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Mission Lifeline will Geflüchtete von Lesbos nach Berlin fliegen

Foto: Danilo Campailla

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Der Verein Mission Lifeline hat vor, Geflüchtete aus dem überfüllten Flüchtlingscamp in Moria auf Lesbos nach Berlin zu fliegen. Für erste Flüge wurden bereits Spenden gesammelt. Wie viele andere Organisationen befürchtet der Verein, dass das Coronavirus dort eine humanitäre Katastrophe auslösen könnte. Denn kommt das Coronavirus erst einmal im Camp an, wird es sich aufgrund fehlender Hygiene mit höchster Wahrscheinlichkeit schnell ausbreiten und viele Menschen töten. Auch Berlins Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) hatte in einem Interview mit dem Tagesspiegel betont, dass er dem Vorhaben des Vereins zustimme und es eine „menschenrechtliche Verpflichtung“ sei. 

Behrendt sagte außerdem, die Stadt Berlin könne in naher Zukunft 500 bis 1500 Geflüchtete aufnehmen. Der Berliner Vizebürgermeister Klaus Lederer (Linke) sagte dagegen am Dienstag nach der Sitzung des Berliner Senats, dass das nur mit Hilfe anderer Städte zu schaffen sei. Wie realistisch die Pläne des Vereins nun umgesetzt werden können und warum die Lage so dringlich ist, erklärt Axel Steier, Sprecher von Mission Lifeline, im Telefoninterview. 

jetzt: Axel Steier, Sie haben gestern angekündigt, Geflüchtete aus Moria nach Berlin fliegen zu wollen. Wann wollen Sie damit beginnen? 

Axel Steier: So schnell wie möglich, wir sind bereit. Eine griechische Fluggesellschaft hat zugesagt, die Geflüchteten zu fliegen. Im Grunde warten wir nur noch auf die endgültige, schriftliche Erlaubnis der Stadt Berlin oder von der Bundesregierung – nicht, dass wir uns der Einschleusung von Ausländern schuldig machen. 

„Die Spendensumme reicht aus, um etwa 300 Menschen auszufliegen“

Ist es denn realistisch, dass Sie diese Erlaubnis bekommen werden?

Wenn wir da nicht optimistisch wären, hätten wir das Ganze gar nicht erst angefangen und schon so weit geplant. Wenn wir Freitag fliegen wollen, sollte die Antwort allerdings heute oder morgen kommen, da muss ja noch einiges vorbereitet werden.

Was denn zum Beispiel?

Es braucht Freiwillige, die bei der Abreise der Geflüchteten helfen. Und auch für die Ankunft braucht es natürlich Helfer*innen. Von daher wäre es eigentlich gut, Samstag zu fliegen, da haben ja viele frei. Es muss aber auch beispielsweise das Jugendamt in Berlin bereitstehen, um die Jugendlichen zu übernehmen – dafür wäre Freitag wiederum besser.

Im Flüchtlingslager in Moria leben gerade 20 000 Menschen auf engstem Raum. Wie viele von ihnen könnten Sie Ende der Woche ausfliegen?

Die Spendensumme reicht aus, um etwa 300 Menschen auszufliegen, mit dieser Zahl rechnet auch Justizsenator Behrendt. Dafür bräuchte es zwei Flugzeuge, denn auf Lesbos dürfen nur sehr kleine Maschinen landen.

„In Moria gibt es kaum Intensivbetten – alle, die beatmet werden müssten, würden sterben“

Das bedeutet, dass viele Menschen zurückbleiben müssen. Wie entscheiden Sie, wer als Erstes fliegen darf?

Wir verlassen uns da auf die Einschätzung des UNHCR (Anm. der Redaktion: Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen). Deren Mitarbeitende sind vor Ort und können am besten sagen, wer am Nötigsten Hilfe braucht. Und natürlich haben wir uns auch bemüht, ihnen zuzuarbeiten und uns selbst umgeschaut. Die meisten, die fliegen, werden unbegleitete Minderjährige sein, da die ja grundsätzlich besonders schutzbedürftig sind. Davon gibt es unseren Informationen zufolge mehr als 800 im Camp.  

Warum ist die Evakuierung aus Ihrer Sicht dringend nötig? 

In Moria leben 22 000 Menschen auf sehr kleinem Gebiet, gerade mal einige Fußballfelder. Ursprünglich war das Camp auf 3000 Geflüchtete ausgelegt. Wenn dort das Coronavirus ankommt, wird es sich rasend schnell verbreiten, denn Abstand kann man kaum einhalten, die hygienische Situation ist unter aller Würde, es gibt beispielsweise immer wieder kein fließendes Wasser. Wir gehen davon aus, dass die Epidemie dort zwischen 500 und 1000 Leben kosten würde. Denn in Moria gibt es kaum Intensivbetten – alle, die beatmet werden müssten, würden sterben.

Nun ist das Virus offiziell noch nicht in Moria angekommen, allerdings wird dort auch niemand getestet. Inwiefern wirkt sich die weltweite Pandemie trotzdem auf das Leben im Camp aus?

