Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

„Kritik an der israelischen Politik ist nicht automatisch antisemitisch“

Fotos: Privat

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Israel-Flaggen brennen, Mitschüler beschimpfen einen jüdischen Jungen, an einer Grundschule wird ein jüdisches Mädchen ebenfalls angegangen und ein israelischer Gastronom wird mit judenfeindlichen Parolen bedroht: Der Antisemitismus in ist in Deutschland weiterhin stark verbreitet und nimmt sogar zu. Pro Tag kommt es im Schnitt zu vier antisemitischen Straftaten, die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Gleichzeitig sind die israelische Politik und der Nahostkonflikt nach wie vor viel diskutierte Themen – und immer wieder schlägt auch dabei Kritik an Israel in Antisemitismus um. 

Wie wirken der verstärkte Antisemitismus in Deutschland und die Debatte darüber auf junge Juden in Israel? Und wie nehmen sie die Diskussion über ihre Heimat und Kritik an Israel wahr? Wir haben vier Israelis dazu befragt.

Yigal, 28, Finanzmanagementstudent aus Tel Aviv-Jaffa 

protokolle israelis text yigaz

„Kritik an der israelischen Politik ist nicht automatisch antisemitisch. Einige nutzen diese Kritik aber, um ihre antisemitischen Einstellungen zu rechtfertigen. So war es zum Beispiel bei Protesten nach Trumps Entscheidung, die US-Botschaft nach Jerusalem zu verlegen. In Deutschland wurden Israel-Flaggen verbrannt. In Schweden gab es sogar einen Brandanschlag auf eine Synagoge. Judenfeindlichkeit gibt es nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Dennoch denke ich, dass Deutschland eine besondere Rolle in Bezug auf die Israelkritik einnimmt. Der Holocaust war ausschlaggebend für die Staatsgründung Israels und damit auch für die Teilung Palästinas. Deswegen finde ich Deutschlands Kritik an der israelischen Politik teilweise schwierig. 

Früher habe ich in der Sicherheitsabteilung am Flughafen in Tel Aviv gearbeitet. Dort kam ich in Kontakt mit vielen internationalen Touristen, auch mit Deutschen. Ich mag die deutsche Kultur und habe viele deutsche Freunde, die ich im Ausland kennengelernt habe. Deutschland ist liberal und demokratisch. Meine Meinung hat sich durch die jüngsten Ereignisse nicht verändert. Ich habe immer noch den Wunsch, irgendwann einmal nach Deutschland zu reisen. 

Ich unterstütze die Zweistaatenlösung: Palästina soll als unabhängiger Staat neben Israel existieren. Meine Eltern wurden beide im Iran geboren, ich hingegen in Israel. Sie teilen meine Meinung. Meine Freunde auch. Dennoch gibt es viele Menschen, die gegen eine Zweistaatenlösung sind. Sie haben Angst vor möglichen Terroranschlägen von palästinensischer Seite.

Ich bin zwar anderer Meinung, verstehe aber die Bedenken. Wir wachsen in Israel häufig mit Vorurteilen und einem tiefgreifenden Misstrauen gegenüber Palästinensern auf. Da fällt es vielen schwer, sich eine eigene, differenzierte Meinung zu bilden. In Palästina ist es leider nicht anders. Besonders im Gazastreifen ist die Feindschaft gegen Israel präsent. Ich denke, dass die Angst auf beiden Seiten den Nahostkonflikt verhärtet.“ 

Inbar, 28, Architektin aus Jerusalem 

„Jerusalem ist für mich immer die Hauptstadt Israels gewesen. Das wird sie auch immer sein. Mir ist bewusst, dass in diesem Punkt nicht jeder so denkt wie ich. Daher schätze ich Trumps Unterstützung. Die Entscheidung, die US-Botschaft nach Jerusalem zu verlegen, ist ein wichtiger Schritt für die jüdische Gemeinde. 

Ich denke, dass der Antisemitismus in Europa nach dem Holocaust nie ganz verschwunden ist. Vor allem nicht in Deutschland. Die israelischen Medien berichten von den dortigen Ereignissen, die sich gegen Juden richten. Meine Großeltern sind Überlebende der Shoah. Sie haben französische, englische, türkische und polnische Wurzeln. Wenn sie im Fernsehen Bilder von einer brennenden Israelflagge sehen, dann ist das für sie ein erschreckender Anblick. Einer, der unangenehme Erinnerungen hervorruft. Erinnerungen, die man lieber vergessen möchte. Sie sprechen nicht viel über ihr Erlebtes oder ihre Eindrücke von der jetzigen Situation. Aber ich spüre, dass sie Angst haben. 

