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Wie der Dry January Frankreich spaltet

Dass im Januar immer mehr Menschen auf Alkohol verzichten, wird in Frankreich heiß diskutiert.
Foto: Unsplash; Bearbeitung: jetzt

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In Frankreich, Königreich aller Kontroversen und Polemiken, gibt es nur wenige Themen, die gutmütig ausdiskutiert werden. Wein gehört sicherlich nicht dazu. „Ich habe nichts dagegen, wenn Menschen da mitmachen“, sagt Émile und zieht die Augenbrauen hoch. Der 24-Jährige ist Winzer auf einem Weingut in der Nähe von Tours, einer Stadt auf halber Strecke zwischen Paris und dem Atlantik. Mit „da“ meint er den „Dry January“, also den Trend, im Januar für einen Monat keinen Alkohol zu trinken. Was in anderen Ländern öffentlich kaum diskutiert wird, ist in Frankreich Gegenstand einer emotionalen Debatte. Die Angst vor der Trockenlegung des heiligsten französischen Kulturguts, dem Wein, ist groß.

Émile ist nicht nur Winzer, er ist auch ein kleiner Star auf Tiktok. Mit mehr als 520 000 Abonnent:innen ist sein Kanal Le Vigneron, übersetzt „der Winzer“, auf der Plattform der meistgefolgte Account überhaupt im Bereich Alkohol. Auch, wenn er den Dry January nicht offen kritisiert, mitmachen würde er nicht, sagt Émile. Andere sind deutlicher: 2019 veröffentlichte ein Kollektiv aus 43 Promis in der Tageszeitung Le Figaro einen Text gegen Alkoholabstinenz. Zu den Unterzeichnern des Plädoyers zählten auch die Sternköche Cyril Lignac und Guy Savoy, wichtige Menschen in Frankreich, wo manche Gastronomen quasi Halbgötter sind und von vielen verehrt werden.  

dry january frankreich portrait

Émile ist Winzer und macht auf seinem Tiktok-Kanal erfolgreich Werbung für Wein.

Foto: Léonardo Kahn

Die Pandemie verschärft die Debatte. Der Weinhandel leidet ohnehin durch die vorübergehend geschlossenen Restaurants,  nun drohen zu Jahresbeginn weitere Flauten. Die Zahl der Französ:innen, die am alkoholfreien Januar teilnehmen, wächst dennoch jährlich. Diesen Monat verringerten Umfragen zufolge 24 Prozent der Menschen in Frankreich den eigenen Alkoholkonsum. In Deutschland sieht es ähnlich aus: 22 Prozent der Deutschen gaben an, im Januar auf Alkohol verzichten zu wollen.

Émile Coddens, dem 24-jährigen Winzer von der Loire, ist das egal. Er sei schließlich nicht umsonst Winzer geworden und plädiert für einen verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol. Er habe das Gefühl, dass die Anhänger:innen des Alkoholverzichts einen falschen Eindruck vom Umgang junger Menschen mit Alkohol hätten: „Wenn man sich heute eine Party unter 18 bis 20-Jährigen vorstellt, denkt man an laute Musik und starken Alkohol. Ich persönlich mache da andere Erfahrungen. Wenn ich von der einen Party zur nächsten streife, stelle ich fest, dass da immer mehr Wein und fancy Cocktails getrunken werden.“ Diese Erfahrungen könnten allerdings auch damit zusammenhängen, dass Émile nicht mehr Anfang 20 ist, denn seine Aussage wird von den Zahlen des französischen Gesundheitsministerium widerlegt. Jugendliche greifen einer Studie zufolge viel häufiger zu hochprozentigem Alkohol als zu Wein. Der junge Winzer könnte allerdings damit Recht haben, dass seine Generation bewusster konsumiert. „Sie achten darauf, wo ihr Wein hergestellt wird und wie ihr Wein hergestellt wird“, erklärt Émile. „Hätten sie kein Interesse an Wein, wäre mein Kanal niemals so erfolgreich.“

Im „Dry January“ sollen Menschen selbst prüfen, ob ihr Verhältnis zum Alkohol problematisch ist 

Émiles Großvater Michel war Winzer, seine Eltern nicht. Der 24-Jährige schafft es, den Kosmos der französischen Weine auch absolut ahnungslosen Weinfans nahe zu bringen. Doch das ist nicht der einzige Grund für Émiles Erfolg auf Tiktok. Sein Kanal verkörpert eine gewisse Hoffnung: die des jungen Landwirts. „In Frankreich stellt man sich Winzer mit einer roten Kartoffelnase und einer großen Wampe vor. Ich sehe natürlich etwas anders aus“, sagt Émile augenklimpernd. Das stimmt: Er hat blonde Locken, grüne Augen, tiefe Wangenknochen. Frankreich ist ein agrar-geprägtes Land, in dem die Hälfte aller Landwirt:innen in diesem Jahrzehnt in Rente gehen. Junge Winzer:innen wie Émile sind Teil eines für Frankreich wichtigen Wandels, und das wissen auch junge Französ:innen zu schätzen.  

Doch auch, wenn Émile auf seinem Kanal Werbung für Wein und damit auch Alkohol macht, betont er, dass das Thema Alkoholmissbrauch unter den meisten Winzer:innen ein Tabu ist.  Dabei sei Alkoholmissbrauch bei jungen Menschen ein ernstzunehmendes Problem, erklärt Laurence Cottet, Gründerin und Vorsitzende der Bürgerinitiative „Janvier sobre“ (zu Deutsch: Januar ohne Alkohol). „Es kommen immer mehr junge Frauen zu mir, die tief in der Sucht stecken. Versuch mal, einer 25-Jährigen zu erklären, dass sie ihr ganzes Leben kein Tropfen Alkohol mehr trinken wird. Es ist so schwierig, so jung die Hoffnung zu bewahren“, erzählt Cottet, die selbst Alkoholikerin war und mittlerweile trocken ist.

Sie plädiert dafür, im Januar pro Woche zehn Alkoholeinheiten nicht zu überschreiten, wobei eine Einheit zum Beispiel 100 Milliliter Wein oder 250 Milliliter Bier entspricht. Durch diese Kontrolle könne jede:r jährlich sein Verhältnis zum Alkohol überprüfen und frühzeitig eine Abhängigkeit erkennen. „Ich will den 90 Prozent der Französ:innen, die mit ihrem Konsum kein Problem haben, nicht auf den Schlips treten. Mir geht es nur darum, dass man jährlich kurz überprüft, ob man seinen eigenen Durst im Griff hat“, erklärt Laurence Cottet.

Heute hat jede:r zehnte Mensch in Frankreich ein Alkoholproblem – eine Krankheit, die jährlich mehr als 40 000 Todesopfer fordert. In Deutschland sieht die Bilanz ähnlich aus: Dort sterben jährlich 74 000 Menschen in Folge übermäßigen Alkohol- oder Tabakkonsums. Auch Émiles Vater sei Alkoholiker gewesen, erzählt er. Deswegen kenne er die Gefahren des Alkoholkonsums sehr gut. Dennoch liebt er seinen Job als Winzer. Und geht direkt nach dem Interview mit seinem besten Freund Charles zum Weinhändler, um zwei Flaschen zu besorgen. Charles Freundin feiert heute Geburtstag. Einen Monat ohne Alkohol hat in der Runde niemand geplant.

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