Die Bedingungen waren durch die Enge und die fehlende Hygiene immer furchtbar, aber durch das Coronavirus geht es den Menschen im Camp noch sehr viel schlechter. Vorher durften sie das Lager ja wenigstens noch verlassen, jetzt wird der Fußweg aus dem Camp hinaus eingeschränkt. Pro Familie darf eine Person zum Supermarkt in der Stadt. Das hilft den meisten allerdings wenig, denn inzwischen sind direkte Finanzhilfen ausgesetzt, bis Geldautomaten im Camp aufgestellt werden, damit es für die Auszahlung keine direkten Kontakt mehr braucht. Zuvor bekam eine Familie 90 Euro im Monat Taschengeld vom UNHCR – jetzt haben sie keinen Zugriff mehr darauf. Unsere Quellen sagen, dass Kinder gerade nur etwa 1000 Kalorien am Tag zur Verfügung haben, obwohl sie etwa das Doppelte bräuchten. Eine Familie hat nur neun Liter Trinkwasser am Tag zur Verfügung. Außerdem gibt es nachts keine Wachen mehr im Camp, es kommt immer wieder zu Ausschreitungen. Die Lage ist sehr gefährlich.  

Was soll mit den Geflüchteten passieren, sobald sie in Berlin angekommen sind?

Sie werden vermutlich erst einmal zwei Wochen in Quarantäne müssen, damit sind auch alle einverstanden. Außerdem werden sie ein ganz normales Asylverfahren durchlaufen müssen und bekommen nicht automatisch einen Asylstatus.

„Wissen die Politiker nicht, was im Grundrecht verankert ist, was Menschenrechte sind?“

Vor der Corona-Krise war die Lage im Camp auch schon prekär, aber kein Land wollte die Geflüchteten aufnehmen. Inwiefern eröffnet das Virus da neue Handlungsspielräume?

Die Frage ist tatsächlich, ob ohne die Gefahr der Pandemie nicht noch deutlich langsamer gehandelt worden wäre. Nachdem klar wurde, wie gefährlich das Virus für die Menschen im Camp sein wird, haben wir innerhalb von vier Tagen 55 000 Euro sammeln können. Die deutsche Bevölkerung hat Solidarität gezeigt, auch die Politik hat entschieden, dass Handlungsbedarf besteht. 

Was glauben Sie: Warum ist bisher von Seiten der deutschen Politik trotzdem noch nichts passiert?

Schwer zu sagen – vielleicht aufgrund eines  Mangels an Menschlichkeit? Oder wissen die Politiker*innen nicht, was im Grundrecht verankert ist, was Menschenrechte sind? Vielleicht bräuchte es da mal eine Schulung?

Das ist der Politik aber kaum zu unterstellen, viele Politiker*innen haben die Situation ja bereits mehrfach als menschenunwürdig beschrieben.

Ich formuliere es mal so: Es ist eine Frage des Wollens. Ich beziehe mich da mal auf die Grünen-Politikerin Canan Bayram. Sie hat den zuständigen Bundesbehörden einen Brief geschrieben und sie um Unterstützung für unser Vorhaben gebeten. Die Antwort darauf fasste sie mit einem Satz auf Facebook zusammen: „Geht nicht, weil wir derzeit nicht wollen.“ Und genau das ist das Problem. Es gibt auch in der Politik Leute, die wollen nicht helfen. Das ist nicht menschenrechtskonform. Das ist unterlassene Hilfeleistung. 

„Noch ist es realistisch zu schaffen, bevor das Virus in Moria ausbricht“

Laut Justizsenator Behrendt fürchten viele Politiker*innen, dass eine Aufnahme von bis zu 1500 Geflüchteten in Berlin der AfD in die Hände spielen könnte. Immerhin könnte die Empörung fremdenfeindlicher Wähler*innen sie näher an die populistische Partei treiben. Daher hoffen sie weiterhin auf eine europäische oder zumindest bundesdeutsche Lösung.

Der AfD spielt alles in die Hände, was ihrer Ideologie entspricht. Wenn man jetzt in vorauseilendem Gehorsam Dinge nicht tut, Menschen nicht hilft, nur weil die AfD und ihre Anhänger*innen das für sich nutzen könnten – gerade das macht die AfD doch erfolgreich: Wenn die Regierung sich nach ihnen richtet, sich von ihnen leiten lässt.

Wissen Sie selbst denn, ob Berlin gerade genügend Kapazitäten hat, um die Geflüchteten aufzunehmen und sie würdig unterzubringen?

Ich sehe das unproblematisch. Die Stadtmission Berlin hat uns gegenüber in Aussicht gestellt, dass es die Kapazitäten gibt. Übrigens hätten auch andere Städte und Bundesländer natürlich Kapazitäten. Die Diakonie in Sachsen hat uns gegenüber beispielsweise klar kommuniziert, dass sie auch noch Möglichkeiten hätte. Allerdings will das Bundesland nur 20 Geflüchtete aufnehmen.

Sie leben in Sachsen. Wie geht es Ihnen damit?

Wie soll es mir damit gehen? Ein Land wie Sachsen, dem es wirtschaftlich gut geht, weigert sich zu helfen. Ich finde das einfach nur peinlich. 

Was hoffen Sie für die nahe Zukunft?

Dass das Camp Moria bald vollständig aufgelöst werden kann. Dafür wollen wir auch immer weiter unsere Hilfe anbieten, noch ist es realistisch zu schaffen, bevor das Virus dort ausbricht. Bisher gibt es erst acht nachgewiesene Corona-Fälle auf Lesbos. Dadurch, dass die Geflüchteten kaum mit Menschen von draußen Kontakt haben und schon gar nicht mit medizinischem Personal, könnten wir es tatsächlich noch rechtzeitig schaffen. Vorausgesetzt die Hilfe wird erlaubt.

Alle Meldungen zur aktuellen Coronavirus-Lage findet ihr zweimal täglich im SZ Espresso-Newsletter.

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