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„Die Menschen hassen Hartz IV – und das ist auch kein Wunder“

Michael Bohmeyer hat „Mein Grundeinkommen“ gegründet.
Foto: Christian Stollwerk / Mein Grundeinkommen

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2014 hat Michael Bohmeyer (34) „Mein Grundeinkommen“ gegründet: Der Verein verlost Grundeinkommen für ein Jahr, 1000 Euro im Monat, bedingungslos. Das Projekt ist das erste nicht-staatliche dieser Art und wird von freiwilligen Spendern finanziert. Mehr als 258 Menschen haben mittlerweile gewonnen. Gemeinsam mit der Autorin Claudia Cornelsen hat Michael jetzt eine erste Bilanz gezogen: Sie haben  24 Grundeinkommens-Gewinner getroffen und interviewt, um herauszufinden, was die Menschen mit dem Geld machen – und vor allem, was das Geld mit den Menschen macht. Die Ergebnisse haben sie in dem Buch „Was würdest du tun?“ zusammengefasst, das am 25. Januar bei Econ erscheint.

jetzt: Die erste Gewinnerin, die ihr getroffen habt, hat mit dem Geld erstmal eine Fernreise gemacht – und du warst enttäuscht. 

Michael Bohmeyer: Ja, aber dadurch hatten wir auch unser erstes Learning: dass man sehr schnell darüber urteilt, wie andere mit Geld umgehen. Viele haben das Geld erstmal für irgendwas ausgegeben und man kann das für Quatsch halten – aber für die einzelnen Menschen hatte das eine Funktion. Das war kein unreflektierter Konsum, sondern die Reise war zum Beispiel eine Flucht vor den Verhältnissen hier, an einen Sehnsuchtsort, den die Frau ohne Grundeinkommen nicht erreichen konnte. Wir haben uns später bei den Gewinnern dafür entschuldigt, dass wir ihren Konsum anfangs so verurteilt haben.

Ihr schreibt: „Grundeinkommen ist kein zusätzliches Geld, sondern ein grundsätzliches.“ Aber wenn man Geld gewinnt, ist das ja immer zusätzlich, oder? 

Das stimmt – und es ist die größte Schwachstelle unseres Experiments. Unser Modell ist stark vereinfacht. Ein echtes Grundeinkommen würde so nicht funktionieren, sondern mit irgendeiner Form von Steuer verrechnet werden, da gibt es verschiedene Modelle, zum Beispiel über die Konsum-, die Finanztransaktions- oder die Einkommenssteuer. So würde für ein bestimmtes Maß an Umverteilung innerhalb der Gesellschaft gesorgt, mit der Grundannahme, dass dabei niemand unter 1000 Euro rutschen kann. Das konnten wir so nicht testen. Aber wir haben Indizien gesammelt, dass das Geld an sich gar nicht so wichtig ist, sondern die Bedingungslosigkeit.

Wie meinst du das?

Zum einen haben viele das Geld gar nicht vollständig verwendet, sondern auf ihrem Sparkonto gelassen, weil sie damit ihr Sicherheitsempfinden steigern konnten. Zum anderen haben wir das Projekt „Sanktionsfrei“ gestartet, mit dem wir Sanktionen von Hartz-IV-Empfängern ausgleichen oder diesen Ausgleich garantieren. Sie bekommen also de facto ein „bedingungsloses Hartz IV“. Allein das hat ihr Sicherheitsempfinden so stark verändert, dass auch sie so sprechen, als hätten sie 1000 Euro mehr gehabt.

„Das Jobcenter misstraut den Menschen, daraus entsteht zurecht Wut und aus dieser Wut speist sich auch sowas wie die AfD“

Mehrere Grundeinkommens-Gewinner, die ihr getroffen habt, haben mal Hartz IV bezogen oder hatten schon mal Anspruch darauf – und die waren oft sehr wütend auf den Staat.

Ja, und das ist so schade. Unser Sozialsystem ist ja eigentlich eine gute Errungenschaft und dafür könnten die Menschen dankbar sein. Aber sie sind es nicht. Die Menschen hassen Hartz IV – und das ist auch kein Wunder! 

Warum?

Weil die Kommunikation unmöglich ist, die Art und Weise, wie verteilt wird, diese Bürokratie, diese Sprache, dass die Menschen ständig in Schuld und Rechtfertigungsdruck versetzt werden. Ich finde das auch als Steuerzahler eine Frechheit, weil ich möchte, dass den Menschen geholfen wird, aber das Geld wird nicht effizient eingesetzt. Das System ist sehr teuer und erzeugt sehr viele schlechte Gefühle. Wenn wir den Aspekt der Bedingungslosigkeit hinzufügen würden und Vertrauen statt Misstrauen, würde es fast genauso viel kosten, hätte aber eine vielfach höhere Wirkung. Das Jobcenter misstraut den Menschen, daraus entsteht zurecht Wut und aus dieser Wut speist sich auch sowas wie die AfD. Die Angst vor einem Absturz, der durch die Stigmatisierung von „Verlierern“ mit Hartz IV verstärkt wird, wird sich irgendwann explosionsartig entladen.  

Das bedingungslose Grundeinkommen als Mittel gegen den Rechtsruck – ist das nicht ein bisschen zu hoch gegriffen?

