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„Neonazis waren in meiner Kindheit und Jugend allgegenwärtig“

Fotos: Johann Voigt

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Seit dem Mord an Daniel H. am Morgen des 26. Augusts beim Chemnitzer Stadtfest instrumentalisieren vor allem rechte und rechtsextreme Demonstranten den Vorfall unter dem Deckmantel der „Trauer“. Menschen mit offensichtlichem Migrationshintergrund und Journalisten wurden angegriffen, Hitlergrüße wurden gezeigt, die Polizei war vor allem an den ersten beiden Protest-Tagen laut eigener Aussage überfordert. Antifaschistische Gruppen und Teile der Chemnitzer Zivilbevölkerung stellten sich den Rechten in den Weg. Doch sie blieben zumeist in der Unterzahl.

Die Veranstaltung „#wirsindmehr“ sollte das ändern. Mit Kraftklub, Casper, Marteria, Trettmann, K.I.Z., Nura (SXTN), Feine Sahne Fischfilet und den Toten Hosen kamen dafür einige der wichtigsten deutschen Musiker und Bands zusammen. Sie alle wollten „diesem rassistischen Mob“ nicht unwidersprochen die Straße überlassen, wie es in einer gemeinsamen Presseerklärung heißt. Bis zum Montagnachmittag hatten mehr als 40.000 Menschen zugesagt; es kamen dann insgesamt etwa 65.000 junge Menschen aus ganz Deutschland, um ein Zeichen gegen rassistische Ausschreitungen zu setzen und um ihren Lieblingsbands zuzuhören.

„Es geht darum, andere Bilder zu senden“, sagte Marteria. Das ist gelungen: Es gab sie, die Bilder einer vollen, feiernden, friedlichen Stadt Chemnitz. Zuschauer saßen in Baumkronen, auf Dächern von Parkhäusern und Bushaltestellen. 

Diese Unterstützung hat Chemnitz nötig, denn die Stadt mit knapp 250.000 Einwohnern schrumpft: Seit 1990 hat sie rund 70.000 Einwohner verloren. Auch junge Menschen ziehen weg, unter anderem, weil die Löhne in Ostdeutschland noch immer niedriger sind als in Westdeutschland. Die rund 11.000 Studierenden der TU Chemnitz machen einen nicht unerheblichen Teil der Chemnitzer Jugend aus – und viele von ihnen werden nach Ende des Studiums die Stadt wieder verlassen. 2010 vermeldete die Welt: „Chemnitz wird in 20 Jahren die älteste Stadt Europas sein.“ Ein Beleg für diese These: Heute leben fast genauso viele 60- bis 69-Jährige wie 16- bis 29-Jährige in der Stadt. Im Bundesland Sachsen insgesamt ist die Lage nicht viel besser: Obwohl der Freistaat seit 2011 jährlich wieder etwas mehr Zu- als Abwanderung verzeichnet, ziehen immer noch viele junge Menschen weg. Das Durchschnittsalter ist seit 1990 um mehr als sieben Jahre angestiegen und lag 2016 bei 46,7 Jahren.

Trotz dieser Bilanz haben bei „#wirsindmehr“ wie geplant vor allem die jungen, weltoffenen Einheimischen und Besucher das Stadtbild von Chemnitz dominiert. Wir haben mit ihnen über die Situation und die Perspektiven in der Stadt und in Sachsen gesprochen.

Neonazis waren in meiner Kindheit und Jugend allgegenwärtig

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Florian, 32, kommt aus Chemnitz.

Foto: Johann Voigt

„Ich bin in Chemnitz aufgewachsen. Viele Freunde sind weggezogen, ich bin geblieben. Man kann sich auch hier in seiner kuscheligen Filterblase ganz gut einrichten. Gerade im Umfeld vom Club Atomino und anderen Nachtclubs gibt es eine kleine feine Szene, die ich nicht missen möchte und in der ich auch mit eigenen Veranstaltungen aktiv bin. Außerdem sind meine Freundin und meine Familie auch noch hier.

Neonazis waren in meiner Kindheit und Jugend allgegenwärtig. Ich bin so eng damit aufgewachsen, dass ich in meiner Jugend gar nicht kapiert habe, was die ganzen Nazis eigentlich bedeuten. Ich wusste zwar, dass die nervig und gewalttätig sind, dachte aber, das gehört eben dazu. Es gab damals die HipHopper, die Raver, die Nazis und die Goths. So war es zumindest bei mir an der Mittelschule. Irgendwann, so mit 15, habe ich natürlich gescheckt, dass es gar nicht überall so normal ist, dass es nicht überall so viele Neonazis gibt. Zu der Zeit habe ich im Alternativen Jugendzentrum Musik gemacht und wurde politisiert.

