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Kann ziviler Ungehorsam die Welt retten?

Zu Extinction Rebellion gehören auch viele junge Menschen. Hier demonstrieren sie mit Insektenfiguren auf der Waterloo Bridge.
Foto: AFP / Daniel Leal-Olivas

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„Manchmal wäre ich gerne noch 15“, sagt Isla Sandford. Dann hätte sie jetzt neben den Protesten nicht noch mit ihren GCSE, den Prüfungen für ihren Schulabschluss, zu kämpfen. Ihre Geschichtsklausur steht in einem Monat an; trotzdem ist auch sie an diesem Freitag im März auf der Straße, um gegen die Klimakrise zu demonstrieren. So ist es eben, die wirklich wichtigen Dinge im Leben kommen immer zur falschen Zeit. Und der Klimawandel, da ist sie sich sicher, ist so ziemlich das Wichtigste, was es gibt.  

Isla ist eines der jüngsten Mitglieder von Extinction Rebellion, einer selbst noch jungen politischen Bewegung. Sie sorgt in Großbritannien seit vergangenem Herbst mit spektakulären Aktionen zivilen Ungehorsams für Aufsehen: Die Aktivisten blockieren Straßen und Brücken, ketten sich an Regierungsgebäude. Anfang April zogen sich zwölf von ihnen während einer der unzähligen Brexitdebatten im britischen Unterhaus bis auf die Unterhose aus. Zwei von ihnen trugen dabei Elefantenmasken, um die Politiker auf den „Elefanten im Raum“ hinzuweisen: „Es ist nicht der Brexit, es ist das Klima“, riefen sie. Und: „Die Politiker verschwenden unsere Zeit.“

Extinction Rebellion lässt sich als „Rebellion gegen das Aussterben“ übersetzen und genauso wollen die Gründer es auch verstanden wissen: Nicht als Klimaprotest, sondern als politische Bewegung, die an den Grundfesten unseres Zusammenlebens rüttelt.

Roger Hallam, einer der Gründer, ist wie die meisten Mitglieder der Bewegung überzeugt davon, dass die Menschheit kurz vor dem Aussterben steht – wenn alles so weitergeht wie bisher. „Es braucht eine Weile, das emotional zu verdauen“, sagt er. „Aber wenn sie das geschafft haben, heißt die Frage: Was nun?“ Geht es nach Hallam, ist die Antwort klar. Es braucht eine grundlegende Neuordnung unseres Zusammenlebens: Eine andere Politik, eine andere Art des Wirtschaftens. „Maßnahmen, die denen in einem Kriegszustand nicht unähnlich sind.“

Gegründet wurde Extinction Rebellion, kurz XR, im Oktober 2018 von einer Gruppe von Aktivisten rund um Hallam und die Biologin Gail Bradbrook. Erste Unterstützer gewannen sie durch einen Vortrag, den die Bewegung nun landab, landauf hält und den man sich auf Youtube anschauen kann: „Auf dem Weg zum Massensterben“. Bradbrooks Hauptargument: Die meisten Menschen haben bis heute keine realistische Vorstellung davon, wie bedrohlich die Klimakrise wirklich ist.

Aktivisten in Trauerkleidung gossen literweise falsches Blut vor das Haus der Premierministerin

Das Horrorszenario, das Bradbrook in ihrem Vortrag skizziert: Es wird immer unwahrscheinlicher, das Ziel des Pariser Klimaabkommens einhalten zu können – eine  Erderwärmung um maximal zwei Grad Celsius. Wahrscheinlicher ist, dass die Temperaturen noch in unserer Lebenszeit um bis zu fünf Grad steigen. Schon bei drei Grad wären die Folgen furchtbar: Dem Regenwald droht der Hitzekollaps, massive Ernteausfälle und Überflutungen würden zur Norm. Professor Hans Joachim Schellnhuber, Direktor des Potsdamer Klimafolgenforschungsinstituts, fasste das in einem Interview kürzlich so zusammen: „Wir fahren diesen Planeten gerade an die Wand ... und der Crash könnte letztlich das Ende unserer Zivilisation herbeiführen.“

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Isla Sandford.

Foto: Julia Ley

Isla, kurzes dunkelblondes Haar, Jeansjacke, Aufnäher, Ansteck-Buttons, ist durch ihren Vater zu XR gekommen. Er ist selbst ein langjähriger Klimaaktivist und betreibt in Schottland eine Schaffarm. Sie sagt, ihr war lange nicht klar, dass nicht alle so denken wie ihre Eltern. Seit Kurzem ist sie deshalb selbst aktiv, hat an einem Protest vor 10 Downing Street teilgenommen, der Residenz von Premierministerin Theresa May. Es war einer dieser Proteste, die XR Aufmerksamkeit verschaffen: Aktivisten in Trauerkleidung gossen literweise falsches Blut vor das Haus der Premierministerin – „das Blut unserer Kinder“, das der Klimawandel fordern wird.

