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„Wir nehmen diesen Putsch persönlich“

Insbesondere junge Menschen gehen derzeit in Peru gegen das korrupte Parlament auf die Straße. Wie hier ein Mann in Lima der ein Schild hochhält auf dem übersetzt „verrotteter Kongress“ steht (Symbolbild).
Foto: Martin Mejia/ap

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Zwei Tote und hunderte Verletzte. Peru steckt seit fast einer Woche in einer schweren politischen Krise. Anlass dafür ist die Amtsenthebung des im Volk beliebten peruanischen Präsidenten Martín Vizcarra wegen angeblicher „permanenter moralischer Unfähigkeit“. Vizcarra, der sich in den vergangenen zwei Jahren gegen die Korruption im politischen System Perus eingesetzt hatte, wird nun selbst Korruption vorgeworfen. Nur: Beweise dafür gibt es bislang offenbar keine. In einem Misstrauensvotum jedoch hatte die deutliche Mehrheit der Parlamentsabgeordneten gegen ihn gestimmt und dafür den Parlamentspräsidenten Manuel Merino zum kommissarischen Präsidenten erklärt – der manchen als Strippenzieher des Misstrauensvotums gilt. Der Tod zweier Studenten durch Polizeibeamte führte am 14. November dann wiederum zum Rücktritt Merinos. Am vergangenen Dienstag wurde daraufhin der Mitte-Rechts-Politiker Francisco Sagasti als Präsident vereidigt – der dritter Präsident innerhalb von einer Woche. 

Seit den Vorfällen gehen vor allem junge Menschen in Peru auf die Straße. Dabei geht es nicht nur um Vizcarra, sondern auch um das peruanische Parlament. „Vacarlos a todos“ – „Sie sollen alle gehen“ steht auf den Transparenten. Während der Demonstrationen kam es immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen zwischen Polizei und Demonstrant*innen. Amnesty International und die Vereinten Nationen sprechen von unverhältnismäßigen Maßnahmen. 

Eine der Demonstrant*innen ist Alejandra Garay, 19 Jahre alt und Architekturstudentin. Mit uns spricht sie über die politischen Zustände in Peru, und darüber, warum vor allem junge Menschen gerade auf die Straße gehen.

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Die Interviewpartnerin Alejandra Garay.

Foto: Alejandra Garay

jetzt: Merino ist zurückgetreten, aber die Unzufriedenheit im Land hält an. Wieso?

Alejandra: Weil wir nicht den Rücktritt von Merino wollen, sondern den Rücktritt des Parlaments. Gegen 68 der 130 Abgeordneten laufen derzeit Straf- und Untersuchungsverfahren wegen Mordes, Geldwäsche und Bestechung. Es ist eigentlich egal, wer Präsident*in ist oder wird, mit diesem Parlament, wird er oder sie nur eine Marionette der korrupten Abgeordneten sein. 

Wie war es möglich, dass Präsident Vizcarra des Amtes enthoben wurde?

Die Absetzung von Präsidenten aufgrund von Korruptionsvorwürfen hat in Peru inzwischen Tradition. Seit 1985 sind alle ehemaligen Staatsoberhäupter entweder im Auslieferungshaft oder unter Hausarrest. Es ist immer wieder das Gleiche: Der neue Präsidentschaftskandidat verspricht sich gegen die Korruption im Land stark zu machen und endlich Reformen im Justiz- und Bildungssystem durchzusetzen. Sobald er im Amt ist und die ersten Gesetztesentwürfe vorbringt, wird er abgesetzt. Dazu wird ein altes Vergehen ausgegraben, oder wenn nicht vorhanden konstruiert, und damit ein Misstrauensvotum eingeleitet. 

Warum finden die Proteste gerade jetzt so viel Zuspruch? Als zum Beispiel Präsident Kuczynski 2018 des Amtes enthoben wurde, ging niemand auf die Straße.

Weil es dieses mal unglaublich schnell passiert ist. Obwohl die Art der Amtsenthebung durch ein Misstrauensvotum legal ist, finde ich sie nicht legitim. Die Vorwürfe gegen Vizcarra sind nicht offiziell bestätigt, es gab auch kein rechtsgültiges Verfahren oder ein amtliches Gutachten. Ich und viele andere Peruaner*innen haben das Gefühl, dass hinter unserem Rücken demokratische Grundrechte verletzt wurden. 

Wie stand die Bevölkerung zu Vizcarra?

Die Meinung ihm gegenüber war lange neutral. In den vergangenen  Monaten und im Umgang mit der Pandemie hat er aber einen echt guten Job gemacht. Er hat die Clubs geschlossen, Straßenpatrouillen zur Überwachung der Maskenpflicht eingesetzt und das öffentliche Leben auf ein Minimum reduziert. Er hat im Juli sogar einige Minister, unter anderem den Premierminister, austauschen lassen, nachdem die seine Maßnahmen im Umgang mit der Pandemie nicht unterstützen wollten. Meiner Meinung nach hat er da besser gehandelt, als andere Präsidenten in Lateinamerika, die die Pandemie lange unterschätzt haben. Bei vielen Student*innen war er außerdem wegen seiner Universitätsreform beliebt.