Das möchte ich nicht beurteilen, ich habe ja nur Einzelgeschichten zu bieten. Aber wir haben auch diesen Typen unter den Gewinnern, der ein „angry old white man“ ist: Er ist im aktuellen System chancenlos und Verschwörungstheorien verfallen. Aber der wurde ja so nicht geboren. Nach dem Gewinn hat er gesagt: Das Grundeinkommen gibt mir eine letzte Chance, die nutze ich und mache mich selbstständig. Ich saß ihm gegenüber und habe gesehen, wie seine Augen geleuchtet haben. Wir müssen Teilhabe schaffen, um zu befrieden, und das passiert mit einem Grundeinkommen auf eine empowernde Art und Weise. Es gibt den Menschen eine bisher unbekannte Form von echter Eigenverantwortung.

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Für ihr Buch haben Michael Bohmeyer und Claudia Cornelsen 24 Grundeinkommens-Gewinner interviewt.

Ihr schreibt, dass das bedingungslose Grundeinkommen auch für mehr Geschlechtergerechtigkeit sorgen könnte. Wie das?

Wir haben ein großes Machtgefälle zwischen Mann und Frau und diese Verhältnisse werden auch durch Geld oder fehlendes Geld zementiert. Meistens ist es zum Beispiel rechnerisch sinnvoller, wenn die Frau mit dem Kind zu Hause bleibt, weil sie weniger verdient. Das Grundeinkommen bricht das auf, denn es gibt Geld für den Mann, für die Frau und für das Kind. Dadurch entstehen neue Verhandlungsspielräume.

Hast du dafür ein Beispiel?

In drei Fällen wurden Frauen mittleren Alters durch das Grundeinkommen wirtschaftlich unabhängiger – und plötzlich war es für sie eine Option, sich scheiden zu lassen. Aber weil sie die Freiheit hatten, zu gehen, fühlte sich auch ein „Ja“ zur Beziehung viel selbstbestimmter an. Auf einmal konnten sie auf Augenhöhe mit ihrem Mann über die Beziehung verhandeln. Alle drei Ehen wurden gerettet und laufen heute besser. 

Ein populäres Gegenargument zum Grundeinkommen ist, dass dann niemand mehr unangenehme Arbeiten erledigen würde. Den Müll wegfahren oder Klos putzen zum Beispiel.

Weder in unserem noch in irgendeinem anderen Grundeinkommens-Experiment auf der Welt ist es bei einer größeren Zahl von Menschen passiert, dass sie ihre Jobs nicht mehr gemacht haben. Hinter diesem Argument steht außerdem die Annahme, dass es okay ist, dass Menschen einen bestimmten Job machen, weil sie keine andere Möglichkeit haben,  also aus einer wirtschaftlichen Not heraus. Streng genommen ist das eine Form der Zwangsarbeit. Die haben wir eigentlich abgeschafft.

„Das Grundeinkommen hat die Leute ruhiger gemacht und besser schlafen lassen“

Ein weiteres Gegenargument wäre, dass in ein solches System alle würden einwandern wollen.

Schon heute versuchen Hunderttausende Menschen, in die EU zu kommen, und Dank unserer militarisierten Außengrenze sterben jedes Jahr Zehntausende dabei. Wenn Menschen flüchten, ist es ihnen egal, ob es hier ein Grundeinkommen oder Hartz IV gibt, die sehen einfach eine Chance auf ein Leben in Frieden und weniger Armut. Bliebe noch das innereuropäische Problem –  in Italien zum Beispiel gibt es kein richtiges Sozialsystem. Trotzdem wandern nicht massenhaft Italiener nach Deutschland ein. Klar wäre das mit Grundeinkommen etwas attraktiver. Aber 1000 Euro sind ja auch kein Luxus, das Geld würde in Deutschland verkonsumiert, und ich glaube fest daran, dass die Menschen immer noch Lust hätten, hier zu arbeiten.

Dann würden viele „Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg!“ schreien.

In unserem kapitalistischen System, wo Menschen um Arbeitsplätze konkurrieren müssen um zu überleben, ist das ja auch durchaus nachvollziehbar. Aber mit einem Grundeinkommen wäre die Existenzangst dahinter nicht mehr so groß – der barbarische Existenzkampf würde aus diesem Spiel verschwinden.

Welches Ergebnis eurer Reise hat dich am meisten beeindruckt?

Alles, was mit Gesundheit und Selbstfürsorge zu tun hatte. Das Grundeinkommen hat die Leute ruhiger gemacht und besser schlafen lassen. Es hat sogar Krankheiten gestoppt. Wir haben zwei Morbus-Crohn-Fälle, und das wurde immer dann schlimmer, wenn sie Stress hatten. Als sie Grundeinkommen bekommen haben, hatten sie keine Schübe mehr. Bis heute nicht, obwohl ihr Jahr schon vorbei ist. Daran sieht man, dass es wirklich im Kern etwa verändert. Man kann ja auch fragen: Was kostet es eigentlich, wenn wir kein Grundeinkommen einführen? Jeder dritte Deutsche ist Burn-out-gefährdet. Es kostet also  Gesundheit und dadurch auch Geld.

Hat sich auch bei dir selbst etwas verändert?

Ich dachte vorher, ich hätte Grundeinkommen verstanden, weil ich seit Jahren drüber rede, aber hatte ich nicht. Jetzt verstehe ich es ein bisschen besser. Die Bedingungslosigkeit ist ein Thema, das übers Politische hinausgeht, eigentlich ist es eine philosophische Frage. Ich habe jedenfalls gelernt, dass ich noch mehr Lust auf Bedingungslosigkeit habe: Ich möchte mein Kind bedingungsloser lieben, ich möchte insgesamt noch weniger beurteilen und kontrollieren und mehr vertrauen. Denn dann werden Menschen besser, auch man selbst.

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