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„Wir begreifen manchmal nicht, wie nah wir am Abgrund stehen"

Fotos: PR / A&E / Getty / Aftel / Koch

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Warum schließen sich Menschen immer wieder faschistischen Gruppen an? Wieso wiederholen sich in der Geschichte totalitäre Strukturen? Der Filmemacher Emanuel Rotstein hat mit „Total Control – im Bann der Seelenfänger“ eine Dokumentation über Menschen gedreht, die sich extremistischen Gruppen angeschlossen oder totalitäre Regime miterlebt haben. Der Film wird erstmals am 19. November um 21 Uhr auf dem Sender A&E ausgestrahlt.

Mark Hancock, 66, erlebte als Schüler 1967 das „Third Wave“ Experiment mit. Bei dem Experiment, das weltweit Aufsehen erregte, stellte ein Lehrer in nur fünf Tagen autoritäre Machtverhältnisse im Klassenzimmer her- und zeigte den Schülern damit, wie leicht man selbst auf diese hereinfallen kann. Als die Dynamiken immer aggressiver wurden und das Experiment sich verselbstständigte, brach der Lehrer das Projekt ab.

Oliver Riek, 36, ist ein Neonazi-Aussteiger und ehemaliges Mitglied einer Hamburger Burschenschaft, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Uns haben Oliver Riek und Mark Hancock erklärt, warum extremistische Gruppierungen vor allem für junge Menschen eine Gefahr sind und warum Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist.

 jetzt: In der Dokumentation „Total Control“, in der ihr beide auftretet, wird das Experiment „Die Welle“ besprochen, auch Netflix arbeitet gerade an einer Neuauflage des Stoffs als Serie. Warum ziehen uns autoritäre Strukturen so sehr in ihren Bann?

Oliver Riek: Faszinierend ist ja vor allem, wie sämtliche extremistische Strukturen das ganze Leben beeinflussen, wenn man sich auf sie einlässt. Die Menschen werden anderen Ideen gegenüber sehr ablehnend, es gibt dann nur noch die eine Ideologie. Und auch die Geschwindigkeit, in der sich Menschen manipulieren lassen, kann faszinierend sein: Zwei Jahre in der Burschenschaft  („Chattia Friedberg zu Hamburg“, vom Hamburger Verfassungsschutz beobachtet, Anm.d.Red.) haben genügt, um mich über fünfzehn Jahre lang zu radikalisieren. Sich von so einer Ideologie zu lösen, ist wahnsinnig schwierig.

Mark Hancock: Ich persönlich will wissen, warum Menschen sich so fühlen, dass sie sich extremistischen Strukturen anschließen wollen. Und ich denke auch, dass viele sich fragen, wie etwas so schnell gehen kann. Das Experiment damals in der Schule dauerte ja nur fünf Tage und entwickelte eine enorme Eigendynamik. Ich glaube auch, dass so etwas an jedem Ort zu jeder Zeit passieren kann. Niemand ist immun, das ist alles sehr situationsbedingt. Daher rührt glaube ich auch die Faszination. Wenn ich in den Nachrichten Berichte über totalitäre Staaten sehe, dann denke ich immer, wow, das ist wieder unser kleines Experiment aus der Schule. Nur eben in Wirklichkeit.

Mark, wann hast du angefangen, an dem Projekt deines Lehrers zu zweifeln?

Mark Hancock: Es hat ja so aufregend begonnen: Wir waren Feuer und Flamme, es hat Spaß gemacht. Wir hatten einen Namen, ein Logo, haben Mitgliedskarten gebastelt, einen Gruß, wir rannten in der Schule umher und andere fragten uns, „Was macht ihr?“, und wir sagten, „Kommt zur ‚Dritten Welle’“. Es war toll. Ron Jones, der Lehrer, war nur zehn Jahre älter als wir und ein fantastischer Mensch. Wir hatten schon Projekte mit ihm durchgeführt, also fanden wir dieses neue Experiment nicht bedrohlich. Aber mit jedem Tag wurde Jones ernster und einem Diktator ähnlicher.

Hattest du Angst?

Mark Hancock: Was nicht in den Filmen besprochen wird, und was mir damals ziemlich Angst machte: Er hat eine Geheimpolizei eingesetzt. Er hat in der Klasse morgens Prozesse abgehalten und Kinder dann zum Beispiel aus der Organisation entlassen. Manchmal hat er auch nur zufällig Namen genannt und geschaut, wie die Kinder reagieren und wie sie sich diesen anderen Kindern gegenüber verhalten. Da hat sich eine richtige Spitzelkultur gebildet, die einen fingen an, die anderen zu denunzieren. Mich hat das nach ein paar Tagen schon sehr erschreckt und verwirrt. Am Tag der letzten Versammlung, als Ron Jones das Experiment auflösen wollte, bin ich kurz nach Beginn rausgerannt. Ich habe es nicht mehr ausgehalten vor Angst.

„Jede extreme Szene bietet eine Gemeinschaft, das ist das Verführerische“

Extremismus, heißt es oft, sei „verführerisch“, vor allem für junge Leute.

Mark Hancock: Wenn man jung ist, ist man vielleicht noch nicht so oft getäuscht worden. Das macht junge Menschen für die Verführung durch extreme Strukturen wesentlich anfälliger. Und wenn niemand einem beibringt, kritisch zu denken, woher soll man das dann wissen? Das ist auch die wesentliche Botschaft, die ich bei meinen Vorträgen den jungen Menschen – und auch den älteren – mitgeben will: Kritisches Denken kann man lernen.

