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Männer, warum lasst ihr euch Corona-Bärte wachsen?

Illustration: Daniela Rudolf-Lübke

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Liebe Männer im Homeoffice,

ja, wir meinen ganz explizit nur euch. Nicht all die Männer, die (genauso wie mindestens ebenso viele Frauen) immer noch täglich raus müssen, um Menschen oder unsere Gesellschaft zu retten, in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in Supermärkten und Apotheken, im Müllauto und an der Tankstelle. Die haben nämlich keine Zeit und keine Nerven für modische Experimente, genauso wenig wie die, die gerade um ihre berufliche und finanzielle Existenz bangen müssen. Wir meinen also euch, die ihr daheim in Jogginghosen vorm Laptop oder dem neuen Riesenbildschirm sitzt, den die Firma euch hat zukommen lassen, da brav euren Job macht, und den Rest des Tages mit Social Distancing und Netflix verbringt, eventuell auch mit Partner*in oder Kindern. In jedem Fall geht es euch aber ganz okay und wie okay, das merkt man unter anderem daran, wie eure Gesichter grade aussehen.

Damit meinen wir jetzt nicht, dass ihr keine Druckspuren von Schutzbrillen habt, sondern, dass sich plötzlich viele von euch einen Bart stehen lassen. Keine Angst, wir wissen das nicht, weil wir das Social Distancing ignorieren und bei allen unseren Freunden klingeln, um ihre Oberlippen, Wangen und Kinne zu untersuchen, wir sind ja nicht verrückt! Nein, wir haben bloß selbst Partner, Brüder oder sonstige Mitbewohner in verschiedenen Bart-Stadien daheim sitzen oder hören in Erzählungen von Freund*innen und Kolleg*innen, dass ihre Männer da jetzt was sprießen lassen würden. Auch auf der Straße fällt auf, dass recht viele Männer unrasiert aussehen, und manchmal sehen wir einen von euch in einer Videokonferenz oder in einer Instagram-Story und denken: „Huch, das Gesicht sieht aber irgendwie anders aus.“

Eigentlich kennen wir dieses Bartwachsenlassen ja eher von Urlaubsreisen

Wir hören und sehen dann, wie unterschiedlich der Bartwuchs so ausfällt und dass sie euch manchmal gut, manchmal aber auch gar nicht so gut steht, diese voluminöse Gesichtsbehaarung oder, je nachdem, diese – ein Zitat aus einem der erwähnten Gespräche – „löchrige Matte“.

Obwohl „Quarantäne“ ein Begriff ist, der dieser Tage zu schlampig gebraucht wird (die meisten von uns sind ja in keiner, wir sollen bloß so viel wie möglich daheim bleiben), nennen wir diese Matten, egal wie voll oder löchrig, eure „Quarantäne-Bärte“. Und da steckt auch gleich schon zwei Mal der Anfang der Frage drin, die sich uns dazu stellt: „Äh ... was soll das?“ Denn eigentlich kennen wir dieses Bartwachsenlassen ja eher von Urlaubsreisen, auf denen ihr gerne mal den verwegenen Traveller-Look testen wollt oder halt den Rasierer daheim gelassen habt, um Gepäck zu sparen. Oder aus der Elternzeit, in der ihr auch viel daheim seid und von beruflicher „ordentlich aussehen“-Pflicht entbunden seid. Aber sowohl Urlaube als auch Elternzeit sind ja schöne, besondere Anlässe. Und jetzt leben wir zwar auch in einer besonderen, aber sicher nicht in einer schönen Zeit.