In der Szene, in der ich mich bewege, werden politische Statements nicht wie Schutzschilder vor sich getragen. Die politische Arbeit passiert subtiler. Wir machen Sachen, weil wir sie für richtig halten und nicht, um als politischer Club oder politische Veranstaltung zu gelten. Wir fahren eine tolerantere Türpolitik als die Großraumdiskos, und versuchen Menschen mit Migrationshintergrund, Geflüchtete, alle offenen Leute in das Partyleben zu integrieren. In den Großraumdiskotheken wird man mit „nicht-deutschem“ Aussehen abgewiesen.

Das Konzert ist gut, um junge Chemnitzer zu mobilisieren, die zeigen können, dass Chemnitz auch anders kann. Seit den jüngsten Ausschreitungen in der Stadt bin ich auf einer Sinnessuche. Ich frage mich: Was kann ich noch machen, um mich zu engagieren? Erst mal werde ich mit dem weitermachen, was ich ohnehin schon umsetze: Menschen integrieren.“

„Auf den Dörfern drumherum ist rechtsextremes Gedankengut normal“

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Ise, 20, aus Altenburg in Thüringen.

Foto: Johann Voigt

„Ich bin mittlerweile nach Berlin gezogen, komme ursprünglich aber aus Altenburg und bin dort aufgewachsen. Daheim und vor allem auf den Dörfern drumherum ist rechtsextremes Gedankengut normal. Leider haben sich auch viele ältere Freunde einem rechten Mob angeschlossen und die AfD hat sich in der Gegend ziemlich ausgebreitet. Die Wahlergebnisse waren erschreckend.

Wenn ich auf diese alten Freunde treffe und sie mir wirklich noch was bedeuten, dann sage ich ganz klar, dass wir uns zwar auf ein Bier treffen können, aber uns nicht über Politik unterhalten. Aber die meisten sortieren sich durch ihre Haltung eher von selbst aus meinem Freundeskreis aus.

Vor allem an den Äußerungen vieler Leute hat man gemerkt, dass es hier Rassismus gibt. Ausländer waren schlicht unerwünscht, sollen Laut der Meinung einiger Leute Deutschland wieder verlassen. ,Merkel muss weg‘ und ,Lügenpresse‘ wird geschrien. Es ist eigenartig: Die Leute denken, dass nichts mehr wahr sei außer ihrer eigenen Meinung. Das nervt.

Um mich zu engagieren, bin ich in die Junge Union eingetreten. Das passt vielleicht auf den ersten Blick gar nicht so gut zur #wirsindmehr-Veranstaltung. Ich gehe aber zur JU auch nicht unbedingt aus höchster Überzeugung. Aber ich wollte mich in Altenburg politisch engagieren und das war vor allem in der Jungen Union möglich. Die waren mir am sympathischsten. Ich fand es schön, das Gefühl zu haben, als Jugendliche mitsprechen zu können.

Ich fand es gut, dass Michael Kretschmer das Gespräch mit den Chemnitzern gesucht hat und sich diese Zeit überhaupt genommen hat. Man kann aber nicht von ihm erwarten, dass er sich 24/7 damit beschäftigt.

In Altenburg hatten wir vor kurzen eine Aktion, in der sich die CDU zusammen mit der Linksjugend gegen die AfD gestellt hat. So was sollte fortgeführt werden. Die Leute vom Sofa runterzuholen und auf die Straße zu holen ist wichtig. Einfach, damit die Menschen für etwas einstehen und zeigen, dass sie noch da sind und mit rechtsextremen Gedankengut nichts anfangen können.“

„Bei uns in der Gegend wäre so ein Konzert wie hier in Chemnitz nicht möglich“

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Florian, 22, aus Vorarlberg in Österreich.

Foto: Johann Voigt

„Den Entschluss, von Österreich nach Chemnitz zu kommen, habe ich spontan am Sonntagnachmittag gefasst. Aus zwei Gründen: Ich gehe gern und viel auf Konzerte und ich bin links eingestellt. Ich finde die Idee gut, dass so viele Bands kommen und ein Konzert spielen. Da fahre ich gerne mal weiter. Vor allem auch, um Meine Meinung zu sagen.

Ich beobachte die deutsche Politik schon. Bei uns ist die FPÖ mit in der Regierung und stellt den Vizekanzler. Die Grundhaltung bei uns ist, glaube ich, ein bisschen rechter als in Deutschland.

Ich versuche bei uns in der Gegend dagegen im kleinen anzuarbeiten, verteile viele Sticker gegen Rassismus oder Sexismus und versuche meine Meinung zu sagen.

Es gibt bei uns trotzdem wenige Möglichkeiten für junge Menschen sich zu engagieren. Im Bundesland Vorarlberg, aus dem ich komme, ist es bergig und schön. Es gibt viele Dörfer. Dort ist natürlich wenig los, die Gesinnung ist eher nicht links. Es gibt ein paar Bars, in denen wir uns treffen, aber viel mehr haben wir nicht.

