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„Wir stehen vor einer Schicksalswahl“

Die Türkei steht vor einer der wichtigsten Wahlen seit langem.
Foto: Hannes P. Albert/dpa

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Am Sonntag, den 28. Mai, wählen mehr als 64 Millionen wahlberechtigte Türkinnen und Türken ihren künftigen Staatschef. Etwa 1,5 Millionen Menschen in Deutschland konnten bereits ihre Stimme abgeben. Seit mehr als 20 Jahren sind Recep Tayyip Erdoğan und seine islamisch-konservative AKP an der Macht, doch zum ersten Mal seit Beginn seiner Amtszeit geht es in die Stichwahl. Gerade junge Menschen wünschen sich einer Umfrage zufolge einen Wechsel an der Regierungsspitze. 

Erdoğan wird unter anderem vorgeworfen, die Türkei immer autokratischer zu regieren, Menschenrechte zu missachten und die schlechte Wirtschaftslage des Landes herbeigeführt zu haben. Beobachter empfinden den Wahlkampf als unfair, unter anderem durch die staatliche Kontrolle vieler Medien. 

Kemal Kılıçdaroğlu, Gegenkandidat und Vorsitzender der sozialdemokratisch-nationalistischen CHP, holte mit seinem Sechs-Parteien-Bündnis zwar 44,9 Prozent der Stimmen – blieb jedoch hinter den Erwartungen zurück. Viele Menschen hatten auf einen Sieg des Oppositionsführers gehofft, nachdem er und seine Partei bei den vergangenen Wahlen keine Chance auf das Präsidentenamt hatten. Nun möchte Kılıçdaroğlu das Land wieder demokratischer machen. Doch er ist nicht unumstritten: Er gilt als Bürokrat, wenig charismatisch und polarisierte mit seiner Aussage, nach der Wahl Millionen Geflüchtete „nach Hause schicken“ zu wollen. 

SZ Jetzt hat mit jungen Menschen aus Deutschland mit türkischem, alevitischem oder kurdischem Hintergrund über ihre Sicht auf die Wahl gesprochen. Bei der Recherche wurde klar: Viele haben Angst, offen über ihre politischen Ansichten zu sprechen. Sie fürchten, für ihre Meinung von ihrem Umfeld verurteilt – oder gar bei der Einreise in die Türkei politisch verfolgt zu werden. Einer Protagonistin wurde mit einer Kündigung gedroht, sollte sie in diesem Beitrag mit Namen und Bild auftauchen. Darum hat die Redaktion beschlossen, zwei Gesprächspartnerinnen zu anonymisieren. Allgemeine Informationen zur Wahl findet ihr hier, Analysen zur Stichwahl gibt es hier, hier und hier

„Die Wahlen waren für mich mit sehr viel Hoffnung verbunden“

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Foto: Privat

Alp, 22, aus Aachen

„Ich bin mit der AKP an der Regierung auf die Welt gekommen und ich hoffe, dass ich nicht mit ihr sterben muss. Ich bin in der Türkei geboren und aufgewachsen, und wenn man dort aufwächst, kann man nicht apolitisch sein, da die Politik viel in deinem Leben bestimmt. Mit 18 bin ich dann nach Deutschland gekommen und verfolge die politische Lage sehr intensiv.

Die Wahlen waren für mich mit sehr viel Hoffnung verbunden, da die Opposition das erste Mal seit langer Zeit stark genug gewesen wäre, um die momentane Regierung abzulösen. Vor den Wahlen haben mehrere Umfragen gezeigt, dass die Mehrheit für Kılıçdaroğlu wählen würde. Auch auf Twitter waren die Menschen in meinem Umfeld fest davon überzeugt, dass die CHP diesmal gewinnen könnte. Trotzdem hatte Erdoğan nach den Wahlen einen großen Vorsprung. Es war zwar von Anfang an nicht alles fair, aber das ist für mich keine Ausrede, warum Kılıçdaroğlu verloren hat. Es war offensichtlich, dass das Volk mehrheitlich für Erdoğan gestimmt hat. Für die Stichwahlen wären die Stimmen des dritten Kandidaten wichtig. Doch auch er hat Erdoğan seine Unterstützung angekündigt. Das hat mich natürlich enttäuscht und ich sehe in der zweiten Runde sehr schlechte Chancen für Kılıçdaroğlu. 

