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„Wir müssen lernen, dass die Welt anders ist, als man uns erzählt“

In Paris demonstrierten am 13. Juni mehr als 20 000 Menschen gegen Rassismus
Foto: Facebook @lobjectifdechris

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Ob Frankreich gerade einen politischen Wendepunkt erlebt? Franco Lollia wirkt skeptisch. Wie überall auf der Welt gingen auch in Frankreich Tausende Menschen nach dem Mord an George Floyd auf die Straße, um gegen Polizeigewalt und Rassismus zu demonstrieren. Allein in Paris waren es am 13. Juni mehr als 20 000. Ein historischer Rekord. Trotzdem zeigt sich Franco resigniert: „Dass erst eine Schwarze Person vor den Augen der Welt wie ein Tier getötet werden muss, bevor die Menschen endlich merken, dass rassistische Polizeigewalt real ist – das ist zynisch. Es zeigt, wie tief der Rassismus sitzt, dass Empathie für Schwarze vor diesen Bildern scheinbar nicht möglich war. Dabei existiert diese staatliche Gewalt seit Jahrzehnten. Auch in Frankreich.“

Seit 15 Jahren kämpft Franco Lollia, Sprecher der Organisation „Brigade anti-négrophobie“, dafür, Rassismus gegenüber Schwarzen in Frankreich sichtbar zu machen. Der Name der Gruppe bezieht sich auf eine Leerstelle in der französischen Sprache, die sich auch im Deutschen findet: Während wir für viele Formen des Rassismus ganz genaue Begriffe haben, wie Antisemitismus, Antiziganismus oder Islamophobie, bleibt der Rassismus gegenüber Schwarzen unspezifisch. Ein Wort dafür gibt es im Französischen nicht. „Wie soll man etwas als spezifisches Problem anerkennen und bekämpfen, wenn es dafür noch nicht mal einen akkuraten Ausdruck gibt?“, fragt der Aktivist. „Brigade Anti-négrophobie“, was sich lose als “Brigade gegen den Schwarzenhass” übersetzen sei bewusst als kämpferischer Name gewählt worden, sagt Lollia: „Wenn unser Präsident dem Coronavirus den Krieg erklärt, warum dann nicht dem Rassismus genauso entschlossen den Krieg erklären?“

Eine, die gerade besonders laut kämpft, ist Assa Traoré. Im Juli 2016 starb ihr Bruder Adama mit 24 Jahren in einem Pariser Vorort in Gewahrsam der Polizei, nachdem er bei einem Protest festgenommen worden war. Die Aussagen der damals anwesenden Polizisten widersprechen medizinischen Gutachten, welche die Familie des Toten später in Auftrag gab. Während die Beamten abstreiten, Traoré am Boden fixiert zu haben, führt das ärztliche Gutachten seinen Tod auf eine Fixierung mit Erstickungssyndromen in Kombination mit einer Vorerkrankung zurück.

Die Polizei ist nicht für den institutionellen Rassismus in Frankreich verantwortlich, sie führt ihn nur aus“

Bis heute ist ungeklärt, unter welchen Umständen Adama Traoré starb. Schon damals wandte sich seine Schwester Assa an die Medien, organisierte Kundgebungen und Demonstrationen. Doch nie kamen so viele Menschen wie im vergangenen Monat. Adama Traoré ist zu Frankreichs George Floyd geworden und seine Schwester Assa zur Galionsfigur der Proteste. „Wahrheit für Adama“ steht auf vielen Schildern und T-Shirts der Demonstrant*innen der vergangenen Wochen, Sängerin Rihanna sprach der Aktivistin öffentlich ihre Unterstützung aus und am vergangenen Sonntag erhielt Assa Traoré den renommierten Black Entertainment Television Award (BET) an der Seite von Beyoncé und Cardi B. Trotz Einschränkungen durch die Polizei, geht die sogenannte „Generation Adama“ weiter auf die Straße. Mit Erfolg: Der Würgegriff soll in der polizeilichen Ausbildung nicht mehr beigebracht und im Einsatz verboten werden, kündigte Innenminister Christophe Castaner an. Er gab außerdem bekannt, dass Polizisten bei „bestätigtem Verdacht von Rassismus“ sofort suspendiert würden.

Für Franco Lollia ist das nur ein kleiner Lichtblick. Er meint, das Problem sitze viel tiefer: „Die Gewalt der Polizei ist nur die Spitze des Eisbergs. Wenn ein Polizist einen Schwarzen töten kann, ohne dafür Konsequenzen befürchten zu müssen, dann steht dahinter ein ganzes System, in dem das Leben eines Schwarzen weniger wert ist als das eines Weißen. Die Polizei zu reformieren wird deshalb nicht ausreichen. Die Polizei ist nicht für den institutionellen Rassismus in Frankreich verantwortlich, sie führt ihn nur aus.“ Adama Traoré sei als Symbolfigur zwar wichtig für die Bewegung, doch der Fokus der Proteste auf „Gerechtigkeit für Adama“ mache es der Regierung leicht, das tiefer sitzende Problem zu ignorieren.

generation adama imtext

Trotz Einschränkungen durch die Polizei, geht die sogenannte „Generation Adama“ weiter auf die Straße.