Oliver Riek: Jede extreme Szene bietet eine Gemeinschaft an. Und eine Gemeinschaft bedeutet wiederum soziale Sicherheit. Jeder spielt eine auf ihn zugeschnittene Rolle, das ist natürlich verführerisch. Bei jungen Leuten ist es glaube ich ganz leicht, etwas kaputt zu machen. Ich habe Jahre gebraucht, um zu merken, dass sich die Welt anders darstellt als mir das die algorhythmisierte Blase bei Facebook suggeriert hat. Aber ich würde von mir zum Beispiel nicht sagen, ich sei verführt worden. Ich war ja überzeugt davon. Ich habe da voll und ganz freiwillig mitgemacht.

Was habt ihr gedacht, als ihr die Ereignisse in Chemnitz diesen Sommer mitbekommen habt?

Oiver Riek: Ich habe bei Chemnitz nicht gedacht, „Puh, da wäre ich auch mitmarschiert, wenn das vor zehn Jahren passiert wäre“. Aber wenn ich daran denke, was in den Dreißiger Jahren in Deutschland passiert ist, da wäre ich vermutlich schon dabei gewesen. Zumindest hätte nicht viel gefehlt. Dass die Leute einen Hitlergruß zeigen und Parolen schreien, das sind Dinge, die sie machen, um zu provozieren. Viel, viel schlimmer als Chemnitz ist dieser Alltagsrassismus, ein versteckter Rassismus, der in der Gesellschaft wuchert wie Unkraut. Und nur manchmal wird der Alttagsrassismus so geballt sichtbar – eben bei einer Demonstration dieser hitlergrußzeigenden Schwachköpfe. Aber den Alltagsrassismus zu bagatellisieren – das was die AfD so kultiviert und salonfähig macht – das ist das eigentlich Gefährliche.

Demokratie muss dafür sorgen, dass niemand zurückbleibt

Mark Hancock: Ich weiß nicht genug über die Menschen in Ostdeutschland, um da viel dazu zu sagen. Aber wenn ich mir ansehe, was gerade weltweit passiert, dann geht es immer um die Stärke von Demokratie. Demokratie muss stark genug sein, um den Strömungen zu widerstehen, die sie zerstören wollen. Und auf der anderen Seite muss sie auch für die Menschen da sein, sie muss dafür sorgen, dass niemand zurückbleibt. Ich glaube, für einige Menschen ist ihre Enttäuschung in die Demokratie auch der Grund, warum sie sich von ihr abwenden. Die Menschen denken dann, „Hey, jemand anderes verspricht mir, dass er mich absichert und auf mich achtet, dann schaue ich mir das eben mal an.“ In den USA ist etwas sehr ähnliches passiert.

Wart ihr nach euren Erfahrungen wütend, weil euch gezeigt wurde, dass ihr manipulierbar seid?

Mark Hancock: Ich war nie wütend auf unseren Lehrer. Ich fand das Experiment brillant.

Oliver Riek: Nein, ich wollte es ja so. Manchmal schäme ich mich noch dafür, was ich gedacht habe, aber Wut ist da keine. Es ist Teil meiner Vergangenheit und ich habe beschlossen, das vernünftig aufzuarbeiten.

„Die Erinnerung an den Krieg verblasst – kann Europas Ordnung das überleben“? fragte die New York Times am Wochenende. Gibt es mehr rechtsradikale Strukturen, weil wir den Krieg vergessen?

Oliver Riek: Ich glaube nicht, dass es gerade mehr Rechtsradikalismus gibt, zumindest hoffe ich das. Aber was bemerkenswert ist: Wir leben in der ersten Epoche in der deutschen Geschichte, in der wir nicht an einem Krieg beteiligt sind. Und die Leute nehmen es wie selbstverständlich hin. Obwohl wir vor nicht einmal hundert Jahren Hauptakteur in den beiden schlimmsten Kriegen der Menschheitsgeschichte waren, ist Deutschland heute das viertreichste Land der Welt, gemessen am Bruttoinlandsprodukt. Da frage ich mich schon: Wo bleibt denn da die Ehrfurcht? Wie kann man denn da AfD wählen? Die AfD begibt sich übrigens auch immer wieder in eine Opfersituation, wie es extremistische Gruppierungen tun: „Wir sagen die Wahrheit, uns glaubt keiner, die Lügenpresse suggeriert uns seit Jahrzehnten schon dass alles in Ordnung sei, aber das stimmt gar nicht.“ Das finde ich erschreckend.

Sei vorsichtig, wem du folgst, denn du weißt nicht, wo sie dich hinführen werden

Mark Hancock: Wir beide, Oliver und ich, hatten Großväter im Ersten Weltkrieg. Ich glaube, wir begreifen manchmal nicht, wie nah wir am Abgrund stehen und dass Demokratie etwas ist, dass man sich jeden Tag neu erarbeiten muss. Mein persönliches Mantra seit diesem Experiment ist: Sei vorsichtig, wem du folgst, denn du weißt nicht, wo sie dich hinführen werden. Hab Angst vor charismatischen Anführern, vor aggressiven Gruppen. Oder, positiv formuliert: „Versuch ein guter Mensch, ein guter Nachbar und Freund zu sein.“ Der Psychologe Zimbardo, der das Stanford Prison Eperiment damals geleitet hat, hat noch ein anderes Projekt, das Heroic Imagination Project. Er versucht junge Menschen zu tagtäglicher Zivilcourage zu ermutigen. Er sagt nicht, „Rette die Welt“. Sondern: „Sei heute nett zu jemandem“. Das finde ich richtig und sehr beeindruckend.

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