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„Wie sicher kann eine EU sein, wenn sie die Rechte der Schwächsten nicht achtet?“

An den EU-Außengrenzen sollen Frontex-Beamt*innen Menschenrechtsverletzungen durch nationale Grenzschützer*innen beobachtet und geduldet haben.
Foto: dpa/Christian Charisius

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Exzessive Gewalt durch Polizeibeamt*innen, Misshandlungen von Migrant*innen, Hetzjagden mit Hunden, Einsatz von Pfefferspray bis zur Bewusstlosigkeit: Diese und ähnliche Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen durch nationale Grenzschutzbeamt*innen in Griechenland, Ungarn, Bulgarien und Kroatien werden in internen Dokumenten der europäischen Grenzschutzagentur Frontex beschrieben, die die EU-Mitgliedsstaaten beim Grenzschutz unterstützt. Sie belegen, dass Geflüchtete häufig und teils mit Gewalt über die Grenze zurückgedrängt werden – ein Verstoß gegen das Völkerrecht. 

Die Beschwerden, verfasst von der Frontex-Beauftragten für Grundrechte, wurden allerdings nicht weiter verfolgt. Das ARD-Magazin Report München, der britische Guardian und Correctiv konnten sie einsehen und haben ihre Recherche in dieser Woche öffentlich gemacht. Darin werden auch Menschenrechtsverletzungen durch Frontex-Beamt*innen selbst erwähnt: So seien zum Beispiel Minderjährige ohne Begleitung abgeschoben und den Geflüchteten zu häufig Handschellen angelegt worden. 

Im Gespräch mit Report München sagte Frontex-Sprecher Krzysztof Borowski, die Vorfälle an den Grenzen hätten „potenzielle Konsequenzen“. „Am Ende können wir die Operation beenden, wenn nötig.“ Bisher sei das aber noch nicht geschehen. Frontex streitet zudem „kategorisch“ ab, dass eigene Beamt*innen an der Verletzung von Grundrechten beteiligt gewesen seien.

Erik Marquardt, 31, ist Abgeordneter der Grünen im Europäischen Parlament. Er war in den vergangenen Woche an der kroatisch-bosnischen Grenze unterwegs. Das ist nicht seine erste Reise dieser Art: Als Fotograf hat er mehrfach die Situation auf Fluchtrouten und dem zentralen Mittelmeer dokumentiert. Im Interview spricht er über verletzte Geflüchtete und über gute Erfahrungen mit Frontex-Beamt*innen.

jetzt: Du warst gerade einige Tage in Bosnien an der EU-Außengrenze unterwegs. Wo genau?

Erik Marquardt: In Vučjak, wo auf einer ehemaligen Müllkippe ein Lager errichtet worden ist. Dort leben zur Zeit 700 bis 1000 Geflüchtete, die in Kroatien Asyl beantragen wollten und von kroatischen Grenzbeamten zurückgeschickt wurden. Die kroatische Präsidentin hat diese illegalen „Push-Backs“ sogar zugegeben, hält sie aber für legal.

Wie geht es den Menschen dort?

Viele Geflüchtete haben Verletzungen. Sie sagen, dass sie von der kroatischen Grenzpolizei misshandelt worden sind. Einer hatte den rechten Fuß verbunden, ein anderer einen gebrochenen Arm, ein Elfjähriger sagte, dass er von einem Beamten getreten wurde. Menschen, die nach Kroatien kommen, werden nicht nur systematisch zurückgeschickt und bekommen kein faires Verfahren, sondern ihre Würde und körperliche Unversehrtheit werden nicht geachtet. Das ist erschütternd. Die Europäische Union kritisiert oft berechtigt die Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten. Aber wenn sie auch auf europäischem Territorium passieren, muss das Konsequenzen haben und unterbunden werden. Das passiert momentan leider nicht genug.

erik marquardt

Erik Marquardt ist Europaabgeordneter der Grünen.

Foto: privat

Woher kommen die Menschen in Vučjak?

Die größte Gruppe kommt aus Pakistan, die zweitgrößte aus Afghanistan. Ansonsten ist es gemischt, viele kommen zum Beispiel aus Syrien oder der Türkei.

„Ich habe mit Frontex-Beamt*innen gesprochen, die es als erfüllend empfanden, wenn sie Menschen aus Seenot retten konnten“

Hast du vor Ort auch mit nationalen Grenzbeamt*innen gesprochen?

Nein, aber es gab eine Recherche von TRT (öffentlich-rechtlicher Rundfunk der Türkei, Anm. d. Red.), die ziemliche Wellen geschlagen hat, weil sich darin ein kroatischer Grenzschutzbeamter anonym geäußert hat. Er sagte, man werde bestraft, wenn man bei den illegalen Push-Backs nicht mitmacht, zum Beispiel, indem man versetzt wird. Ich glaube nicht, dass sich jede*r Grenzschutzbeamt*in falsch verhält, aber es gibt Beamt*innen, die Menschenrechte missachten – nicht, weil sie böse sind, sondern weil es den politischen Willen dazu gibt.

Hattest du Kontakt zu Frontex-Beamt*innen?

Nicht an der kroatisch-bosnischen Grenze. Dort sind meines Wissens auch kaum welche im Einsatz. Aber an anderen Grenzen habe ich natürlich auch mit Frontex-Beamt*innen geredet.

Warst du überrascht über die aktuellen Berichte, dass Frontex Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Außengrenzen duldet?

