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„Wir stehen hier allein auf weiter Flur“

Fotos: Tim Schneider / Mario von Oculario / Privat / AP / Collage: jetzt.de

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Dass nach den Ausschreitungen in Chemnitz Zehntausende unter #wirsindmehr auf die Straße und zum gleichnamigen Konzert gegangen sind, hat viele auch euphorisch gestimmt. An diesem Abend waren diejenigen, die Rassismus und Rechtsradikalismus verurteilen, tatsächlich in der Überzahl. Im Alltag ist das – gerade im ländlichen Raum – nicht immer der Fall. Dort gibt es Menschen, die sich seit Jahren für eine offene Gesellschaft engagieren, dabei aber oft das Gefühl haben: Gerade sind wir nicht mehr. Aber es wäre schön, wenn wir mehr wären. Wir haben mit ihnen über ihren Alltag und ihre Bildungsarbeit gegen Rechtsextremismus in Sachsen gesprochen.

„Manchmal fühlt man sich einfach so, als ob nichts mehr weitergeht“

Eric Effenträger, 30, ist seit zehn Jahren Mitglied im Verein Agenda Alternativ und engagiert sich für alternative Kultur und Bildung im Erzgebirge.

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Eric findet das Konzert und die #wirsindmehr-Demos gut, sagt aber auch: Sie lenken ab.

Fotos: Privat / AP / Collage: jetzt.de

„Wir wollen thematisieren, dass es Diskriminierungen wie Rassismus oder Homophobie gibt und dem mittels Bildungsarbeit und Kulturveranstaltungen etwas entgegensetzen. Alltagsrassismus gab es schon immer. Allerdings ist die gesellschaftliche Stimmung heute wesentlich aggressiver. Wir als Verein können helfen, das runterzukochen, indem diskutiert und nicht mit Fäusten aufeinander losgegangen wird.

Das Konzert in Chemnitz und die #wirsindmehr-Demos finde ich erst einmal gut. Es ist schön, dass es eine junge Zivilgesellschaft gibt, die aufsteht. Aber das Konzert lenkt auch davon ab, dass es seit Jahren Menschen gibt, die sich gegen Fremdenfeindlichkeit einsetzen. Diese Leute bräuchten mehr Unterstützung, vor allem im ländlichen Raum.

Große Bands sollten öfter auch mal sagen: Wir fahren aufs Land, unterstützen den Jugendclub und machen ein Konzert. Wir kommen an solche Künstler nur sehr schwer ran, und das ist schade. Große Ereignisse lenken die Aufmerksamkeit immer wieder eine Zeit lang auf das Thema, aber für die Leute auf dem Land ändert sich dadurch nichts. Viele wollen nicht mehr in einem Dorf oder einer Kleinstadt leben, aber man sollte die Menschen dort nicht vergessen. Es wäre toll, wenn die Leute aus der Stadt öfter mal auf ein Festival auf dem Land fahren und die Organisatoren zum Beispiel mit einer Schicht an der Bar unterstützen würden.

Der Hashtag #wirsindmehr vermittelt einen falschen Eindruck. Wenn wir mehr wären, wäre es auf dem Land für viele Initiativen leichter. Und es wäre schön, wenn wir mehr wären. Manchmal fühlt man sich einfach so, als ob nichts mehr weitergeht. Wir machen zum Beispiel seit sechs Jahren jedes Jahr das Festival „Stains in the Sun“, ein politisches Festival mit Musik und verschiedenen Workshops. Es fand jedes Jahr im Naturtheater Schwarzenberg statt. Nach fünf Jahren Festival wurde uns die Zulassung  dieses Jahr wenige Wochen vor Festivalbeginn mit der Begründung entzogen, dass wir eine politische Bewegung seien und ein eigenes Gesellschaftsbild verfolgen. Dies widerspräche der im Januar 2018 geänderten Nutzungssatzung des Naturtheaters Schwarzenberg. Wir mussten in kürzester Zeit eine neue Location suchen. Da ist uns so großes Misstrauen begegnet. Wir wünschen uns, dass auch alternative Veranstaltungen mehr Akzeptanz erfahren. Wenn die Politik und Verwaltung nicht hinter einem stehen, dann wird es wirklich schwer.“

„Wir stehen hier allein auf weiter Flur“

Judith Sophie Schilling, 26, ist Geschäftsführerin des soziokulturellen Vereins „Treibhaus“ in Döbeln, etwa 50 Kilometer von Chemnitz.

