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„Ich bin 24 Jahre alt und war noch nie im Osten Deutschlands“

Unsere Autorin, Tabea, kommt aus dem Ruhrgebiet. Vor ihrer Reise nach Görlitz war sie noch nie in Ostdeutschland.
Foto: Tabea Mirbach Bearbeitung: jetzt

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Die Fahrt nach Görlitz ist, sobald man die Grenzen des Ruhrgebiets verlässt, vor allem eins: ruhig. Je weiter ich Richtung Osten fahre, desto leerer wird die Autobahn. Keine Staus und auch kein durchgängiges Tempolimit. Die Farbe der Straßen ist hier anders: von asphalt-schwarz über hellgrau bis leicht rötlich ist alles dabei. Keine Autobahn, die bereits alle zehn Kilometer geflickt wurde. Im Gegensatz dazu erscheint mir das Ruhrgebiet, besonders Gelsenkirchen, wo ich eigentlich studiere und wohne, eine einzige Baustelle zu sein. Ich bin in einem kleinen Dorf in der Nähe der niederländischen Grenze aufgewachsen – westdeutscher geht es kaum, jedenfalls geografisch. Von dort aus starte ich meine Reise. Bis nach Görlitz sind es 712 Kilometer. Einmal quer durch Deutschland. Von der einen Grenze zu der anderen.

Ich bin 24 Jahre alt und war noch nie im Osten Deutschlands. Es hat sich bis jetzt schlichtweg einfach nicht ergeben. Ich habe in Gelsenkirchen studiert. Daran gedacht, NRW zum Studieren zu verlassen, habe ich nie. Dafür hatte mir meine Heimat zu viel zu bieten. Als ich 2015 Abi gemacht habe, lief die große Imagekampagne „Studieren in Fernost“, mit der Studierende nach Ostdeutschland gelockt werden sollten, gerade aus.

Nun gibt es also seit 30 Jahren keine Mauer mehr und ich habe keine Ahnung, wie es im Osten von Deutschland aussieht, geschweige denn, wie es sich dort lebt. Das will ich ändern. Ich will über meine traurigen Vorurteile von Nazis und Armut im Osten nachdenken. Deswegen treffe ich mich in Görlitz auch mit Studierenden, die wie ich aus Westdeutschland kommen. Ich will von ihnen wissen, ob sich ihre Einstellung zur Ost-West-Debatte durch ihr Leben dort verändert hat.

Sieben Stunden brauche ich nach Görlitz. Sobald ich Nordrhein-Westfalen verlasse, wird es ländlicher. Wälder, Felder und kleine Städte erstrecken sich auf einer Hügellandschaft. Keine riesigen Firmen entlang der Autobahnen, die ihre Abgase in dicken Wolken in die Luft pusten, wie man es von vielen im Ruhrgebiet kennt. Am Nachmittag erreiche ich Görlitz, die östlichste Stadt Deutschlands. 55 000 Einwohner*innen, davon sind rund 3 000 an der Hochschule Zittau/Görlitz eingeschrieben. Es waren schon einmal 1 000 mehr.

340 Euro für eine Einzimmerwohnung

Noch am gleichen Abend treffe ich Damian, 23, aus Mülheim an der Ruhr. Er studiert in Görlitz im siebten Semester Kommunikationspsychologie. Wir wollen bei ihm etwas trinken, er wohnt nur zwanzig Minuten zu Fuß von meiner Unterkunft entfernt. „Das ist auch ein Vorteil von Görlitz. Ich habe erst noch gehadert, ob ich wirklich in eine Kleinstadt ziehen möchte. Aber hier kann ich zu allen Freunden innerhalb von 20 Minuten zu Fuß hingehen, zur Uni und nach Polen genauso“, erzählt er mir später.

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Damian hat Tabea in seiner Wohnung besucht. Auf dem Arm sieht man sein Geschwister-Tattoo.