Nein, denn die Situation dort treibt mich schon seit einigen Jahren um und es gab immer wieder Berichte über Menschenrechtsverletzungen. Anscheinend haben die meisten Politiker*innen aber Angst, darüber zu sprechen, oder sie nehmen es einfach hin. Natürlich ist es im Sinne der Sicherheit Europas, dass die Außengrenzen kontrolliert werden. Aber wie sicher kann eine EU sein, wenn sie die Rechte der Schwächsten nicht achtet und Asylverfahren verweigert werden? Und es würde doch auch zur Vertrauensbildung gegenüber den Behörden beitragen, wenn Gerüchten über Rechtsverletzungen nachgegangen wird und Vorfälle aufgeklärt und nicht unter den Teppich gekehrt werden.

„In den vergangenen Jahren wurde sehr viel Geld und Energie investiert, damit möglichst wenige Menschen Europa erreichen“

Du warst mehrmals als Seenotretter auf dem Mittelmeer. Welche Erfahrungen hast du dort mit den Grenzschützer*innen gemacht?

Ich habe mit Frontex-Beamt*innen gesprochen, die es als erfüllend empfanden, wenn sie Menschen aus Seenot retten konnten. Heute werden ihre Schiffe aber nicht mehr in die Gebiete geschickt, in denen viele Menschen auf der Flucht ertrinken. Das führt zu einer absurden Situation: Frontex ist ja zunächst mal nicht zur Seenotrettung auf dem Mittelmeer, sondern soll gegen Schlepper vorgehen und Drogen- und Waffenschmuggel verhindern. Auch damit keine Waffen in das Bürgerkriegsland Libyen gelangen. Aber dieser Grenzschutz wird jetzt nicht mehr richtig durchgeführt, weil die EU die Schiffe in den entsprechenden Gebieten nicht patrouillieren lässt. Dort, wo die Kriminellen sind, sind auch Menschen in Seenot und viele Regierungschef*innen wollen verhindern, sie mit europäischen Schiffen zu retten, die die Geretteten dann nach Europa bringen müssten.

In den kommenden Jahren soll Frontex ausgebaut werden: Die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will bis 2024 10 000 Grenzschutzbeamt*innen einsetzen statt der bisher 1500 und das Budget soll um 500 Prozent steigen. Du siehst das kritisch. Warum?

In den vergangenen Jahren wurde sehr viel Geld und Energie investiert, damit möglichst wenige Menschen Europa erreichen und hier Asylanträge stellen können. Das sieht man an den sinkenden Anerkennungsquoten und daran, dass viele EU-Außengrenzen mittlerweile lebensgefährlich sind und jedes Jahr tausende Menschen sterben. Einfach nur durch mehr Personal und mehr Geld wird Frontex nicht besser dagegen vorgehen können. 

Wie dann?

Es fehlt zum Beispiel ein Mandat zur Seenotrettung. Aber es mangelt auch an Transparenz, um zu überprüfen, ob an den Außengrenzen Menschenrechte geachtet werden. Es braucht bessere Beschwerdestellen, an die sich Menschen wenden können, die Fehlverhalten erfahren oder beobachtet haben, und bei denen auch Frontex-Beamt*innen selbst Bericht erstatten können. 

Gibt es solche Strukturen bisher nicht?

Es gibt verschiedene Strukturen, die dafür verantwortlich sind, aber sie müssten verstärkt werden. Wir wollten mit den Grünen im Europaparlament erreichen, dass ein Prozent des Frontex-Budgets für Menschenrechte eingesetzt wird, es werden aber wohl nur 0,2 Prozent sein. Mit ungefähr 20 Stellen für diesen Bereich auf 10 000 Beamt*innen kann man nicht viel ausrichten. Außerdem bin ich der Meinung, dass eine so große Agentur, die Abkommen mit anderen Staaten schließen kann und deren Personal Schusswaffen tragen darf, auch eine Form von parlamentarischer Kontrolle braucht. Das EU-Parlament müsste also mehr Einsichts- und Überwachungsrechte bekommen.

„Im Moment müssen sich die meisten Politiker*innen nicht genug für ihre Politik rechtfertigen“

Du warst vor deiner Zeit im EU-Parlament mehrfach als Fotograf auf Fluchtrouten und an EU-Außengrenzen unterwegs. Wieso machst du solche Reisen auch in deiner neuen Position als Abgeordneter?

Ich finde es wichtig, dass Politiker*innen nicht nur am Schreibtisch sitzen, sondern sich die Herausforderungen vor Ort anschauen. Sonst lässt man sich zu schnell von Stimmungen beeinflussen, wie man gerade am immer stärker werdenden Populismus in vielen europäischen Ländern sehen kann. Manche Debatten sind mittlerweile total von der Realität entkoppelt. Wie in Italien, wo im ersten Halbjahr 2019 3000 Geflüchtete angekommen sind. Das sind nicht viele, aber die Migration wird vom Innenminister als größtes Problem der Welt dargestellt. 

Und viele glauben ihm. Das liegt sicher auch daran, dass die Situation an den Außengrenzen für die meisten EU-Bürger*innen weit weg und abstrakt ist.

Ich wundere mich, wie viele Menschen teilnahmslos hinnehmen, was dort passiert. Ich würde mich freuen, wenn mehr von ihnen die Initiative ergreifen würden. Man kann ja auch seine*n Abgeordnete*n kontaktieren und mal fragen: Wie läuft das eigentlich dort an der Grenze? Im Moment müssen sich die meisten Politiker*innen nicht genug für ihre Politik rechtfertigen. Ich habe die große Befürchtung, dass dadurch alles, auch die Menschenrechte, der Migrationsabwehr untergeordnet werden. Schon jetzt geht es ja oft nicht mehr um Grenzschutz, sondern nur noch darum, möglichst gefährliche Grenzen zu bauen.

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