„Wir wollen unser Land nicht weiter bluten sehen“

Was sah die aus? 

Die Reform stellt die Universitäten wieder stärker unter staatliche Kontrolle. Vor ungefähr 30 Jahren gab es einen Beschluss, dass die Universitäten in Peru als gewinnorientierte Unternehmen geführt werden dürfen. Bildung wurde privatisiert und es gründeten sich Firmen, die Unis betrieben. Dementsprechend war dann auch der Unterricht. Viele Lehrbeauftragte und sogar Professor*innen waren so schlecht bezahlt, dass sie mindestens einen weiteren Job ausüben mussten. Die Reform sollte das ändern, indem die Gehälter erhöht werden und mehr Lehrpersonal fest eingestellt wird. Nun sitzen aber einige der Besitzer solcher privaten Uni-Konzerne im Parlament. Die Reform bedeutet für sie massive Gewinnverluste. In den letzten fünf Tagen, seit der Absetzung Vizcarras, wird schon darüber verhandelt, ob man die Reform aussetzt. 

Waren deshalb vor allem junge Menschen auf der Demo? 

Wir nehmen diesen Putsch persönlich. In den vergangenen Jahren haben wir für Reformen, wie eben die Universitätsreform, hart gekämpft. Die Absetzung Vizcarras bedeutet, dass diese Fortschritte umsonst waren. Das Parlament wird, auch nach Merino, einfach eine neuen, konservativen und wahrscheinlich sehr neoliberalen Präsidenten einsetzen um so die beschlossenen Reformen außer Kraft zu setzen. 

Wie ist die Stimmung im Land? 

Wir sind beunruhigt, wütend und traurig. Korrupte Abgeordnete handeln gegen demokratische Grundsätze. Friedliche Demonstrant*innen, werden von Polizist*innen mit Tränengas und Gummigeschossen gewaltsam zurückgedrängt. Zwei Studenten sind gestorben – Bryan Pintado und Inti Sotelo – über hundert weitere verletzt oder verschwunden. Ich spüre aber, wie aus dieser Trauer der Wille entsteht weiterzumachen. Jeden Tag auf die Straße zu gehen und zu zeigen: Wir sind Peru. Wir wollen unser Land nicht weiter bluten sehen. Für diese Veränderung kämpfen wir jetzt. 

Was sagt deine Familie dazu, dass du auf den Demos warst?

Mein Vater hat mich dazu ermutigt auf die Demo zu gehen. Er meinte zu mir, dass ich für all diejenigen unserer Familie gehen soll, die wegen der Pandemie nicht können. Meiner Mama musste ich versprechen, dass ich auf mich aufpasse (lacht) und nicht alleine gehe. Ich habe mich dann mit einigen Freund*innen einem friedlichen Demonstrationszug im Zentrum Limas angeschlossen. Mit in der Gruppe waren auch Mütter mit ihren Kindern. 

Wie lief die Demonstration ab?

Als wir am Treffpunkt ankamen wurden wir von den Ordner*innen dazu angehalten bitte eine Maske zu tragen und auf die typischen Rufe zu verzichten. Zunächst war die Demonstration, wie geplant, sehr friedlich. Ich würde sogar sagen, dass die Stimmung euphorisch war. Wir waren entschlossen für unsere Rechte einzutreten. Als wir in die Nähe des St. Martin Platzes kamen, haben wir das erste Mal Schüsse gehört. Ich habe mich vorher ziemlich sicher gefühlt, aber in dem Moment hatte ich echt Angst. Meine Freund*innen und ich wollten losrennen, aber einige andere Demonstrant*innen haben uns beruhigt. Sie haben uns erzählt, dass die Polizei oft Schüsse in die Luft abfeuert, um den MenschenAngst einzujagen. Als Zeichen ihrer Solidarität haben sich die Anwohner*innen der Häuser um unseren Demonstrationszug, aus dem Fenster gelehnt und mit Holzlöffeln und anderen gegenständen auf Pfannen geschlagen. Viele Ladenbesitzer*innen und Straßenverkäufer*innen haben uns mit Wasser und Essen versorgt. Wir haben angefangen uns gegenseitig Mut zuzurufen und „Arriba Peru“– „Hoch Peru“ geschrien. Umso mehr sie geschossen haben, desto lauter waren wir. 

Wie geht es für euch jetzt weiter?

In den nächsten Tagen wird es erstmal Trauermärsche in Erinnerung an Bryan und Inti geben. Ihr Tod darf nicht in Vergessenheit geraten. Wenn wir diesen Schock überwunden haben, werden wir die Proteste gegen das Parlament wieder aufnehmen. Wir werden nicht still sein – es muss sich endlich etwas an der politischen Struktur des Landes ändern.

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