre Rechte schon verloren. Die Schulen und Universitäten sind geschlossen. Keine Frau darf  mehr alleine einkaufen gehen oder Taxi fahren.

„Und obwohl ich ein Kind war, wollten die Taliban damals, dass ich ein Gewehr mit mir herumtrage“

Du selbst hast die Herrschaft der Taliban als junger Mensch erlebt.

Ja. Ich komme aus der Provinz Baghlan, Afghanistan. Als ich ein Kind war, war unser Dorf von den Taliban kontrolliert. In dieser Zeit durfte ich nicht in die normale Schule gehen. Ich musste zwei Jahre lang jeweils drei Monate eine Religionsschule der Taliban besuchen – doch dort lernten wir nur etwas über den Koran. Fächer wie Mathe oder Biologie gab es nicht. Und obwohl ich ein Kind war, wollten die Taliban damals, dass ich ein Gewehr mit mir herumtrage. 

Wie war das nach dem Jahr 2001, als die Taliban ihre Macht verloren?

Als die internationalen Truppen die Taliban vertrieben hatten, ging ich wieder so richtig in die Schule. Damals war ich bereits 14 Jahre alt. Dort habe ich auch Englisch gelernt und konnte deswegen später für die Bundeswehr übersetzen. Diese Zeit in der Schule haben wir sehr genossen – wir konnten an Veranstaltungen teilnehmen, zu Konzerten gehen. Frauen konnten damals ihr Haus ohne Burka verlassen. 

In den deutschen Medien wird gerade viel darüber gesprochen, dass die vergangenen 20 Jahre „umsonst“ waren. Wie siehst du das?

Ich denke nicht, dass die letzten zwanzig Jahren umsonst waren. Ich habe bei der Bundeswehr gearbeitet. In Afghanistan konnten Brücken, Schulen, Straßen aufgebaut werden. Wir haben viel erreicht. Das war eine positive Erfahrung, die Bundeswehr hat viel Geld investiert. Diese Zeit hat uns Hoffnung gegeben, dass der Krieg irgendwann endet. Wir wollten unser Land aufbauen und entwickeln. Auch mir haben diese 20 Jahre eine Zukunft gegeben. Doch nach dem Abzug der internationalen Truppen war alles verloren. 

„Sie haben Kinder, Frauen und Soldaten getötet“

Denkst du, das Regime der Taliban wird so sein wie das, das du als Kind kennengelernt hast?

Die Taliban verbreiten, dass sie offener seien als damals, dass sie sich geändert hätten. Aber die Taliban sind noch immer gleich. In den vergangenen Monaten und Wochen haben sie Straßen und Krankenhäuser zerstört. Sie haben Kinder, Frauen und Soldaten getötet. 

Was forderst du von der deutschen Bundesregierung?

Die Arbeit der deutschen Bundeswehr wäre ohne die afghanischen Ortskräfte nicht möglich gewesen. Jetzt hat Deutschland sie im Stich gelassen. Sie haben zu spät begonnen, die Menschen zu evakuieren. Ich fordere die Einrichtung einer Luftbrücke und eines sicheren Fluchtweges nach Deutschland, für all die Leute, die für die deutsche Bundeswehr gearbeitet haben. Denn jedes Mal, wenn ein deutscher Soldat in Afghanistan starb, wurde dabei auch ein afghanischer Übersetzer verletzt oder starb.

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