Ich habe keine konkrete Vorstellung von Deutschland. Von Deutschen auch nicht. Früher wollte ich nach Deutschland reisen, Berlin besuchen. Doch mittlerweile bin ich mir da nicht mehr so sicher. Mir ist nicht mehr so wohl bei dem Gedanken daran. Ich schließe es aber für die Zukunft auch nicht vollkommen aus. Meine Großeltern werden jedoch nie mehr nach Deutschland reisen.“ 

Gal, 29, Praktikant im Bereich Accounting aus Rishon LeZion 

protokolle israelis text gal

„Meine Großeltern stammen aus Polen. Sie haben den Holocaust überlebt. Trotzdem mag ich Deutschland. Diejenigen, die die schrecklichen Verbrechen in der NS-Zeit begingen, haben nichts mit der heutigen Generation zu tun. Meine Familie ist da derselben Meinung. Ich bin schon mehrmals nach Deutschland gereist: nach München, Dresden und in den Schwarzwald. Ich mag das Land sehr und habe während meiner Reisen tolle Menschen kennengelernt. Deutschland ist ein weltoffener und toleranter Staat. Doch das Phänomen des Antisemitismus ist noch immer nicht verschwunden. 

Israelkritik kann eine Form von Antisemitismus sein. Muss sie aber nicht zwangsläufig. Das ist aber auch alles Ansichtssache. Ich habe den Eindruck, dass Israel in der Welt nicht sehr beliebt ist. Vielleicht findet die Kritik an Israel auch daher häufig Zuspruch, nicht nur von antisemitisch eingestellten Personen. Mithilfe der Israelkritik könnten judenfeindliche Parteien versuchen, Anhänger zu finden. Und das, ohne ihre antisemitischen Gedanken direkt offenkundig zu machen. Ich finde diese Tendenzen gefährlich. 

Israel hat viele Probleme mit seinen arabischen Nachbarn. Und auch innerhalb des Landes gibt es viele gesellschaftliche Konflikte. Hier spielen die Religionen eine entscheidende Rolle. Unterschiedliche Weltanschauungen und Lebensstile von Juden, Muslimen und Christen führen teilweise zu Intoleranz und Anfeindungen im Zusammenleben. Diese Probleme gibt es zum Teil auch in Europa. Deutschland muss sich ihnen stellen. Das ist wichtig, damit sich Konflikte in Zukunft nicht noch weiter verstärken.“ 

Raz, 28, Industriemanagementstudent aus Jerusalem 

protokolle israelis text raz

„Bildung ist der einzige Schlüssel auf dem Weg zu einem toleranten und friedlichen Zusammenleben. Unwissenheit lässt uns oft dazu tendieren den ‚Anderen‘ zu dämonisieren. Es ist wichtig, dass sich der Staat für die Förderung demokratischer Werte, Freiheit und Toleranz einsetzt. Nur so kann ein erfolgreicher Dialog zwischen den Nationen, Kulturen und Religionen stattfinden.

Leider sehen wir unsere Flagge oft im Ausland brennen. Normalerweise passiert das im Iran oder durch die Hisbollah. Das ist eine ziemlich geschmacklose Art des Protestes. Man verbrennt nicht das Symbol eines anderen Staates. Für mich ist ein solcher Akt immer antisemitisch. Schließlich zeigt er, dass der einzige jüdische Staat zerstört werden soll. 

Ich denke jedoch nicht, dass eine Kritik an Israel per se antisemitisch ist. Es ist wichtig, jedes Land kritisieren zu können, wenn man der Meinung ist, dass es unrechtmäßig handelt. Aber gezielt Israel auszuwählen und unverhältnismäßig zu irgendeinem anderen Land im Nahen Osten oder dem Rest der Welt zu kritisieren, ist antisemitisch. Auch ich finde manche Entscheidungen der israelischen Regierung nicht richtig. Es ist aber wichtig, das gesamte internationale Geschehen zu betrachten und sich nicht nur Israel herauszupicken. Denn dann bekommt das für mich eine antijüdische Ausrichtung.

Ich habe Deutschland einmal mit meiner Familie besucht. Das war ein bisschen wie eine Rückkehr zu meinen europäischen Wurzeln, die sind mütterlicherseits deutsch und österreichisch. Auch wenn diese Rückkehr alles andere als leicht war. Ich habe mich in jenen Tagen viel mit der Vergangenheit beschäftigt. Das ist wichtig, um die Geschehnisse zu verarbeiten und daraus zu lernen.

Auf meiner Reise habe ich viele Deutsche kennengelernt und diese Erfahrung sehr genossen. Die ältere Generation hat eine komplexere Beziehung zum Holocaust. Daher hoffe ich, dass meine Generation einen Neuanfang schafft: Wir müssen aus der Vergangenheit lernen und anderen Menschen mit Toleranz und Offenheit begegnen. Ich wünsche mir auch, dass mehr Deutsche nach Israel reisen und sich ihre eigene Meinung vom Land und seinen Einwohnern bilden.“

Mehr über Antisemitismus in Deutschland:

  • teilen
  • schließen