Foto: Tabea Mirbach

Auf dem Weg zu Damian kann ich mir die Stadt ein wenig anschauen. Die Altbauhäuser entlang der Kopfsteinpflasterstraßen sehen im gelben Schein der Straßenlaternen noch eindrucksvoller aus. Prunkvolle Verzierungen an den Fensterrahmen und Türen werfen ihre Schatten auf die Wände. Zwischen den pompösen Häusern taucht auch immer wieder ein heruntergekommener, leerstehender Altbau auf, der hier komplett deplatziert wirkt. Ein Gebäude hat zerbrochene Scheiben, die Fenster sind von innen mit Brettern zugenagelt. Würde das Gebäude in NRW stehen, würden die Mietpreise dafür durch die Decke gehen. Hier nicht. Damian wohnt in Görlitz allein auf 50 Quadratmetern und zahlt dafür ungefähr 340 Euro. So viel zahle ich in Gelsenkirchen für mein WG-Zimmer – und Gelsenkirchen ist keine beliebte Stadt zum Wohnen.

In Damians Wohnzimmer zwitschern seine zwei Kanarienvögel Melenor und Lolita. Sie leisten ihm Gesellschaft, damit er sich nicht allein fühlt. Seine Wände sind über und über mit Fotos dekoriert. Von seinen Freunden und vor allem von seiner Familie. Die vermisse er besonders: „Ich bin ein krasser Familienmensch. Die Zeit zwischen Sommer und Winter ist die längste Zeit, in der wir uns nicht sehen. Wenn ich dann zuhause bin, ist es auch dringend notwendig,“ erzählt er und zeigt mir sein Heißluftballon-Tattoo auf dem Arm. Das hat er sich zusammen mit seinen Geschwistern stechen lassen.

„Jetzt sage ich schon Westdeutschland, als würde es noch eine Grenze geben“

Damian ist nach Görlitz gegangen, weil der Studiengang ihm dort am besten gefiel. Seine Alternative war Trier. Allerdings hatte er Angst, dort etwas zu verpassen. „Schließlich kenne ich Westdeutschland schon“, sagt er und schiebt hinterher: „Jetzt sage ich schon Westdeutschland, als würde es noch eine Grenze geben – total dumm.“ Damian und seine Freunde versuchen, diese Begriffe nicht zu benutzen, sondern stattdessen „ehemals Ost-/Westdeutschland“ zu sagen. „Wir haben immer noch Vorteile gegenüber dem ehemaligen Osten und schauen auf die Unterschiede, weil wir sie immer wieder hervorheben und zwischen Osten und Westen differenzieren“, sagt Damian. In seinem Studium lernt er unter anderem, welch starken Einfluss Wörter auf uns haben. Ehrlich gesagt habe ich noch nie darauf geachtet, welche Wörter ich benutze, aber er hat in meinen Augen recht. Nach diesem Einwurf von ihm versuche ich meine Fragen anders zu formulieren. 

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Die Altstadt von Görlitz, im Hintergrund ist der Rathausturm zu sehen.

Foto: Tabea Mirbach

Für Damian werden außerdem manche Probleme einfach falsch interpretiert: „Es wird immer wieder gesagt, dass im Osten weniger verdient wird. Ja, natürlich verdient man hier viel weniger. Dafür zahle ich aber auch nur die Hälfte für meine Wohnung und dafür sind hier zum Beispiel die Straßen super. Bei meinen Eltern muss man bei jedem Schlagloch aufpassen, dass man sich kein Bein bricht“, erzählt er. Aus dieser Perspektive habe ich noch nie über die Vorurteile gegenüber dem ehemaligen Osten nachgedacht.