Es kann durchaus sein, dass die Regierung in den vergangenen Jahren die Infrastruktur im Land verbessert hat, aber aktuell verschlechtert sich die Lage der Türkei sehr. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass der Präsident zum Wohle des Volkes handelt und die Menschen in der Türkei mehr Handlungsspielraum haben. Auch fundamentale Menschenrechte fehlen in der Türkei, wie zum Beispiel Meinungsfreiheit oder auch Frauenrechte. Und ich wünsche mir Perspektiven und Arbeit für junge Menschen, und dass die Vorteile genutzt werden, die wir haben: Die Türkei hat eine geopolitisch sehr attraktive Lage und genug junge Arbeitskräfte.“

„Ein Regierungswechsel würde vielen die Angst nehmen“

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Foto: Privat

Sercan, 34, aus Kierspe

„Ich bin Kurde mit jesidischem Hintergrund. Seit ich denken kann, ist Politik ein Thema in meiner Familie und im Freundeskreis. Ich habe türkische, kurdische und auch viele deutsche Freunde. Und weitestgehend deckt sich die Ansicht meines Umfelds mit meiner eigenen: Die aktuelle Regierung gehört abgewählt. Das sage ich aber aus meiner Komfortzone in Deutschland heraus. Ich finde es schwierig zu bewerten, was für die Menschen in der Türkei richtig ist. Viele Menschen aus der türkischen Community in Deutschland sind anderer Meinung. 

Worüber es keine zwei Meinungen gibt: Die wirtschaftlichen Probleme sind groß und bedrohen viele Existenzen. Die Lira stürzt ab. Ich war selbst vor kurzem in der Türkei. Als ich dort war, haben mich viele Kinder nach Essen angebettelt. Mir haben Menschen gesagt, dass sie sich kein Brot mehr leisten können. Da habe ich nochmal gemerkt, dass die Türkei kein Sozialstaat wie Deutschland ist. Dazu kam das schreckliche Erdbeben. Für die Naturkatastrophe kann man die türkische Regierung nicht verantwortlich machen. Für die Folgen teilweise schon. Viele Häuser in den betroffenen Regionen waren nicht erdbebengerecht geschützt, und das besonders in den kurdischen Gebieten. Hier hat die Regierung schon immer weniger investiert. 

Kemal Kılıçdaroğlu verspricht viel, doch man muss sehen, wieviel davon er wirklich umsetzen kann. Sogar wenn er gewählt werden sollte, gibt es keine Garantie dafür, dass sich die wirtschaftliche Lage und die Menschenrechte in der Türkei sofort verbessern. Ich finde auch Kılıçdaroğlus Äußerungen zu den syrischen Flüchtlingen problematisch. (Anm. d. Red: Zehn Tage vor der Stichwahl hat Kılıçdaroğlu angekündigt, alle Flüchtlinge in der Türkei „nach Hause zu schicken“ zu wollen, und sprach dabei von 10 Millionen Menschen.) Er versucht nun mal das zu sagen, was der Großteil der Bevölkerung hören möchte. Aber man kann trotzdem hoffen. Viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sagen: ,Schlimmer kann es nicht mehr werden.‘ 

Wir stehen vor einer Schicksalswahl. Deswegen informiere ich mich noch stärker als sonst, sowohl über deutsche als auch türkische Medien. Mir ist ein ausgewogenes Gesamtbild wichtig. Man merkt: Der Wahlkampf ist unfair. Es gibt viel Propaganda. Ein Regierungswechsel würde vielen die Angst nehmen. Viele Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland trauen sich nicht, ihre kritische Meinung gegenüber der türkischen Regierung zu äußern und dann in ihr Land einzureisen. Immer wieder werden Leute verhaftet, weil ihre Meinung der Regierung nicht passt. Selbst dieses Interview könnte Folgen für mich haben.“ 

„Erdoğan hat das Land meiner Meinung nach lange gut geführt“

Zeynep, 22, heißt eigentlich anders. Ihr Arbeitgeber hat ihr mit der Kündigung gedroht, sollte ihre Meinung mit Name und Bild öffentlich erscheinen.

„Die Wahlen sind ein großes Thema in der Familie und bei Freunden. Die meisten in meinem Umfeld unterstützen Erdoğan. Nur ein Teil der Familie meines Vaters ist für die Opposition, aber zum Glück gibt es keinen Streit deswegen. Ich sitze zwar nicht stundenlang vor dem Fernseher und schaue Nachrichten, um mich zu informieren. Doch gut die Hälfte meiner Familie lebt in der Türkei. Über sie kriege ich mit, was dort passiert. Außerdem sehe ich viel Content über die Wahlen in den sozialen Medien. Dort geht es ziemlich zur Sache. Die einen regen sich auf, dass Erdoğan immer noch da ist. Die anderen machen sich über Kılıçdaroğlu lustig und versuchen ihn bloßzustellen. 

