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"Als würde die Bundeswehr sagen, wir bestimmen jetzt, was richtig und falsch ist"

Foto: dpa

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Tausende Menschen sind gegen den Militärputsch auf die Straße gegangen. Nicht nur in der Türkei. Auch in Deutschland. Der 25-jährige Medizinstudent Seref Tuncer ist in Deutschland geboren und deutscher Staatsbürger und hat wie viele junge Leute mit türkischen Wurzeln auch demonstriert. Weil er von seinen Eltern weiß, was ein Putsch bedeutet, weil er weiß, wie groß die Angst in der Türkei war und weil er überzeugt ist: Militär, Waffen, Panzer, Jets – das bedeutet nicht Demokratie, das bedeutet Tote und Unterdrückung.

Seref Tuncer

Seref Tuncer, 25, sieht in der überparteilichen Einheit gegen den Putsch eine Chance für die Türkei.

jetzt: Wann war für dich am Freitag klar, dass du zu der Demonstration gehen wirst?

Seref Tuncer: Ich war gerade mit Freunden unterwegs, als mich mein Vater besorgt anrief: „In der Türkei findet gerade ein Militärputsch statt!“. Wir haben alle sofort versucht, Freunde und Familie in der Türkei zu erreichen und zu fragen, ob es ihnen gut geht. Ich habe viele Verwandte dort, meine Schwester ist gerade in Ankara. Sie wussten alle selbst nicht, was passiert. Wir sind dann nach Hause geeilt, um mehr Informationen zu bekommen, haben türkische Fernsehsender, Nachrichtenseiten und soziale Medien verfolgt. Auf Twitter und Facebook habe ich Aufrufe gelesen, zu demonstrieren. Hier und in der Türkei. Friedlich, aber zu demonstrieren. Meine Verwandten sind im Süden der Türkei und in Ankara auf die Straße gegangen. Ich bin mit zwei Freunden ins Auto gestiegen und zum Konsulat nach Köln gefahren.

In Istanbul und Ankara standen den Demonstranten Soldaten mit Maschinengewehren gegenüber. Warum hat es für dich Sinn gemacht, in Köln zu protestieren, quasi ohne einen Gegner?

Als meine Verwandten in Ankara auf die Straße sind, hatte ich ein mulmiges Gefühl, weil ich nicht wusste, was ihnen passiert. Das war sehr mutig von den Menschen in allen türkischen Provinzen. Wir konnten hier nur unsere Solidarität zeigen, das war das Einzige.  

Was hast du von deiner Schwester mitbekommen?

Meine Schwester hat mir später erzählt, dass sie noch nie so große Angst hatte und noch nie eine so bedrohliche Atmosphäre gespürt hat, wie in dem Moment, in dem sie im Fernsehen sah, wie die Nachrichtensprecherin mit zittriger Stimme die Mitteilung der Putschisten zur angeblichen Machtübernahme vorgelesen hat. Als die Lage noch unklar war, haben wir nicht viel kommuniziert. Wir haben unsere Whatsapp-Gruppen nicht mehr genutzt, weil wir nicht wussten, ob einer unserer Verwandten für eine Nachricht bald im Gefängnis landen könnte. Bei früheren Putschen sind Leute einfach verschwunden.

Militärputsch bedeutet Tote und politische Unterdrückung

Den letzten Putsch 1980 haben Leute in unserem Alter ja gar nicht miterlebt. Warum sind trotzdem so viele junge Menschen auf die Straße gegangen?

Ich weiß von meinen Eltern, die die Staatsstreiche 1971 und 1980 miterlebt haben, was ein Militärputsch bedeutet. Das geht vielen so. Es ist eine simple Gleichung: Militär + Waffen + Panzer + Jets + Helikopter = keine Demokratie. Das bedeutet Tote und politische Unterdrückung. In dem Moment mischen sich die Erlebnisse und die Erzählungen unserer Eltern mit dem jungen Drang, etwas zu tun gegen die Ohnmacht, die man fühlt.

Hamburg Demo Putsch

Demonstration gegen den Militärputsch vor dem türkischen Generalkonsulat in Hamburg.

Foto: dpa

Wenn man sich die Berichte anschaut wird oft von Demonstrationen gegen den Militärputsch gesprochen, oft aber auch über Demonstrationen für den Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Wie kam dir das vor?

Das war keine Demonstration für Erdoğan. Natürlich sind Anhänger seiner Partei gekommen, der AKP. Aber da waren genauso Anhänger der Oppositionsparteien CHP, MHP und HDP. Das war völlig unabhängig von der politischen Meinung der Menschen. Es ging nicht um die Regierung, sondern darum, politische Strukturen zu retten. Wir waren Studenten, Menschen mit Rollatoren, Frauen, Familien mit Kindern – ich habe selten so eine heterogene Masse gesehen.  

 

Glaubst du, diese Einheit, die dabei entstanden ist, hier und auch in der Türkei, war nur für den Moment, oder wird man sie längerfristig spüren?

Was in der Türkei passiert ist, ist historisch. Das türkische Volk hat sich zum ersten Mal einem Militärputsch widersetzt. Ein aktiver Widerstand, eine Freiheitsbewegung über alle Parteigrenzen hinweg. Was meiner Meinung nach nun die große Herausforderung in der Türkei ist: Dass man diese Solidarisierung nutzt, um der immer größer werdenden Polarisierung in der türkischen Gesellschaft entgegenzuwirken – und sie zu überwinden.

 

Das war, als würde die Bundeswehr sagen, wir bestimmen jetzt, was richtig und falsch ist

 

Glaubst du, dass diese Solidarität auch Erdoğan von Nutzen sein wird?

Ich weiß nicht, ob ich diese Frage beantworten kann. Die Lage ist viel zu komplex, als dass man jetzt schon sagen könnte, Erdoğan wird dies machen oder jenes. Selbst meine Verwandten in der Türkei können das gerade überhaupt nicht einschätzen. Deswegen finde ich auch die Debatte in Deutschland so schwierig.

 

Was genau meinst du damit?

Es gibt viel zu viele „Türkei-Experten“. Gerade die, die im Netz die lauteste Meinungsmache betreiben, kennen die Geschichte der Türkei nicht. Die kennen vielleicht die letzten zehn bis fünfzehn Jahre. Ich würde mir mehr Einfühlungsvermögen wünschen. Menschen sind gestorben, es wäre fast zu einer Militärregierung gekommen. Das Land musste gerade eine ganz scharfe Kurve nehmen, die es gerade so gekriegt hat. Ich wünsche mir eine Debattenkultur, die mehr Empathie mitbringt. Das war doch, als würde die Bundeswehr sagen: Wir glauben, das Volk ist nicht richtig vertreten, wir entmachten Merkels Regierung und bestimmen ab sofort, was richtig und was falsch ist.  

 

Hast du auch mit jemandem gesprochen, der für den Putsch war? Ich kenne niemanden und habe mit niemandem gesprochen, der ernsthaft einem Militärputsch zustimmen würde. Niemanden mit türkischer Herkunft. Aber ich habe Tweets von deutschen politischen Akteuren gelesen, nach dem Motto: „Egal ob so oder so, wir wünschen der Türkei eine freiheitlichere und demokratischere Struktur“. Als wäre der Putsch eine Alternative! Das hat mich mitgenommen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand einen Militärputsch befürworten könnte, der ein deutsches Demokratieverständnis hat.

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