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„Nach der Verhaftung gab es Proteste in Moskau“

iesen vier jungen Redakteur*innen droht in Russland bis zu drei Jahre Haft. Momentan stehen sie unter Hausarrest.
Foto: DOXA

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doxa interview

iesen vier jungen Redakteur*innen droht in Russland bis zu drei Jahre Haft. Momentan stehen sie unter Hausarrest.

Foto: DOXA

Es beginnt mit einem YouTube-Video. Vor den Protesten gegen die Regierung postet das russische Studentenmagazin Doxa am 22. Januar ein dreiminütiges Video mit dem Titel: „Sie können die Jugend nicht besiegen.“ Anlass dafür sind die Demonstrationen wegen der Verhaftung des Oppositionellen Alexej Nawalny. Die vier Redakteur*innen machen im Video darauf aufmerksam, dass Drohungen einer Exmatrikulation gegen Protestteilnehmer*innen ihrer Auffassung nach illegal sind. Mehrere Universitäten unterschiedlicher Städte hatten Studierenden mit dem Ausschluss gedroht. 

Wenige Tage später erhält Doxa von der russischen Medienaufsicht eine Beschwerde mit dem Aufruf, das Video zu entfernen, weil es zur Teilnahme an ungenehmigten Veranstaltungen aufrufen würde. Die Redaktion löscht das Video. Mitte April durchsucht die Polizei die Redaktionsräume von Doxa sowie die Wohnungen der vier Studierenden. Der Vorwurf: Sie sollen mit dem Video Minderjährige dazu aufgerufen haben, an illegalen Aktivitäten teilzunehmen. Die vier Redakteur*innen aus dem Video werden vorübergehend festgenommen und stehen nun bis zum Beginn ihres Prozesses für zwei Monate unter Hausarrest. Das Internet oder Telefon dürfen sie nicht benutzen, zu Beginn lediglich enge Angehörige und ihre Anwält*innen sehen. Armen Aramyan (23), Alla Gutnikova (23), Vladimir Metelkin (26) und Natalya Tyshkevich (27) drohen jetzt bis zu drei Jahre Haft. 

Die Studentenzeitung Doxa, bei der die vier mitarbeiten, wurde 2017 an der Moskauer Higher School of Economics (HSE) gegründet. Der Name des Magazins stammt aus der antiken Philosophie und bedeutet Meinungen. 2019 wurde Doxa aus politischen Gründen als Studierenden-Organisation von der HSE ausgeschlossen, seitdem arbeiten sie unabhängig mit einem Team aus rund 30 Mitarbeiter*innen, die meisten von ihnen studieren. Das spendenfinanzierte Onlinemagazin ist eine wichtige Stimme für junge Menschen in Russland, weil es über politische Themen wie Repressionen gegen Studierende nach der Teilnahme an Nawalny-Protesten berichtet, aber auch Themen wie Abtreibungen oder LGBTQ aufgreift.

Wir haben mit Doxa-Redakteurin Maria Menshikova über die Arbeit der Journalist*innen, den Vorwurf gegen ihrer vier Kolleg*innen und ihre Vision gesprochen. Die 27-Jährige arbeitet seit 2018 für das Onlinemagazin und promoviert an der Ruhr-Universität Bochum zu sowjetischer Philosophie.

jetzt: Auf Doxa schreibt ihr kritisch über Hochschulpolitik und Entwicklungen an Universitäten. Wie seid ihr in den Fokus der russischen Behörden geraten?

Maria: Das weiß niemand so genau. Ich glaube, dass es ein Zufall war. Es hätte auch ein anderes Medium treffen können. Regierungskritische Medien haben es aktuell schwer in Russland. Wenn es dieses Video zu den Protesten und der Unterdrückung von Studierenden in Russland nicht gegeben hätte, gäbe es vielleicht noch keine Repressionen gegen unser Medium. Andererseits finden die Behörden immer einen Grund, um gegen regierungskritische Medien aktiv zu werden. Wir wissen nicht, nach welchen Kriterien Roskomnadsor, die russische Regulierungs-, Aufsichts- und Zensurbehörde, vorgeht. Überrascht haben uns die Ereignisse Mitte April nicht. Uns war allen bewusst, dass sowas passieren könnte. Für mich war es trotzdem ein Schock, als ich morgens am Tag der Durchsuchungen aufgewacht bin und zehn verpasste Anrufe von meinen Kolleg*innen aus Russland hatte.

Die russischen Behörden werfen den Betroffenen illegales Handeln vor.

Im Video gab es keine Aufrufe zu illegalen Demonstrationen. Es wurde gesagt, dass Studierende und Schüler*innen keine Angst haben sollen. Es gab mündliche und schriftliche Drohungen und Einschüchterungen von Dozierenden aber auch von Kommiliton*innen, die für das Dekanat arbeiten, gegen Studierende, die an der Demo teilnehmen wollten. Wir haben darauf aufmerksam gemacht. Immer öfter wird den Studierenden an der Uni gesagt, dass sie nicht an Demonstrationen teilnehmen sollen. Deshalb haben wir das Video gepostet. Es ist nicht in Ordnung, dass Studierende wegen politischen Ansichten unterdrückt werden. Wir fanden es ungerechtfertigt, dass wir das Video löschen mussten und haben sogar dagegen geklagt. 