Als Damian nach Görlitz zog, hatte er keine Bedenken wegen der Stadt. Eher wegen des Bundeslandes Sachsen, in dem viele Menschen die AfD wählen. „Seitdem ich hier lebe, kann ich aber zum Teil die AfD-Wähler*innen verstehen. Bei den Wahlen waren sie die einzigen, die auf der Straße mit den Leuten geredet haben. Die sprechen die Probleme direkt auf der Straße an und die Menschen fühlen sich wahrgenommen“, sagt Damian. In seiner studentischen Blase bekommt er von der AfD nichts mit, dort teilt niemand rechtes Gedankengut. Seine Erzählungen kommen mir bekannt vor: Auch im Ruhrgebiet hat die AfD bei den Landtagswahlen 2017 Rekordergebnisse erzielt und das vor allem in Gelsenkirchen, der Stadt, mit der höchsten Arbeitslosigkeit in Deutschland. Zwar waren bei uns noch andere Parteien auf der Straße, die AfD war aber besonders aktiv.

Langfristig will Damian dennoch nicht in Görlitz bleiben. Er will zurück zu seiner Familie. Tatsächlich ist das für Görlitz ein Problem: Junge Menschen ziehen dort weg, der Bevölkerungsdurchschnitt wird immer älter. Viele kommen wegen des Studiengangs und nicht wegen der Stadt, so wie Damian.

„Viele junge Leute gehen hier bedachter mit Geld um”

Am nächsten Tag treffe ich mich mit Valerie an der Hochschule. Sie kommt ursprünglich aus Mönchengladbach im Rheinland und ist, wie Damian, für den Studiengang Kommunikationspsychologie hergezogen. Als ich vor dem Haupteingang der Hochschule stehe, komme ich mir eher vor als stünde ich vor einer Grundschule, so klein ist sie. Das alte Hauptgebäude wird durch einen modernen Anbau und die Mensa ergänzt. Dort finde ich Valerie schnell, der Campus ist sehr übersichtlich und aktuell ist wenig los. Für sie macht es keinen Unterschied, ob sie in Ost- oder Westdeutschland studiert. „Ich finde es irgendwie schwierig, so über Osten und Westen zu reden. Es gibt keine Grenze mehr“, sagt sie. Für sie sind die günstigen Mieten ein Grund, in Görlitz zu studieren. Und die Nähe zu Polen. Dort tankt sie immer, weil es dort viel billiger ist. Valerie lebt und studiert seit einem Jahr in Görlitz. Allgemein wirkt sie auf mich sehr unabhängig, im Vergleich zu Damian vermisst sie die Heimat nicht so sehr. Görlitz ist für sie das, was man draus macht.

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Tabea hat Valerie auf dem Campus getroffen und sie hat ihr die Hochschule gezeigt.

Foto: Tabea Mirbach

Valerie zeigt mir einen der größeren Vorlesungsräume. Ein kleiner heller Raum mit ungefähr 50 Sitzplätzen. Sie sagt, dass sie keine großen Unterschiede zwischen ihrer Heimat in NRW und Sachsen spürt, außer was den Umgang mit Geld und Konsum angeht: „Ich kenne hier viele junge Leute, die bedachter mit Geld umgehen. Das wurde ihnen wahrscheinlich von den Eltern mitgegeben, die hier aufgewachsen sind. Auch, dass man Dinge noch reparieren kann, anstatt sie wegzuwerfen und dann neu zu kaufen.“ In meinem Umfeld habe ich viele Freunde, die sehr nachhaltig leben oder es versuchen. Also auf Plastik verzichten, Dinge reparieren oder Secondhand kaufen, anstatt etwas Neues. Allerdings nehme ich nicht wahr, dass dabei jemand sonderlich auf Geld achtet. Nachhaltig leben ist für sie eher ein Luxus als eine Notwendigkeit aufgrund des niedrigen Einkommens. Andererseits haben wohl die meisten Studierenden kaum Geld, egal, wo sie studieren.