Auf Social Media zog die Aktion Kritik auf sich, denn es waren tatsächlich viele Kinder anwesend: Zu gewaltsam, womöglich traumatisierend seien solche Aktionen für sie. Andere empfanden die Bildsprache gar als antisemitisch. Isla sagt, die Realität mache ihr mehr Angst als falsches Blut. Manchmal müsse man eben zu drastischen Mitteln greifen. Sie selbst will später keine Kinder kriegen.

Massenverhaftungen sollen Aufmerksamkeit schaffen und eine politische Krise herbeiführen

Für viele bei XR ist der Kampf gegen die Klimakrise inzwischen ein Lebenszweck geworden, nicht wenige vernachlässigen dafür Job und Partnerschaft. Im November vergangenen Jahres haben 6000 Unterstützer Teile Londons für einige Stunden lahmgelegt. Etwa 85 von ihnen wurden festgenommen. „Wir können gar nicht schnell genug verhaftet zu werden“, zitierte der Guardian Hallam. Die Strategie von XR ist klassischer ziviler Ungehorsam: Hallam und seine Mitstreiter wollen durch Massenverhaftungen möglichst viel mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen – und eine politische Krise herbeiführen. Gewalt lehnen sie dabei konsequent ab.

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Die Gruppe eroberte am Montag unter anderem den Shaftesbury Memorial-Brunnen am Piccadilly Circus.

Foto: AFP / Daniel Leal Olivas

Am Montag dieser Woche haben die Aktivisten nun eine „internationale Rebellion“ gestartet, eine Welle des Protests in mehreren Ländern. In London haben sie die Waterloo Bridge über die Themse blockiert, den belebten Oxford Circus und den Parliament Square. Aufgrund der Störungen mussten 55 Buslinien eingestellt werden, die Polizei hat bisher etwa 300 Menschen festgenommen. In Berlin wurde die Oberbaumbrücke besetzt. Das offizielle Ziel dabei: Die Regierung soll die Wahrheit über die Klimakrise anerkennen und einen „Klimanotstand“ ausrufen. Außerdem: Treibhausgase bis 2025 auf Nettonull reduzieren und alles tun, um Biodiversität zu erhalten. Und: Eine Bürgerversammlung einsetzen, die über das weitere Vorgehen in Bezug auf den Klimawandel entscheidet.

Viele kritisieren diese Ziele als zu vage, andere sehen gerade das als ihre Stärke: Dass die Aktivisten eben nicht so tun, als hätten sie schon alle Antworten. Stattdessen wollen sie die Entscheidung über das weitere Vorgehen ans Volk zurückgeben. Allerdings nicht auf konventionellen Weg:

Es gibt Teile der Bewegung, die spirituell bis esoterisch angehaucht sind

Die „Abgeordneten“ der Bürgerversammlung sollen per Los ausgesucht werden, aufgrund einer Vorauswahl aber die Gesellschaft abbilden, wie sie ist: nach Alter, Geschlecht, Herkunft, Religionszugehörigkeit. In regelmäßigen Sitzungen sollen sie von Experten informiert werden und am Ende gemeinsam Empfehlungen abgeben. Die Hoffnung: So wieder mehr Menschen für Politik zu begeistern, das Vertrauen in Institutionen zu stärken und mehr Leute einzubeziehen. In Irland, wo das Format bereits getestet wird, hat es erstaunliche Erfolge gezeigt.   

Ende Januar, großes Planungstreffen für die April-Proteste in einem Viertel im Londoner Norden: Vor einem unscheinbaren Haus stehen ein paar Männer und rauchen selbstgerollte Zigaretten. Eine junge Frau mit Dreads begrüßt jeden Neuankömmling. Das Event ist, wie die meisten Extinction Rebellion Events, für alle offen. Nur wer darüber berichten will, muss sich vorher anmelden.

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Foto: Julia Ley
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Foto: Julia Ley

Die Bewegung ist nach einer Art Franchise-Modell organisiert: Jeder, der will, darf unter dem Label XR selbst Aktionen organisieren, solange er die grundlegenden Ziele der Bewegung teilt. Und sich Feedback von jeweils zwei Personen holt. Auch deshalb konnte XR so schnell wachsen. Allein seit Oktober vergangenen Jahres haben sich weltweit mehr als 300 Ableger der Bewegung gegründet. Im Dezember erhielten die Aktivisten Unterstützung von 100 Prominenten und Wissenschaftlern, die einen offenen Brief unterzeichneten, darunter so bekannte Namen wie Noam Chomsky und Naomi Klein.