Anfang dieses Jahres habt ihr zum zweiten Mal ein Projekt für Studierende gestartet, die von politischer Repression betroffen sind, weil sie zum Beispiel bei Protesten festgenommen und dann sogar von der Uni ausgeschlossen wurden. Wie helft ihr diesen Studierenden konkret? 

Wir unterstützen sie, wenn sie nach einer Teilnahme am Protest gegen die Regierung verhaftet oder exmatrikuliert wurden. Mehrere Student*innen haben uns geschrieben, dass sie verhaftet wurden. Dann berichten wir. Wir helfen aber auch finanziell, damit Betroffene die Geldstrafe nach ihrer Verhaftung bezahlen können. Massenexmatrikulationen wie in Belarus gibt es in Russland zum Glück nicht. Es gibt aber ein paar Studierende, die von der Universität ausgeschlossen wurden, weil sie an Protesten teilgenommen haben.

„Russische Gerichte sind nicht unabhängig”

Nun seid ihr selbst betroffen. Wie geht es den vier Doxa-Redakteur*innen in Hausarrest?

Da ich aktuell in Deutschland bin, kann ich nicht direkt mit ihnen kommunizieren. Ich vermisse den Austausch mit ihnen. Sie dürfen kein Internet nutzen und auch keine Post empfangen. Leute, die mit ihnen in Kontakt stehen, sagen, dass sie aber ziemlich gute Laune haben, was wichtig ist, um durchzuhalten. Am Anfang durften sie nicht raus. Mittlerweile dürfen sie zwei Stunden pro Tag, nämlich von acht bis zehn Uhr, draußen spazierengehen. Zudem müssen sie fast jeden Tag für Verhöre auf das Polizeirevier fahren. 

Am 14. Juni soll der Prozess beginnen. Was sind eure Erwartungen?

Es kann sein, dass der Prozess Mitte Juni beginnt, es kann aber auch sein, dass der zweimonatige Hausarrest verlängert wird. Genau weiß man das nicht, wegen der Maiferien sind noch anstehende Verhöre gerade ausgesetzt. Ich hoffe, dass der Fall nicht vor Gericht kommt. Russische Gerichte sind nicht unabhängig. Niemand weiß, wie das ausgehen wird. Das einzige, was wir machen können, ist laut zu sein und international auf die Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen, damit unsere Redakteur*innen freikommen.

Nach der Verhaftung eurer Redakteur*innen gab es eine Welle der Solidarität. Andere Medienschaffende, aber auch zahlreiche Wissenschaftler*innen wie Slavoj Žižek oder Judith Butler haben sich mit euch solidarisiert. 

Das bedeutet uns viel. Nach der Verhaftung gab es Proteste in Moskau, viele NGOs haben die Anklage verurteilt. Wir haben die Kampagne #WeAreDoxaToo gestartet, um auf den Fall aufmerksam zu machen. Slavoj Žižek hat sich sehr früh mit uns solidarisiert und unterstützt uns weiter. Nicht nur liberale, sondern auch vom Staat finanzierte Medien haben berichtet, nachdem er angekündigt hatte, dass er mit Aleksandr Bastrykin, dem Leiter des Untersuchungsausschusses, debattieren möchte. Das erzeugt Aufmerksamkeit und erhöht den Druck auf die Justiz.

Trotz der Widerstände macht ihr weiter. Warum?

Aufhören kam für uns nie in Frage. Die aktuelle Situation ist eine Herausforderung für unsere Arbeit, unsere Aufgabe ist es – so gut es geht – weiterzumachen. Nach dem Vorfall Mitte April haben wir in Kooperation mit einem anderen Medium namens „Projekt“ eine kritische Recherche zur Leitung von Universitäten publiziert: „Bildungszensus: Eine Studie darüber, wer die russische Jugend unterrichtet“. Dabei haben wir herausgefunden, dass ein Großteil der Leiter*innen der Universitäten mit den Behörden und der Regierungspartei „Einiges Russland“ verbunden sind. Vielleicht erklärt das die zunehmenden Repressionen gegen politisch aktive Studierende und unabhängige Lehrende. Der Staat möchte, dass unabhängige Medien nicht mehr existieren, wir machen trotzdem weiter. Obwohl man Probleme bekommen kann, wenn man mit Putins Politik nicht einverstanden ist und das äußert.

„Die Unterstützung durch unsere Leser*innen motiviert uns“

Habt ihr Angst?

Ich nicht, weil ich aktuell in Deutschland lebe, andere schon. Bislang hat noch niemand von unserer Redaktion aufgehört. Das zeigt, dass wir stark sind. Nicht super stark, aber stark genug, um weiterzumachen. Die Unterstützung durch unsere Leser*innen motiviert uns.

Was sind eure Pläne für die Zukunft?

Unser Ziel ist es, eine Zeitschrift für alle Studierenden und Dozierenden zu werden. Ich möchte, dass Doxa in jeder russischen Stadt, in der es Unis gibt, gelesen wird. Wir wollen weiter über soziale Probleme wie prekäre Wohn- und Lebenssituationen Studierender schreiben, greifen aber auch andere Themen auf. Wir wollen zu gesellschaftlichem Wandel beitragen. Über Probleme berichten, damit sich etwas verändert.

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