Judith Sophie Schilling findet den Hashtag #wirsindmehr irreführend.

Judith Sophie Schilling findet den Hashtag #wirsindmehr irreführend.

Mario von Oculario / AP / Collage: jetzt.de

„Treibhaus“ macht Kultur- und Jugendarbeit und organisiert interkulturelle und politische Projekte. „Treibhaus“ wurde vor 21 Jahren gegründet, weil man in Döbeln Freiräume brauchte, die nicht von den Neonazis besetzt waren. Heute sehen wir wieder, wie sich Hass und Gewalt auf den Straßen entladen. Dagegen müssen wir arbeiten.

Es geht uns darum, die Zivilgesellschaft zu stärken. Das ist extrem wichtig, denn hier gibt es nicht viele Projekte unserer Art. Und die wenigen brauchen mehr Unterstützung. Über manche Themen sprechen die Menschen nicht gerne. In Sachsen existierte viele Jahre eine politische Kultur des Sich-Nicht-Auseinandersetzens mit rechten Strukturen. Deswegen haben wir auch ein Projekt, das seit Jahren rechte Aktivitäten in der Region beobachtet.

Es ist natürlich zu verurteilen, dass in Chemnitz ein Mensch getötet wurde. Aber auch, dass das von Neonazis instrumentalisiert wird. Ich finde es zwar gut, dass jetzt Menschen unter dem Motto #wirsindmehr gegen Rechts auf die Straße gehen, und auch, dass zum #wirsindmehr-Konzert namhafte Bands gekommen sind. Aber wir  stehen hier allein auf weiter Flur. Deswegen haben wir den Hashtag #wannwennnichtjetzt gestartet. Damit wollen wir zeigen: Wenn wir uns jetzt nicht eindeutig gegen Rechts engagieren und positionieren - wann dann? Chemnitz kann ein Aufrütteln gewesen sein, aber danach muss noch was kommen.

Ich habe die Hoffnung, dass das wirklich so ist. Wir bekommen derzeit viele Unterstützungsangebote und das freut mich sehr. Es hilft mir nicht, wenn mir Menschen aus der Ferne sagen, wie toll es ist, was ich mache, wenn ich gleichzeitig jede Woche überlegen muss, wer jetzt hinter der Bar steht, oder warum zu einem Vortrag so wenig Menschen kommen.

Ich bin mit meinen Eltern nach Sachsen gezogen, als ich drei Jahre alt war, habe in Döbeln mein Abi gemacht, in Dresden und Leipzig studiert und gelebt. Dann bin ich wieder hierhergezogen. Natürlich kann man die Menschen nicht zwingen zurückzukommen und sich hier zu engagieren. Aber es wäre so wichtig.“

„Jetzt ist es an der Zeit, mit den Menschen zu diskutieren“

Rene Seidel, 31, hat gemeinsam mit vier anderen in Löbau, etwa 20 Kilometer östlich von Bautzen, „Löbaulebt“ gegründet. Der Verein macht vor allem Jugendarbeit und Kunstprojekte.  

Rene findet, wir sollten alle viel mehr miteinander sprechen.

Rene findet, wir sollten alle viel mehr miteinander sprechen.

Fotos: Tim Schneider / AP / Collage: jetzt.de

„Wir haben uns gegründet, weil es im ländlichen Raum für junge Menschen zu wenig Angebote gibt. Wenn Jugendliche nach der Schule nicht wissen, wohin mit sich, ist es an uns, sinnvolle Angebote zu schaffen – und zwar gemeinsam mit den Jugendlichen und nicht von oben aufgesetzt. Vereine und Initiativen müssen ausgleichen, dass es hier nicht so viele Kinos und Kneipen gibt.