Jemand, der aus der Haft entlassen wird, sollte immer aus dem Gefängnis abgeholt werden

Der Raum ist voll mit Leuten, die nicht unbedingt nach klassischen Aktivisten aussehen: Lehrer, Schüler, Studenten, Sozialarbeiter, Ärzte, Pfleger, Professoren. Einige kennen sich, man kommt schnell ins Gespräch. Irgendwann hebt eine Frau ihre Hand, das Stimmengewirr verstummt. Ein schlanker junger Mann in neongrünen Leggings und einem gewagtem Trägertop stellt sich als Steve vor. Mit langen, bedachten Schritten schreitet er zwischen den Teilnehmern auf- und ab, es hat etwas von einem Tanz. „Seid willkommen, alle Gender“, sagt Steve. „Seid willkommen, alle Sprachen. Seid willkommen all jene unter euch, die niemanden hier kennen. Seid willkommen, unsere Vorfahren. Seid willkommen, ihr unsichtbaren Wesen.“

Unter den mehr als 100 Personen im Raum scheint sich über diese Ansprache kaum jemanden zu wundern. Es gibt Teile der Bewegung, die spirituell bis esoterisch angehaucht sind; der Rest nimmt solche Anwandlungen mit Gelassenheit hin. Was XR aber grundsätzlich ausmacht: Der Versuch, eine neue Form der Kommunikation und der Gemeinschaft herzustellen: „eine regenerative Kultur“, die anerkennt, dass diese Form des Aktivismus psychisch und körperlich zehrend sein kann.

In Workshops vermitteln Trainer deshalb Wissen darüber, wann man sich eine Auszeit nehmen sollte. Wie man gewaltfrei kommuniziert. Und wie die Aktivisten sich gegenseitig unterstützen können. Ein Beispiel: Jemand, der aus der Haft entlassen wird, sollte immer aus dem Gefängnis abgeholt werden – als Zeichen der Unterstützung.

Die Bewegung muss gewaltfrei bleiben, um möglichst viele Menschen anzusprechen

Viele sind bei dem Treffen, weil sie sich tatsächlich im Kampf um das eigene Überleben sehen. „Fight for live“, heißt das bei Extinction Rebellion. Hier glaubt keiner mehr daran, dass Pappbecher, Stoffbeutel und ein paar weniger Flugmeilen ausreichen, um die Klimakrise noch zu verhindern. Deswegen richtet sich XR mit seinen Aktionen nicht an Individuen, sondern an Regierungen. Die Aktivisten setzten dabei auch in ihrer Sprache auf eine neue Dringlichkeit: Wir stehen als Menschheit am Abgrund. In London haben sie mal ein Banner bedruckt, in etwas unfeinem Englisch, darauf stand: „We’re fucked.“

Wenn es eine Art Mastermind hinter der Bewegung gibt, dann ist das Roger Hallam, 52 Jahre alt, Biofarmer und nebenbei Doktorand am Londoner King’s College. Ein Mann, der in Interviews gerne Schimpfwörter benutzt, um sein gegenüber sofort darauf mit einem entwaffnenden Lachen wieder mit sich zu versöhnen. Seit er 15 ist, treibt ihn die Frage um, was Revolutionen erfolgreich macht. Darum geht es auch in seiner Doktorarbeit. Man könnte ihn einen Experten nennen. Oder einen Besessenen, je nachdem. Geht es nach Hallam, dann ist der Erfolg von XR auch eine Frage von Wahrscheinlichkeiten.

Sein Rezept sieht in etwa so aus: Damit eine Bewegung Erfolg hat, muss sie so viele Menschen auf die Straße bringen, dass das normale Leben zum Erliegen kommt. Hallam will sich nicht festlegen, aber die kritische Masse liegt für ihn etwa bei 10 000. Die Bewegung muss dabei gewaltfrei bleiben, um möglichst viele Menschen anzusprechen.

Geht es Hallam vor allem darum, einmal im Leben eine Revolution mitzuorganisieren?

In der Theorie entsteht so ein Dilemma: Wenn die Regierenden nicht handeln, steht der politische und wirtschaftliche Betrieb still. Unternehmen fürchten um ihre Einkünfte, der politische Druck wächst. Doch wenn die Regierung friedliche Demonstranten niederknüppeln oder in Massen verhaften lässt, läuft sie Gefahr, die eigene Legitimation zu verlieren. Irgendwann bleibt den Verantwortlichen deshalb nur noch ein Ausweg: Verhandeln. Geht es Hallam in erster Line um die Klimakrise? Oder vor allem darum, einmal im Leben eine Revolution mitzuorganisieren? „Die zwei lassen sich gar nicht trennen“, sagt er. „Ein kollektives Problem lässt sich nur im Kollektiv lösen.“

Natürlich gibt es auch kritische Stimmen zu XR, teils auch von anderen Umweltschützern: Manchen sind die Aktivisten zu radikal, anderen zu freundlich. Andere wiederum finden die Forderungen zu breit oder kritisieren, dass XR verwandten Themen wie Rassismus und sozialer Ungleichheit nicht ausreichend Beachtung schenke. Der Attraktivität der Bewegung scheint das keinen Abbruch zu tun: Letztlich werden wohl die nächsten Wochen darüber entscheiden, ob die Gruppe als ein weiterer Klimaprotest in die Geschichte eingeht. Oder ob sie zu der Rebellion wird, die sie jetzt schon im Namen trägt.

Isla Sandford zumindest wird so schnell nichts vom Demonstrieren abbringen. Ein paar Tage vor dem Beginn der Proteste im April schickt die 16-Jährige noch eine Mail: „Ich habe vor, mich demnächst verhaften zu lassen.“ Prüfungen hin oder her.

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