In der Sprache ist Rassismus in Österreich durchaus verankert. Sachen wie „Scheiß Ausländer“ sind oft zu hören. Bei uns in der Gegend wäre so ein Konzert wie hier in Chemnitz nicht möglich. Es gibt zum einen nicht das Extrem, dass so viele Nazis auf einem Haufen marschieren und den Hitlergruß machen. Gleichzeitig gibt es aber auch kaum linke Subkultur.“

„Ich wollte zeigen, wo ich stehe“

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Sara, 25, aus Leipzig.

Foto: Johann Voigt

„Ich studiere in Leipzig und habe Freunde in Chemnitz, bei denen ich übernachten kann. Darum war es selbstverständlich, dass ich nach den Ausschreitungen der letzten Tage hierherkomme, um ein Zeichen zu setzen. Ich habe das Gefühl, dass in Deutschland immer mehr Rechtsextreme auf die Straße gehen und wahrgenommen werden. Dagegen will ich was tun. Der Nachteil eines Konzerts in diesem Protest-Zusammenhang ist natürlich, dass viele Leute nur wegen der bekannten Künstler kommen.

Trotzdem finde ich es gut, dass Musiker ihren Ruhm nutzen, um Leute zu ermuntern, sich zu positionieren. Ich würde auch nicht sagen, dass mir das von Künstlerseite in den letzten Jahren gefehlt hätte. Es äußert sich zum Glück permanent jemand. Besonders fand ich aber, wie schnell das #wirsindmehr-Konzert geplant wurde: innerhalb einer Woche. Ich bin nicht superpolitisch aktiv, aber wollte die Veranstaltung dazu nutzen, um zu zeigen, wo ich stehe.

Aufgewachsen bin ich eigentlich in einer Kleinstadt in Brandenburg, war wegen des Studiums zwischendurch in Rostock und lebe jetzt seit zwei Jahren in Leipzig. In meiner Kindheit habe ich wenig von Rechtsextremen mitbekommen. In Rostock sind mir die schon aufgefallen und gerade in Mecklenburg-Vorpommern ist die AfD sehr stark. Das merkt man. Ich hatte trotzdem das Gefühl, dass in Rostock viel für Geflüchtete getan wurde und sich viele Menschen eingesetzt haben.“

„Ich finde, dass die Chemnitzer Bevölkerung im Moment verallgemeinert dargestellt wird“

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Laura, 18, aus Chemnitz.

Foto: Johann Voigt

„Ich komme aus Chemnitz und habe letzte Woche auch schon gegen Nazis demonstriert. Was die geäußert haben, Sprüche über Adolf Hitler und so weiter, das ging einfach nicht klar. Es sind so viele Rechte gekommen und wir auf der anderen Seite waren in der Unterzahl. Deswegen finde ich es gut, dass sich jetzt so viele Leute engagieren und Menschen wegen #wirsindmehr nach Chemnitz kommen, um uns zu unterstützen.

Ich habe viele Freunde, die eher links eingestellt sind und bin selten im Stadtzentrum unterwegs. Daher bekomme ich weniger Rassismus mit. Ich bin auf dem Kaßberg zur Schule gegangen und dort sind die Leute recht offen.

Auf der anderen Seite wurde ein Freund von mir mit Migrationshintergrund in Chemnitz von Rechtsextremen verfolgt. Er fühlt sich hier sehr unwohl, auch wegen der Demos in der letzten Woche und will eigentlich nicht mehr in der Stadt leben.

Ich finde, dass die gesamte Chemnitzer Bevölkerung im Moment etwas verallgemeinert dargestellt wird. Das finde ich blöd. Es gibt viele Organisationen, die sich hier gegen Rassismus engagieren, viele Menschen, die nicht denken wie die Nazis. Ich habe auch das Gefühl, dass viele Nazis von Außerhalb gekommen sind in den letzten Tagen. Die haben ja krasse Netzwerke. Ich finde es trotzdem schwach von vielen Chemnitzern, sich diesen Leuten dann anzuschließen und mitzulaufen. Ich sehe es nicht ein, dass jemand guten Gewissens neben Leuten mitlaufen kann, die Hitlergrüße zeigen. Davon sollte man sich sofort distanzieren.

Bestimmt kommen viele Leute wegen der Musik zu #wirsindmehr. Ich denke auch, dass sich einige, die gerade noch auf der anderen Seite standen, jetzt die Bands anschauen, weil sie die cool finden. Es kann sein, dass morgen viele wieder anders denken.“

Mehr zu den Protesten und Gegenprotesten in Chemnitz:

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