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„Hungerstreiks waren schon früher Teil von politischen Kampagnen“

Eine Gruppe von sechs jungen Aktivist:innen in Berlin hat am 30. August ihren Hungerstreik für mehr Klimaschutz begonnen.
Foto: Christian Ditsch/imago images/epd

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Seit 21 Tagen hat eine Gruppe Aktivist:innen in Berlin nichts mehr gegessen. Sie sind im Hungerstreik für eine bessere Klimapolitik. Ihre Forderung: ein öffentliches Gespräch mit den Kanzlerkandidat:innen über die Klimakrise. Doch ist Hungerstreik da ein probates Mittel? Und wieso entscheiden sich Protestierende überhaupt fürs Hungern als Protestform? Ist Hungerstreik besonders erfolgversprechend? Diese Fragen beantwortet Maximilian Buschmann, 34. Er hat an der Ludwig-Maximilians-Universität München Neuere und Neueste Geschichte, Mittelalterliche Geschichte und Psychologie studiert und zuletzt ein Projekt zur Geschichte des Hungerstreiks bearbeitet. Heute ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU München.

 jetzt: Wann hungert man aus Protest?

Maximilian Buschmann: Viele Hungerstreikende haben in der Vergangenheit diese Protestform als ihr letztes Mittel bezeichnet. Das gilt es erst einmal ernst zu nehmen. Im 19. und 20. Jahrhundert traten Menschen in Hungerstreiks, wenn sie gefangen waren oder extreme Gewalt erlebt hatten. Vor allem in Gefängnissen oder Psychiatrien kam es zur Nahrungsverweigerung. Das Nicht-Essen war außerdem eine der bedeutendsten Widerstandsformen gegen die Sklaverei. In diesen Kontexten würde ich Hungerstreiks so interpretieren: Ein Hungerstreik sollte das eigene Selbst verteidigen.

Aber das Selbst wird durch das Hungern doch noch mehr in Gefahr gebracht? Das klingt vielleicht erst einmal paradox, aber: Gerade durch die Verschärfung der zuvor schon bedrohten oder beschädigten eigenen Gesundheit, versuchten sie, nicht zuletzt durch den öffentlichen Druck, ihre Lage zu verbessern. Wesentlich dafür war, dass in modernen Gesellschaften der Staat in der Verantwortung für das Leben und die Gesundheit seiner Bevölkerung angesehen wurde.

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Maximilian Buschmann, 34, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU München.

Foto: Privat

„Afrikaner:innen verweigerten schon im 18. Jahrhundert sehr häufig die Nahrungsaufnahme, um gegen ihre Versklavung Widerstand zu leisten“

Also wurden Hungerstreiks bisher eher als individueller Protest genutzt und weniger als politischer Protest, wie wir ihn gerade bei den sechs Aktivist:innen sehen?

Ich würde erst einmal sagen: Auch das Individuelle ist immer politisch. Der Körper, die Psyche – das ist nicht unabhängig von Machtverhältnissen. Hungerstreiks waren darüber hinaus aber schon früher Teil von organisierten politischen Kampagnen. Zum Beispiel bei Feministinnen in den USA oder Großbritannien, die vor mehr als hundert Jahren für das Frauenwahlrecht protestierten. Sie wollten sich mit Hilfe von Hungerstreiks Gehör verschaffen und der patriarchalen Gewalt entgegenstellen.

Ist das das früheste Beispiel für Hungerstreik als politischen Protest? Oder seit wann wird er genutzt?

Nein, Afrikaner:innen verweigerten schon im 18. Jahrhundert sehr häufig die Nahrungsaufnahme, um gegen ihre Versklavung Widerstand zu leisten. Im deutschsprachigen und englischsprachigen Raum tauchte der Begriff „Hungerstreik“ aber erstmals im Zusammenhang mit Protesten von radikalen Gegner:innen des russischen Zarenreiches in den 1880er Jahren auf.

Sind Hungerstreiks denn erfolgversprechend? Es übt ja schon großen Druck aus, sein eigenes Leben in Gefahr zu bringen?