„Hier sieht es etwas runtergekommen aus, weil viele Häuser leer stehen”

Abends bin ich noch mit Simon verabredet. Der 27-Jährige kommt aus dem Raum Freiburg und studiert hier Heilpädagogik. Wir treffen uns in einem Bistro in der Altstadt. Simon musste sich dafür vorher bei Freunden erkundigen, wo man in Görlitz ausgehen kann. In einer Ecke am Fenster sitzt ein einziger Mann, der an seinem Laptop arbeitet. Ansonsten sind wir mit der Kellnerin alleine. Gedämmtes Licht und Vintage-Möbel sorgen für die Nostalgie im Altbau. Simon will im Februar seine Bachelorarbeit schreiben. Innerhalb der dreieinhalb Jahre, die er hier schon wohnt, ist er nicht warm mit der Stadt geworden und sieht die Dinge etwas kritischer als Damian und Valerie. „Freiburg hat einen grundlegenden Charme, den Görlitz nicht hat. Hier sieht es etwas runtergekommen aus, weil viele Häuser leer stehen. Die Menschen sind eher verschlossen. Klar, es gibt auch coole Leute hier und ich will mich nicht beklagen, aber es ist einfach nicht meine Stadt“, sagt er. Simon trägt eine Schiebermütze und hat sich ein Pils bestellt. Neben ihm steht sein großer Rucksack, er kommt direkt von der Arbeit bei einer Wohngemeinschaft. Dort hat er auch viel mit älteren Menschen zu tun und trifft einige, die sich die Mauer zurückwünschen und sagen: „Es war ja nicht alles schlecht in der DDR. Krankenversicherungen waren zum Beispiel kostenlos und die Medikamente bekam man auch umsonst.“

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Eine alte Produktionsfabrik mitten in Görlitz steht zum Verkauf.

Foto: Tabea Mirbach

Simon kann das teilweise nachvollziehen. Trotzdem findet er, dass man durch die anhaltende Ost-West-Debatte die Unterschiede nur weiter aufrechterhält. Mir fällt auf, dass alle, mit denen an diesem Wochenende geredet habe, diese Meinung teilen. Nur bei mir zuhause, im Ruhrgebiet, habe ich das so bisher kaum gehört. Die Unterscheidung zwischen Ost und West und somit die Mauer in unserem Kopf wird einfach so hingenommen und nicht hinterfragt.

Am Ende muss ich meine Vorurteile gegenüber dem Osten überdenken

Simon erzählt, dass auch er Momente hat, in denen er spürt, dass Ostdeutschland oft nicht mitgedacht wird. „Das merkt man schon an so Kleinigkeiten wie bei Ärzten. Für die, die in Rente gehen, kommen keine nach“, erzählt er. Er findet: Diese Tatsachen machen Ostdeutschland als dauerhaften Wohnort unattraktiv. Trotzdem will er nach dem Studienabschluss noch eine Weil in Görlitz bleiben, er dort bereits einen Job hat.

Als ich am Ende des Wochenendes zurück nach NRW fahre, kreisen meine Gedanken um Görlitz. Die Stadt ist voller Kontraste. Auf der einen Seite die schöne Fassade einer alten Stadt mit Geschichte. Auf der anderen Seite der Leerstand, der Ärztemangel. Aber sind das wirklich „ostdeutsche“ Probleme? An diesem Wochenende habe ich gelernt: Nein. Diese Probleme gibt es ja nicht nur hier, sondern überall in den ländlichen Gegenden von Deutschland. Das sagt auch eine Studie des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Und auch andere Vorurteile von mir haben sich nicht bestätigt. Statt viele Hakenkreuze oder andere nationalistische Symbole habe ich viel mehr „Fck Nzis“- Tags in der Stadt gesehen. Auch die angebliche Armut ist gleichzusetzen mit der, die ich in Gelsenkirchen miterlebe. Zum Beispiel viele leerstehende Geschäfte in der Stadt und die langen Schlangen vor dem Jobcenter. Das Wochenende hat mich zum Umdenken gebracht. Indem man diese Vorurteile und Probleme als Unterschiede zwischen dem „Osten“ und „Westen“ betitelt, bleibt die Grenze in unseren Köpfen bestehen.

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