Die deutschen und die türkischen Medien berichten sehr unterschiedlich. (Anm. d. Red.: Die Pressefreiheit ist in der Türkei stark eingeschränkt. Laut Reporter ohne Grenzen liegt die Türkei auf Platz 165 von 180 im internationalen Vergleich.) Worin sich aber alle einig sind: Die Inflation ist aktuell das größte Problem in der Türkei. Es wird alles deutlich teurer. Das spürt dort jeder. Immerhin hat die Regierung die Löhne erhöht, als die Inflation immer weiter gestiegen ist. Die Türkei nimmt auch immer mehr Geflüchtete aus Syrien und anderen Ländern auf. 

Erdoğan hat das Land meiner Meinung nach lange gut geführt und hat realistische Vorstellungen für die Zukunft. Warum sonst sollten ihn noch so viele Menschen wählen? Sollte es einen Regierungswechsel geben, werden sich viele Erdoğan zurückwünschen. Ich persönlich lege viel Wert auf Religion. Unter Erdoğan sind der Islam und seine Werte im Land immer wichtiger geworden. Die Türkei ist nun mal ein muslimisch geprägtes Land und das soll auch so bleiben, finde ich. 

Ich bin sowohl in Deutschland als auch in der Türkei zuhause und könnte mir vorstellen, in der Zukunft in der Türkei zu leben. Das geht vielen Menschen hier so. Darum finde ich es fair, wenn ich jetzt schon wählen kann, wer dort regiert. Deutsche Bürger in der Türkei dürfen ja auch an den Bundestagswahlen teilnehmen.“ 

„Mit der AKP verbinde ich eine Diktatur, die als Demokratie legitimiert wird“

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Foto: Privat

Ilayda, 20, Aschaffenburg

„Ich hatte mir erhofft, dass die CHP direkt gewinnt, aber mir war auch klar, dass Erdoğan es für die Opposition nicht einfach machen würde. Trotzdem war ich mir irgendwie sicher, dass es einen Regierungswechsel geben könnte. Auch hier in Deutschland stimmt eindeutig die Mehrheit für Erdoğan. Dabei frage ich mich, ob das überhaupt fair ist, dass wir hier in Deutschland für die Türkei wählen dürfen. Wir entscheiden für ein Land, in dem wir selbst nicht leben müssen. 

Durch die Nachrichten oder Social Media kriegt man als Türkin hier in Deutschland schon mit, wie die Lage in der Türkei ist. Vor allem beschäftigen mich die Probleme, die durch die Regierung unter Erdoğan entstanden sind, gerade weil ich Familie und Freunde habe, die dort leiden.

Ich beschreibe die Probleme in der Türkei immer wieder mit einem Zitat von Erdoğan, wo er behauptet, dass in der Türkei niemand verhungern müsse und „jeder Brot nach Hause bringen“ könnte. Es gibt allein 3,5 Millionen Arbeitslose. Doch auch die Menschen mit Arbeit können sich heute kaum noch etwas leisten. Der Mindestlohn liegt im Monat bei 8500 Lira, umgerechnet um die 400 Euro. Wie sollen Menschen damit zurechtkommen, wenn die Miete allein in Städten um die 5000 Lira kostet? Dazu kommt, dass die Meinungsfreiheit begrenzt ist (Anm. d. Red: Die Türkei belegt in der Rangliste der Pressefreiheit 2023 Platz 165 von 180), eine übermäßig große Anzahl von Menschen wegen fadenscheinigen Gründen verhaftet wird. Es herrschen kaum Frauenrechte, Tiere werden auch nicht geschützt, die Arbeitsbedingungen sind katastrophal. Das System hat meiner Meinung nach versagt, wenn Kinder auf den Straßen immer noch betteln und arbeiten müssen und das heißt: Nicht jeder kann Brot nach Hause bringen. 2022 ist die Türkei aus der Istanbulkonvention ausgetreten, die zur Stärkung der Frauenrechte diente. Allein im letzten Jahr gab es in der Türkei fast 400 Femizide

Mit der AKP verbinde ich eine Diktatur, die als Demokratie legitimiert wird. Ich unterstütze nicht alle Positionen der CHP, aber die Werte, die sie vertreten, haben  meiner Meinung nach das Ziel, Frieden und Gleichberechtigung zu schaffen.“

„Viele lassen sich von der Meinung ihrer Eltern beeinflussen oder übernehmen sie ganz“

Selen, 22, Frankfurt, möchte lieber nicht mit Foto in diesem Text erscheinen 

„Aufgrund meiner Ethnie und Religion werde ich automatisch mit Politik konfrontiert. Ich bin Alevitin, eine Minderheit in der Türkei, die oft ausgegrenzt und diskriminiert wird. So schlimm sogar, dass manche Aleviten Gewalt erleben. Deshalb ist mir die Wahl auch so wichtig. Schaut man in die letzten zwei Jahrzehnte zurück, hat sich gesellschaftlich die Beziehung zwischen Aleviten und Sunniten verschlechtert. Es herrscht mittlerweile eine gesellschaftliche Spaltung.