Warum also lasst ihr euch ausgerechnet jetzt Bärte wachsen? Könnt ihr euch so selbst vorgaukeln, dass ihr in einer selbstgewählten Isolation seid? Beruhigt es euch, in diesem riesigen Chaos, in dem wir alle stecken, irgendwas selbst im Griff zu haben, und wenn es nur die eigene Bartfrisur ist, die ihr stutzen und formen könnt? Denkt ihr euch: „Wenn ich eh nicht zum Friseur kann, schau ich doch mal, wie ich insgesamt so zuwachse?“ Seid ihr einfach überfordert von der Situation und froh, wenn ihr irgendwas weglassen könnt, zum Beispiel eine Rasur? Ist euer Bart ein Pendant dazu, dass viele Frauen jetzt wochenlang auf Make-up verzichte, denn fürs Einkaufen braucht man ja wirklich keinen Lippenstift auftragen – und wenn man dann auch noch Maske trägt, sieht man ihn eh nicht? Und apropos Maske, fühlt ihr euch durch den Bart womöglich geschützter? Oder ist der nicht im Gegenteil total unhygienisch? 

Ist das Ganze ein Zeichen dafür, dass ihr euch gehen lasst, nicht klarkommt, Zuwendung braucht, jemanden, der*die euch eine ordentliche Hose anzieht und das Rasiermesser ansetzt (jaja, benutzt kein Mensch, wir finden das Bild aber so schön!)? Oder haben eure Quarantäne-Bärte einen ganz anderen Grund, auf den wir ohne eure Hilfe niemals kommen würden?

Helft uns und erklärt doch mal!

Eure Frauen ohne Bartwuchs

 

Die Antwort:

Liebe Frauen im Home-Office,

die ihr Zeit habt, diese Antwort zu lesen – auch das ist ja aktuell ein Privileg. Entschuldigung erst einmal unsere späte Antwort. Wir hatten uns eigentlich schon vor Stunden an diesen Text gesetzt, uns dann aber nachdenklich durch unsere „löchrige Matte“ (pah!) gestrichen und uns in der wohltuenden Weichheit verloren. Nach etwas kraulender Kontemplation haben wir jetzt allerdings beschlossen, die Ereignisse der vergangenen vier Wochen zu rekonstruieren, die uns an diesen Punkt gebracht haben. 

Woche 1: Faulheit

Ganz ehrlich: Mit Faulheit hat es angefangen. Wer anderes erzählt, der lügt oder hat seinen Quarantäne-Bart erst wachsen lassen, als sich die Quarantäne-Bart-Pioniere schon in Woche zwei befanden und damit ein Quell der Inspiration waren. Denn in Wahrheit hat bei den meisten Männern an Tag eins alles mit der Feststellung begonnen: „Hm. Home-Office. Vielleicht rasiere ich mich ausnahmsweise nicht.“ 

Tag zwei und drei liefen ähnlich, wobei sich etwas schlechtes Gewissen dazu mischte – gerade nachdem wir in den Konferenz-Calls mit den Kolleg*innen Sätze sagten wie: „Komisch, aber meine Kamera funktioniert nicht“ oder: „Jetzt läuft die Kamera, aber das Internet bricht immer zusammen, wenn sie an ist.“ An Tag vier und fünf war dieses Narrativ immerhin verankert. Keine Nachfragen. Wochenende. Puh.

Woche 2: Ausprobieren

Wir haben am Wochenende in sozialen Medien gesehen, dass wir nicht alleine sind. Auch Promis rasieren sich nicht, so wie der Komiker Jim Carrey. Er ruft uns auf Twitter zum Mitmachen auf bei dieser „sinnlosen Transformation“. Und warum eigentlich nicht? #QuarantineBeards: die sozial akzeptierte Erklärung für die direkten Kolleg*innen. Der Katalysator für Bart-Experimente aller Art.