Foto: Facebook @lobjectifdechris

In der Schule und an der Universität, da wurde Lollia die französische Geschichte als die Geschichte der Menschenrechte, der großen Denkschulen und der Zivilisation beigebracht. Wenn es um „Afrika“ ging, insbesondere Subsahara-Afrika, wurde weder geschichtlich noch politisch in einzelne Länder unterschieden. Trotz einer jahrhundertelangen Geschichte der Kolonisation und daraus entstandener wirtschaftlicher Ausbeutung, die bis heute andauert, lernte Lollia: „Afrika – das steht für Immobilität, für Stillstand und Rückschrittlichkeit.“  Aufgewachsen in Frankreich, habe er diese Erzählung als Schwarzer Junge auch auf sich selbst bezogen: „Das ist das eigentliche Drama. Das Bildungssystem hier gibt uns keine Möglichkeit, unsere Geschichte selbst zu erzählen. Die Geschichte Afrikas wird auch in Frankreich aus der Perspektive der Kolonisatoren gelehrt. Das ist eine gewaltvolle Erzählung, die Machtverhältnisse aufrechterhält. Schwarze wie weiße Franzosen haben sie verinnerlicht.“

Statistiken in Verbindung mit der Hautfarbe der Befragten sind in Frankreich verboten

Daraus ergebe sich ein Teufelskreis, sagt Lollia: „Wenn ich auf der Straße sehe, wie weiße Polizisten einen Schwarzen kontrollieren oder festnehmen denke ich, na klar, der muss ja auch was gemacht haben –  warum sollte er sonst kontrolliert werden? Sogar ich als Schwarzer Mann habe das lange gedacht.“ Dass Schwarze Menschen viel häufiger kontrolliert werden, weil all diese Vorurteile und Stereotype dazu führen, das sei ihm erst später aufgegangen. Und dann gibt es auch noch jene, die diese Stereotype bewusst befeuern, um Stimmen im rechtskonservativen Milieu zu erhalten. Die Enkelin des von der rechtsnationalen Partei Front National (heute Rassemblent National) ausgeschlossenen Jean-Marie Le Pen, Marion Marechal, hetzte in einem Video gegen die Bewegung, sie werde sich nicht „für den Tod eines Kriminellen“ entschuldigen. Das Video wurde mehr als vier Millionen Mal geklickt, in den Kommentaren darunter Zuspruch.  

Statistiken in Verbindung mit der Hautfarbe der Befragten sind in Frankreich verboten. Unter dem Sammelbegriff „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ erhebt die Regierung zwar Zahlen zu rassistischen Übergriffen , doch wird hierbei nicht weiter unterschieden, inwiefern direkte Angriffe Schwarze Personen betreffen. Zahlen zu Polizeikontrollen und Razzien in Bezug auf Hautfarbe gibt es nicht. Das macht es für all jene, die gegen strukturellen Rassismus kämpfen, umso schwerer, das Problem zu benennen. Doch es gibt eine europaweite Statistik der EU, laut der rund die Hälfte der Befragten in Frankreich angab, aufgrund der Hautfarbe benachteiligt oder angegriffen worden zu sein. Der im Juli erschienene Polizeibericht belegt 1460 Fälle von angezeigter Polizeigewalt. Die Zahl der davon rassistisch motivierten Taten ist unbekannt.

„Wenn wir das System deprogrammieren wollen, brauchen wir eine Bildungsrevolution“  

Schwarze Menschen werden in Frankreich häufiger von der Polizei kontrolliert als weiße. In Deutschland gaben 2017 laut einer repräsentativen Studie rund 14 Prozent der Schwarzen Menschen an, Opfer von „racial profiling“ geworden zu sein. Die Wahrscheinlichkeit, Opfer von Polizeigewalt zu werden, ist damit achtmal so hoch wie bei weißen Franzosen. Das Bewusstsein hierfür wächst.  

Als Zyed Benna, 17, und Bouna Traoré, 15, 2005 vor einer Polizeikontrolle Zuflucht in einem Stromkasten suchten und dabei verbrannten, erlebte Frankreich massive Unruhen in den Vororten der Großstädte. Doch erst nach dem Tod Adama Traorés wurde in den Medien erstmals klar benannt, dass es weiße Polizisten waren, in deren Gewahrsam ein Schwarzer Mann starb. Frankreich sei den USA weit hinterher, was die Benennung von Rassismus angeht, schlussfolgert Lollia daraus.

Lollia vergleicht das Problem mit einem alten Computer: „Wenn wir merken, da läuft etwas nicht mehr, dann reicht es nicht, einzelne Teile auszutauschen. Auch ein Update, also eine Reform, wird nicht reichen. Wir brauchen ein komplett neues Betriebssystem.“  Was die „Generation Adama“ fordert, ein Ende des institutionellen Rassismus, sei mit Reformen der Polizei nicht erledigt. „Wir müssen lernen, dass die Welt anders ist, als man uns erzählt. Dazu müssen wir neue Denkmuster lernen und alte verlernen. Wenn wir das System deprogrammieren wollen, brauchen wir eine Bildungsrevolution.“

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