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„Früher bewunderte ich die Polizei, jetzt fürchte ich sie“

Auch einige dieser Demonstranten in Hongkong könnten sicher Erfahrungen für Peter Lams Buch beisteuern.
Foto: Getty Images/Carl Court Bearbeitung: jetzt

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Peter wirkt nervös, als wir uns in einem Café in der Münchner Maxvorstadt treffen. Der 25-Jährige ist für das Interview extra mit dem Zug aus Freiburg angereist. Dass so viele Menschen wie möglich von seinem Projekt mitbekommen, ist ihm die vierstündige Fahrt wert. Peter kommt aus Hongkong und studiert in Freiburg Wirtschaft und Politik im Master. Gemeinsam mit fünf befreundeten Hongkonger*innen, die alle noch vor Ort leben, arbeitet er an dem Buch „Hong Kong Revolution“, das die Proteste in Hongkong dokumentieren soll. Inzwischen haben sie dafür mit fast zweitausend Menschen aus Hongkong darüber gesprochen, wie sie die Proteste erleben.

Die Gruppe möchte erreichen, dass weltweit so viele Menschen wie möglich nachvollziehen können, wie schlimm sich die aktuelle politische Krise für Hongkonger*innen anfühlt. Deswegen ist auch geplant, das Buch auf Chinesisch, Englisch, Deutsch und mindestens sieben weiteren Sprachen zu veröffentlichen. „Ich bin für meinen Master nach Deutschland gezogen, weil ich ein anderes Bildungssystem kennenlernen und meinen kulturellen Horizont erweitern wollte“, sagt Peter. „In Hongkong war ich das letzte Mal vor einem Jahr, also vor Beginn der Proteste. Wie die Polizei und die Regierung seitdem mit den Bürger*innen umgehen, macht mich traurig.“ 

Ziel der Proteste in Hongkong ist es, den wachsenden Einfluss Pekings auf die Sonderverwaltungszone einzuschränken. Ausgelöst wurde die Krise durch ein Gesetz, das eine Auslieferung von Hongkonger*innen nach China ermöglichen sollte. Im Zuge der Proteste wurden bereits über Tausend Demonstrierende verhaftet. Deswegen möchte Peter auch sein Foto nicht zeigen – er hat Angst, wegen seiner politischen Äußerungen Probleme mit der Justiz zu bekommen, sobald er nach Hongkong zurückkehrt. Dass er namentlich genannt wird, ist für ihn aber kein Problem, denn Peter Lam ist nur sein englischer, nicht aber der Name, mit dem er in Hongkong gerufen wird.

„Die Leute investieren lieber in Schutzkleidung vor Angriffen der Polizei als in Essen“

Ausgangspunkt für Peters geplante Dokumentation war ein Vorfall am 21. Juli, der international durch die Medien ging. An dem Tag ging eine Gruppe maskierter und bewaffneter Männer in einer Hongkonger U-Bahn-Station auf Demonstrierende los, 45 Menschen wurden verletzt. Die Polizei schritt mehr als eine Stunde nach dem Vorfall ein. „Die Polizei vernachlässigte ihre Pflicht, den Bürger*innen zu helfen“, sagt Peter. „Das machte uns wütend. Also beschlossen wir, die Geschehnisse in Hongkong zu dokumentieren – solange wir noch die Freiheit haben, das zu tun.“

Neben den sechs Organisierenden arbeiten etwa fünfzehn Freiwillige an der Dokumentation. Sowohl auf der Straße, als auch im Internet sammeln sie Protokolle von Hongkonger*innen, die ihre persönliche Wahrnehmung der Proteste schildern. Mittlerweile haben sie Aussagen von über 1700 Menschen bekommen. Obwohl das Projekt offen für alle politischen Meinungen ist, kritisieren laut Peter mehr als neunzig Prozent der Teilnehmenden in ihren Statements die Regierung oder die Polizei. Besonders im Fokus: Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte. Unter anderem mit Tränengaskanistern und Gummigeschossen soll die Polizei auf Demonstrierende gefeuert haben, zuletzt wurde sie für ihr gewaltsames Vorgehen vom UN-Menschenrechtsbüro kritisiert.

Laut Peter geben die Demonstrierenden immer mehr Geld aus, um sich vor Polizeigewalt zu schützen. „Tommy, einer der Freiwilligen, traf bei den Protesten auf eine Gruppe von fünf Schülern, die sich in der Menge eine Schüssel Reis teilten“, erzählt er. „Mehr konnten sie sich nicht leisten, weil sie ihr Geld lieber in Schutzkleidung vor Angriffen der Polizei investierten. Alleine den Filter einer Schutzmaske austauschen zu lassen, ist teuer. Und das muss regelmäßig gemacht werden, weil der Filter eine kurze Nutzungsdauer hat. Sie sind also lieber hungrig, als der Polizei eine Angriffsfläche zu bieten – das ist traurig.“ 

„Einen neuen Job zu finden, ist nicht schwer – uns unsere Freiheit zu erkämpfen, schon“

In ihren Protokollen erzählen Hongkonger*innen, dass die politische Krise einen immer größeren Einfluss auf ihr Berufs- und Privatleben nimmt. Ein 29-Jähriger erzählt, dass seine Frau sich von ihm scheiden ließ, weil sie seine Befürwortung der Proteste nicht unterstützte. Für ihn sei das eine Erleichterung gewesen: „Ich kann endlich an den Protesten teilnehmen, ohne mir Sorgen um meine Ehe machen zu müssen. Und im Vergleich zu den Verletzungen, die manchen von der Polizei zugefügt wurden, ist meine Scheidung gar nichts.“ 

Ein anderer Hongkonger hat Peter erzählt, wie er seinen Job verlor, weil er auf Social Media die Regierung und die Polizei kritisierte. „Meine damalige Firma hatte einen chinesischen Hintergrund, also überraschte mich meine Entlassung nicht“, sagt der 25-Jährige. „Trotzdem werde ich weiter für meine Überzeugung kämpfen. Einen neuen Job zu finden, ist nicht schwer – uns unsere Freiheit zu erkämpfen, sobald wir sie einmal verloren haben, hingegen schon.“

Laut Peter nehmen mittlerweile auch immer mehr Schüler*innen an den Protesten teil. Besonders berührt habe ihn das Protokoll einer 14-Jährigen. Sie erzählt darin von dem Moment, in dem sie beschloss, an den Protesten teilzunehmen: „Zu Beginn verfolgte ich die Proteste nur im Livestream. Als ich sah, dass die Polizei Demonstrierende teilweise zum Bluten brachte, musste ich weinen. Ich beschloss, zusammen mit meinen Eltern und Freund*innen an den Protesten teilzunehmen. Früher bewunderte ich die Polizei, jetzt fürchte ich sie.“ 

Im Oktober wird Peter wieder nach Hongkong fliegen. Ob er nur ein paar Wochen oder längere Zeit dort bleiben wird, entscheidet er vor Ort. An den Protesten möchte er auf jeden Fall teilnehmen. „Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es wird, nach Hongkong zurückzukehren“, sagt Peter. „Mehr als zwanzig Jahre habe ich dort gelebt. Jetzt werde ich die Stadt nicht wiedererkennen.“ 

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