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Niemand will zurück in ein Leben, in dem Unterdrückung normal ist

Überall auf der Welt protestieren Iraner:innen und andere Menschen gegen das iranische Regime, hier in New York.
Foto: Ed JONES / AFP

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Melissa Derafsheh hat iranische Wurzeln und lebt in Deutschland. Die Sozialwissensschaftlerin arbeitet im Bereich politische Bildung. Hier schreibt sie über die Proteste in Iran, ihren persönlichen Blick und politische Forderungen. 

Am 16. September 2022 habe ich mit verschiedenen Freund:innen in Iran telefoniert. Sie haben mir von Jinas Tod erzählt. Damals haben wir sie noch Mahsa genannt. Jetzt wissen wir es besser.

Meine Freund:innen erzählten mir von ihrer Trauer und dass sie den ganzen Tag um Jina weinten. Sie erzählten mir, wie nah sie sich Jina fühlten, ohne sie je gekannt zu haben. Weil sie genau wussten, dass es auch sie hätte treffen können, ihre Schwestern, ihre Freundinnen, ihre Tanten, ihre Mütter. Sie erzählten mir auch von ihrer Wut. Von ihrer Wut auf die islamische Regierung, die den gewaltsamen Tod möglich machte. Von ihrer Wut auf das islamische System in Iran, das schon immer auf Unterdrückung fußte und noch nie einen Funken Freiheit ermöglichte.

Ich kannte diese Wut, sie war für mich nicht neu. Genauso wenig wie das, was in den kommenden Tage geschah: Die Menschen protestierten, die Videos der Demos füllten meine Instagram-Timeline, das Internet wurde gedrosselt, wir konnten immer weniger telefonieren, es gab immer mehr Tote. Doch die Kraft der Demos war diesmal anders.

Es wird immer normaler, auf den Straßen Frauen ohne Kopftuch zu sehen

Meine Freundin erzählte mir, wie ihre Angst auf der Straße allmählich verschwand und einer großen Hoffnung Platz machte. Sie erzählte mir, wie lebendig sie sich das erste Mal in ihrem Leben in Iran fühlte. Sie erzählte mir von einer atemberaubenden Solidarität. Die Menschen ließen abends ihre Haustüren einen Spalt offen, damit die Protestierenden sich nach den Demos dort verstecken konnten. Sie erzählte mir davon, wie sich  Menschen, die sie nicht kannte, schützend neben sie stellten, als sie von den Sicherheitskräften bedroht wurde. Sie erzählte mir, wie ihr eine Kioskbesitzerin ihren Laden als Unterschlupf anbot und ihr ein Stück Stoff in die Hand drückte, um ihre Haare zu bedecken, als sie vor den Sicherheitskräften floh. Als sie all das erzählte, war sie so energiegeladen und hoffnungsvoll. Ich gab mir Mühe, meine Angst um sie zu verstecken, um sie nicht zu verunsichern. Jetzt weiß ich: Nichts hätte sie verunsichern können. Sie war fest entschlossen, alles zu geben. Alles für ihre Freiheit und Lebendigkeit.

Auch nach sechs Monaten hat sich an dem Ziel, dem Sturz der islamischen Regierung, nichts verändert. Doch die Art der Proteste hat sich gewandelt: Sie sind inzwischen Teil des Alltags und werden jeden einzelnen Tag gelebt. Es wird immer normaler, auf den Straßen Frauen ohne Kopftuch zu sehen – obwohl sie noch immer ein großes Risiko tragen. Die Freitagsproteste in Zahedan, der Hauptstadt der Provinz Sistan und Belutschistan im Südosten Irans,  halten auch nach mehr als 20 Wochen an, trotz der fortbestehenden Gewalt gegen die Demonstrierenden. Die nächtlichen Anti-Regime-Rufe aus den Fenstern und Balkonen in zahlreichen Städten Irans sind fester Bestandteil des Abends. Das Sprühen von Anti-Regime-Slogans an die Wände in den Städten ist zu einer gängigen, kraftvollen Ausdrucksform geworden, trotz fortbestehender Festnahmen. Und die Menschen streiken als Protest gegen das Regime: So haben Mitte Januar Arbeiter:innen der Erdölindustrie gestreikt, unter anderem in Ahwaz, Shiraz, Ilam und Asaluyeh. Ende Februar legten Arbeiter:innen wichtiger Industriezweige ihre Arbeit nieder: Eisenwerksarbeiter:innen in Isfahan, Landarbeiter:innen in Ahwaz, Stahlarbeiter:innen in Yazd oder Arbeiter:innen der Kraftwerke in Adabil.