Vor den Wahlen habe ich gehofft, dass sich viele Menschen mit dem Thema beschäftigen und vielleicht auch mal hinterfragen: Warum ist die Opposition gewachsen? Was sind die Gründe dafür? Viele lassen sich von der Meinung ihrer Eltern beeinflussen oder übernehmen sie ganz. Nach der ersten Wahl war ich sehr positiv gestimmt, da es vor fünf Jahren schlimmer war. Dass wir überhaupt so weit gekommen sind, dass es eine zweite Wahl gibt, ist schon ein Erfolg. Andererseits merke ich auch, wie angespannt die Situation unter den wählenden Menschen ist. Ich hoffe einfach, dass der Hass, die Ausgrenzung und Diskriminierung nicht zunehmen.

Ich finde, dass Religion derzeit eine zu große Rolle in der Türkei und für die türkische Regierung spielt. Es ist wichtig, die Religion zu bewahren, aber diese sollte auf staatliche Entscheidungen keinen Einfluss haben. Ich verstehe auch nicht, warum man aus der Istanbulkonvention austritt, obwohl die Femizid-Rate steigt. Oder warum Minderheiten wie Aleviten nicht in Schutz genommen werden. Es kommt immer wieder zu Angriffen auf Aleviten und ihre Einrichtungen. Ich wünsche mir, dass zum Beispiel in der Schule auch das Alevitentum behandelt wird, um Vorurteile abzubauen. Aber all dies ist eine Utopie.“

„Ich habe den Eindruck, dass Erdoğan sich für das Land einsetzt“

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Foto: Privat

Zehra, 24, Großraum Hannover

„Ich bin eine Kurdin aus der Türkei. Ich identifiziere mich aber nicht mit den Kurdinnen und Kurden, die für ihr eigenes Land kämpfen – wie zum Beispiel die Menschen aus der terroristischen PKK. (Anm. d. Red.: Die Arbeiterpartei Kurdistans – kurz PKK - ist eine kurdische Untergrundorganisation mit sozialistischer Ausrichtung. Unter anderem die Türkei, die EU und die USA stufen sie als Terrororganisation ein.) Ich fühle mich der Türkei zugehörig. Für mich ist die Wahl sehr wichtig. Ich lebe zwar in Deutschland, doch sehe auch in der Türkei eine Heimat. Die Entscheidung betrifft auch einen Teil meiner Familie, der dort lebt. Ich möchte natürlich, dass es ihnen gut geht. Deswegen sollte man auch hier in Deutschland den türkischen Präsidenten wählen dürfen. Es gibt ein sehr enges Verhältnis zwischen beiden Ländern. 

Meiner Meinung nach ist Erdoğan die beste Führungskraft für die Türkei. Ich habe den Eindruck, dass er sich für das Land einsetzt. Kemal Kılıçdaroğlu ist für mich keine starke Führungsperson. Er wirkt nicht selbstsicher. Auf den Videos, die ich von ihm in den sozialen Medien gesehen habe, kann er keine Rede halten, ohne ständig von seinen Zetteln abzulesen. Jetzt hat er sechs Parteien hinter sich vereint – und trotzdem schafft er es nicht, mehr Menschen hinter sich zu vereinen als Erdoğan allein. Er hat schon so oft versucht zu kandidieren und ist immer wieder gescheitert. Das überzeugt mich nicht. Kılıçdaroğlu will außerdem Millionen von syrischen Flüchtlingen aus dem Land haben. Das finde ich nicht in Ordnung. (Anm. d. Red: Zehn Tage vor der Stichwahl hat Kılıçdaroğlu angekündigt, alle Flüchtlinge in der Türkei „nach Hause schicken“ zu wollen, und sprach dabei von 10 Millionen Menschen.)

Von der nächsten Regierung erhoffe ich mir vor allem Frieden und Hilfe für alle, die sie brauchen. Jeder sollte sich frei ausleben können. Mir ist trotzdem wichtig, dass der Islam weiterhin ein wichtiger Bestandteil der türkischen Kultur bleibt. Dafür steht Erdoğan mehr als Kılıçdaroğlu.” 

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