Wir konnten dabei auch feststellen, dass der Quarantäne-Bart zahlreiche Vorteile gegenüber dem Urlaubs-Bart hat, den ihr erwähnt habt. Am wichtigsten vielleicht: Er zerstört keine idyllischen Sonnenuntergangs-Knutsch-Fotos und verhindert Dialoge wie diesen aus dem Sommer 2018:  

Ich: „Und hier sieht es aus, als würde ich den schiefen Turm von Pisa stützen.“

Meine Familie: „Und was ist das in deinem Gesicht?“

Oder diesen aus dem Sommer 2019: 

Ich: „Und hier treibe ich im Toten Meer und lese Zeitung. Verrückt.“

Meine Familie: „Und was ist das in deinem Gesicht?“

Das kann uns im Home-Office nicht passieren. Denn mal ehrlich: Wer macht Fotos aus dem Home-Office? (Abgesehen vom aufregenden Tag eins: „Haha, hier esse ich normalerweise. Jetzt schreibe ich hier E-Mails.“) 

Woche 3: Zweifel

Der Bart macht Spaß. Toller Zeitvertreib vor dem Spiegel, in der Spiegelung des Laptops, des Fensters. Wir haben ihn shampooniert, etwas zurechtgestutzt, wieder ein paar Minuten rumgebracht. Aber wir fragen uns jetzt doch auch: Ist eine globale Pandemie der richtige Zeitpunkt dafür? Online lesen wir, dass wir vielleicht Bartöl verwenden sollten, um ihn zu pflegen. Aber ist der Weg in den Drogeriemarkt, raus aus der sozialen Isolation, das wert? Auf diversen Onlineportalen sehen wir außerdem, was wir ohnehin schon befürchtet hatten:  Wir fassen uns deshalb die ganze Zeit ins Gesicht, was wir eigentlich nicht sollten. Und: Wer Bart trägt, sollte vielleicht überlegen, wie eine Atemschutzmaske damit zusammenpasst

Woche 4: Framing

Nein, damit meinen wir nicht, dass wir begonnen haben, unsere Bärte kreativ zu trimmen. Sondern, dass der Bart für uns kein Zufall mehr ist. Kein Symbol unserer Faulheit. Keine „sinnlose Transformation“. Wir wissen jetzt, dass wir Männer sind, die Großes vorhaben – und solche Männer lassen sich schon seit Jahrhunderten ihre Bärte wachsen. Sie zeigen damit, wie sehr sie auf ihr eigentliches Ziel fokussiert sind. Sie zeigen, dass sie Teil einer Schicksalsgemeinschaft mit anderen Männern sind, die alle vor der gleichen Herausforderung stehen. Unser Bart ist jetzt ein „Quest Beard“, ein „Aufgaben-Bart“. So nennt ihn zumindest der Historiker Christopher Oldstone-Moore aus den USA.

Eine moderne Form des „Quest Beard“ kennt man etwa von Sportmannschaften unter dem Schlagwort „Play-Off Beard“: Wenn sich ganze Teams nicht mehr rasieren, solange sie noch Chancen auf einen Titel haben. Man kennt ihn aber auch vom urbanen, aufgeklärten Mann von Uni, der ihn wachsen lässt, während er in seiner Masterarbeit den Einfluss der AfD auf das deutsche Parteiensystem ein für alle mal aufklärt (irgendwer muss es ja tun!). 

„Warum sollen wir Home-Office-Männer also nicht die Corontäne damit überbrücken?“, denken wir. Die Erklärung mag vielleicht hoch gegriffen klingen, der Bart sinnlos wirken, aber das neue Framing hilft uns ab jetzt doch psychologisch: Wir Home-Office-Männer haben ja sonst nicht viel direkt zur Corona-Lösung beizutragen, als zu Hause zu bleiben. Und was zeigt besser, dass wir diese Aufgabe ernst nehmen? Dass wir nicht viel unter Menschen waren? Richtig. Unsere löchrigen Matten.  

Und so sitzen wir jetzt hier, sagen danke, dass ihr euch Sorgen um uns macht und wollen entwarnen: Alles ist gut, alles wird gut. Auch das mit unseren Bärten. Nur eines sollten wir uns alle zusammen vornehmen: Lasst uns das Gesundheitssystem nicht zusätzlich belasten – durch Rasiermesser in falschen Händen. 

Eure Männer

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