Die Proteste in den sozialen Medien gehen weiter und es kommen immer wieder neue Formen dazu. Erst vergangene Woche verbreitete sich im Internet ein Video, in dem junge Frauen frei und voller Lebensfreude tanzen. Tanzen ist in Iran verboten, genauso wie die offenen, unbedeckten Haare, die sie auf dem Video tragen. Kurze Zeit später wurden sie festgenommen. Jetzt filmen sich junge Frauen im ganzen Land dabei, wie sie zu dem selben Lied tanzen, sogar vor dem Evin Gefängnis. Aus Solidarität füreinander und gegen die islamische Regierung. An dieser Kraft der Menschen haben auch die Giftgasanschläge auf Schulmädchen und Studentinnen nichts verändert. Im Gegenteil: Mit jedem weiteren brutalen Versuch durch die Regierung, ihre Macht zu wahren, wächst die Wut der Menschen auf das islamische Regime weiter.

Ein Zurück gibt es schon lange nicht mehr

Eine entscheidende Rolle spielt die Kraft derer, die seit Generationen systematisch diskriminiert werden. Die Revolution hat in Kurdistan begonnen, die Kämpfe der Kurd:innen gegen die islamische Regierung sind seit Generationen eine der stärksten Widerstandsbewegungen im Land. Sie kämpfen gegen Diktatoren und Unterdrücker in Iran, Syrien, Irak und der Türkei. Schon vor dem Mord an Jina Amini leisteten Kurd:innen unter dem Slogan Jin, Jiyan, Azadi Widerstand gegen Unterdrückung und traten für ein selbstbestimmtes Leben ein. Auch die Ahwazis, Azeris oder Belutschen kämpfen seit Generationen dafür, dass ihre bloße Existenz endlich Anerkennung findet. Dass sie ihre Sprachen öffentlich sprechen, ihre Kultur öffentlich leben können. Zu protestieren, bedeutet deswegen auch, sich hinter diese stark diskriminierten Minderheiten zu stellen.

Mittlerweile geht es nicht mehr darum, ob die islamische Regierung im Iran gestürzt wird, sondern wann. Und wie viele Menschen bis dahin noch gefoltert, vergewaltigt und ermordet werden. Ich wünsche mir, dass das auch die deutsche Bundesregierung endlich versteht. Dass sie sich entschlossen hinter diese mutigen Menschen stellt. Denn Menschenrechte sind universelle Rechte. Dennoch scheinen sie bei politischen Entscheidungen nicht immer an oberster Stelle zu stehen. Ja, Deutschland schlägt erstmals einen härteren Ton gegen die islamische Regierung in Iran an. Und zur Münchener Sicherheitskonferenz wurde in diesem Jahr nicht der iranische Außenminister eingeladen, sondern Mitglieder der achtköpfigen Exilopposition. Ein wichtiges Zeichen gegen die islamische Regierung. Doch das reicht nicht. Die Bundesregierung sollte sich als wichtigster wirtschaftlicher Partner von Iran in der EU voll hinter die Menschen stellen. Wir brauchen ein Ende der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Iran. Die Revolutionsgarde der islamischen Republik muss endlich auf die EU-Terrorliste. Humanitäre Visa in die EU müssen ermöglicht werden, damit die Menschen der Folter, den Vergewaltigungen und dem Morden sicher entfliehen können.

Der „Point of no return“ dieser Proteste, die alle Menschen in Iran, die ich kenne, längst als Revolution bezeichnen, war bereits nach wenigen Wochen erreicht. Ein Zurück gibt es schon lange nicht mehr. Und das ist gut so, denn niemand will zurück in ein Leben, in dem Unterdrückung normal ist.

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