Wichtig ist uns vor allem, in einen Dialog zu kommen. Zu unseren Veranstaltungen laden wir Jugendliche und Senioren ein, Deutsche und Geflüchtete, damit die Menschen einander kennenlernen und Ängste abbauen. Es wäre toll, wenn es im ländlichen Raum mehr Menschen gäbe, die das machen würden. Die Möglichkeiten, sich einzubringen und zu gestalten sind hier super, die Hierarchien flach. Und es ist hier wirklich nötig.

Seit den Ausschreitungen in Chemnitz habe ich das Gefühl, dass die Rechtspopulisten lauter geworden sind und der Ton schärfer. Hashtags wie #wirsindmehr sind natürlich eine gute Sache, um sich zu sammeln. Aber mir wäre wichtig, dass mehr Menschen miteinander reden und sich gegen rechte Parolen stellen. Dazu muss man sich im Alltag zwingen. Wir gehen jetzt auch mehr auf Konfrontationskurs, gehen eher in Gespräche rein, wo man früher noch gesagt hat: Lass sie reden. Jetzt ist es an der Zeit, mit den Menschen zu diskutieren. Auch in den sozialen Medien mische ich mich jetzt öfter ein, wenn jemand Fake News teilt.

In unserer Jugendarbeit vermitteln wir immer: Man muss keine Angst haben vor offenen Grenzen, vor anderen Religionen, vor Homosexualität. Für uns ist das normal. Aber viele Menschen hier sehen das anders. Sie haben Angst vor dem Fremden und das Bedürfnis nach Schutz und Halt. Das geben sie an ihre Kinder weiter. Wir zeigen den Kindern, dass es auch andere Ansichten gibt. Das ist sehr wichtig. Irgendwann ist es dafür zu spät.“

„Es ist schön, dass ‚wir’ angeblich viele sind, aber wie weiter?“

Laura Rieger, 26, ist Projektmanagerin beim Netzwerk für Demokratische Kultur in Wurzen, 30 Kilometer entfernt von Leipzig.

Laura Rieger findet: Die Demos und Konzerte in Chemnitz sind ein Anfang.

Laura Rieger findet: Die Demos und Konzerte in Chemnitz sind ein Anfang.

Fotos: Privat / AP / Collage: jetzt.de

„Ich habe statt #wirsindmehr #wannwennnichtjetzt als den passenderen Hashtag empfunden. Es ist schön, dass „wir“ angeblich viele sind, aber wie weiter? Wir brauchen Strategien, um Diskriminierungen entgegenzuwirken. Chemnitz beschäftigt auch die Schülerinnen und Schüler, mit denen wir momentan arbeiten. Darüber müssen wir reden und ein differenziertes Bild zeigen. Es kommt derzeit häufig zu Homogenisierungen und Pauschalisierungen wie „die“ oder „wir“, wie auch im Fall von Chemnitz.

Ich arbeite vor allem in Projekten für Kinder und Jugendliche. Wir diskutieren an den Schulen mit Kindern und Jugendlichen, bieten ihnen den Raum, ihre eigenen Themen zu setzen, laden Gäste ein, zum Beispiel Bürgermeisterinnen und Bürgermeister.

Ich finde es wichtig, über ein humanistisches Weltbild zu sprechen. Das kommt in der Schule und allgemein viel zu kurz. Viele Vorurteile und Ängste beruhen ja nur auf unzureichenden Informationen, dem muss man mit Fakten und Statistiken begegnen und Möglichkeiten der Selbstreflexion bieten. Es ist wichtig, offen und im Gespräch zu bleiben. Aber man muss sich auch gemeinsam dazu entschieden, sich gegen menschenverachtende Einstellungen zu positionieren. Da sind Konzerte wie in Chemnitz natürlich ein Anfang.“

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