Ob etwas erfolgreich ist oder nicht, kommt natürlich auf den Blickwinkel an. Viele der Feministinnen verstanden ihren Hungerstreik beispielsweise als erfolgreich – denn sie sahen ihn als wesentlich dafür an, dass sie das Wahlrecht für Frauen erstreiten konnten. Manche Aktivistinnen sahen das aber auch kritisch, sie hatten Sorge, dass der Hungerstreik von ihrem eigenen Ziel ablenkte. Nicht unbegründet: Mitunter zeigte sich, dass bei einem Hungerstreik der Grund des Protests in den Hintergrund und stattdessen eher der Hungerstreik als umstrittene Protestform und die medizinethische Frage über den Erhalt der Gesundheit der Streikenden in den Vordergrund trat.

Könnte das auch den Klimaaktivist:innen passieren, die aktuell vor dem Berliner Bundestag hungern?

Ich kenne mich nicht mit diesem speziellen Protest aus, aber unser Gespräch selbst könnte schon ein Anzeichen dafür sein, dass sich die Berichterstattung im Laufe eines Hungerstreiks mehr und mehr mit der Protestform auseinandersetzt, als mit den Forderungen zur Klimapolitik, die die Aktivist:innen stellen.

„Für mediale Aufmerksamkeit braucht es nicht nur die Hungernden, nicht-essenden Menschen“

Im Grunde erlangen die Aktivist:innen durch den Hungerstreik aber doch sicher automatisch mehr Aufmerksamkeit für ihre Anliegen, als wenn sie auf andere Weise protestiert hätten.

Nein, automatisch passiert da nichts. Für mediale Aufmerksamkeit braucht es nicht nur die Hungernden, nicht-essenden Menschen. Es braucht auch Menschen, die Plakate drucken, Flyer verbreiten und Kontakte zur Presse herstellen. Zudem sind Medienorgane durchaus eigene Akteure, die auch unter Wettbewerbsdruck stehen, die schnellste und brisanteste Nachricht zu haben. Da kann sich ein Hungerstreik allein aufgrund des Wortes für eine Schlagzeile anbieten.

Im Oktober 2012 hungerten Geflüchtete für ihre Anerkennung als politische Flüchtlinge, im April 2020 hungerten Jugendliche als Teil der Protestaktion für die Aufnahme Asylsuchender aus Griechenland. Und nun hungern eben die Klimaaktivist:innen. Halten Sie einen solchen Hungerstreik denn auch noch heute für eine angemessene politische Protestform?

Da fühle ich mich als Historiker nicht in der Position, das zu beurteilen. Als Mensch finde ich, wir sollten die Welt so einrichten, dass politische Kämpfe ohne Mittel auskommen, bei dem das menschliche Leben, das Eigene aber auch das Anderer, gefährdet wird. Auf jeden Fall ist es aber kein Alleinstellungsmerkmal des Hungerstreiks, gesundheitliche Risiken in Kauf zu nehmen.

Einer der Protestierenden brach am 14. September zusammen und wurde ins Krankenhaus gebracht.* Was meinen Sie: Müsste man dort einschreiten und den Hungerstreik beenden, zum Beispiel über Zwangsernährung? Oder wiegt die freie Entscheidung zum Streiken mehr?

Auch da kann ich nur auf historische Beispiele verweisen. Tatsächlich wurde auf Hungerstreiks in Deutschland immer wieder mit Zwangsernährung reagiert, die häufig auf eine sehr gewaltvolle Weise durchgeführt wurde. Dagegen hat sich unter anderem der Weltärztebund 1975 ausgesprochen. Seitdem ist die Frage eher: Wird der grundsätzlich zu achtende freie Wille eines Individuums nach einer Zeit im Hungerstreik getrübt? Was ist mit der Willensentscheidung bei Eintritt der Bewusstlosigkeit? Das sind medizinethische Fragen, für die es keine pauschalen Antworten geben kann.

*Der Aktivist hatte nach seiner Krankenhausentlassung zunächst weitergestreikt. Am Samstag wurde er allerdings erneut ins Krankenhaus gebracht, wo er sich gegenwärtig noch befindet. Ebenfalls am Samstag erlitt eine weitere Aktivistin der Gruppe einen Zusammenbruch, sie beendete den Streik aus gesundheitlichen Gründen, so auch eine ihrer Mitstreiterinnen, die sich Mephisto nennt. Der Rest der sechsköpfigen Gruppe setzt den Hungerstreik fort.

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