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Die Zahl der Syphilis-Erkrankungen steigt

Illustration: Julia Schubert

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Am liebsten würde sich Laurin verstecken, bis es vorbei ist. Er liegt in seinem Bett und zittert. Er hat Fieber und weiß nicht, was mit ihm passiert. Er will seinen Mitbewohner um Hilfe rufen. Er will es jemandem sagen, jetzt. Aber er traut sich nicht. Er schämt sich. „Das Wort allein ist schrecklich“, sagt er 31-Jährige heute. Syphilis.

Dabei müsste es nichts peinliches sein. Geschlechtskrankheiten sind auch nur Bakterien und Viren. Aber wann hört man jemanden schon lässig in der Kneipe smalltalken: Letztens, richtig nervig, hatte ich schon wieder Genitalwarzen! Sexualkrankheiten sind ein Tabu. Kaum jemand spricht darüber. Besonders nicht über die Syphilis. Aus dem Altgriechischen könnte man das Wort auch mit „Schweine liebend“ übersetzen. Und auch wenn das natürlich Quatsch ist – die Syphilis wird beim ungeschützen Geschlechtsverkehr zwischen Menschen übertragen – damit will niemand was zu tun haben. Es ist eine Krankheit, die Menschen früher hatten, aber nicht heute.

Mehr als 7000 Menschen haben sich 2018 in Deutschland angesteckt

Auch Samuel, 36, hatte Syphilis. „Ich habe die Krankheit mit Prostitution verbunden“, sagt er. Dann infizierte er sich selbst. Zwei Mal. Seitdem ist da immer die Sorge, auch wenn er nur einen Schnupfen hat: Was, wenn es wieder Syphilis ist? Ihm war klar, früher oder später muss er es seiner Familie sagen.

Laurin und Samuel, die beide nicht mit ihrem echten Namen genannt werden wollen, gehören zu 7336 Menschen in Deutschland, die sich im vergangenen Jahr mit Syphilis infiziert haben. Zu Beginn des Jahrtausends waren es noch weniger als 2000. Die exakten Zahlen gibt es, weil jeder entdeckte Infektion mit Syphilis beim Robert-Koch-Institut gemeldet werden muss. Die Syphilis galt eigentlich schon als besiegt, seitdem Ärzte sie mit Penicillin behandeln konnten. Aber in den vergangenen Jahren stiegen die Infektionen stark an. Dafür sehen Ärzte viele Ursachen. Eine davon: Das Sexleben hat sich verändert. Menschen reisen und haben Sex mit zunehmend wechselnden Partnern auf der ganzen Welt.

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Infografik: Julia Schubert

Samuel weiß nicht genau, bei wem er sich infiziert hat. Nach der Ansteckung können Wochen und Monate vergehen, bis sich Symptome zeigen. Außerdem hatte er viele verschiedene Sexpartner. Laurin hat einen Verdacht. Seine Krankheitsgeschichte beginnt im Urlaub. Als er in seinem Hotel in Lissabon aufwacht, schlafen seine Freunde noch. Er öffnet die Dating-App auf seinem Handy und sieht, dass ihm ein Mann geschrieben hat. Er gefällt Laurin. Und er ist in seiner Nähe, zeigt die App an.

Vor einigen Jahren noch, sagt Laurin, sei er sexuell zurückhaltend gewesen. Dann zog er zum Studium nach Frankfurt und fühlte sich frei. Er ging auf Partys. Erst gab es nur einen engen Kreis von Männern, mit denen er Sex hatte. Bis er Dating-Apps entdeckte. „Und dann ging die Post ab.“ Heute ist er 31 Jahre alt und sagt, er habe mit zwei bis drei Männern Sex. In einer Woche.

 Dating-Apps verändern unser Sexleben

„Früher musste man in der Bar jemanden ansprechen, heute kann man sich per App zum Sex verabreden“, sagt Christoph Spinner. Er ist Facharzt für Innere Medizin und Infektiologe am Klinikum rechts der Isar in München. Nur ein paar Klicks und Swipes. Dating-Apps machen es heute leichter, mehr Sexpartner zu haben, überall auf der Welt. Mehr Partner, höheres Risiko.

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Infografik: Julia Schubert
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Infografik: Julia Schubert

Vor allem Männer, die Sex mit Männern haben, infizieren sich mit Syphilis. 2018 machten sie rund zwei Drittel aller Infizierten aus. Nur sechs Prozent der Infizierten sind Frauen. Studien zeigten, so Spinner, dass deutlich weniger homosexuelle Männer Kondome benutzten, als früher. Das liege auch daran, dass die Angst vor Aids heute nicht mehr so groß sei. HIV ist gut behandelbar. Es gibt sogar ein Medikament, die sogenannte Prep, das selbst ohne Kondom vor einer HIV-Infektion schützt. Aber eben nicht vor anderen Geschlechtskrankheiten.

An dem Morgen in Lissabon besucht Laurin den Mann in seiner Wohnung. Sie liegt zentral, ist ordentlich, schick. Der Mann ist sportlich, gepflegt, nett. Laurin fühlt sich sicher. Sie haben Sex. Laurin sagt, er benutze immer ein Kondom, auch an diesem Morgen. Allerdings nicht beim Oralsex. „Es war ein schönes Erlebnis“, sagt er heute. Nur ahnte er damals noch nicht, was auf ihn zukommen würde.

Die Syphilis kann sich schon bei Oralverkehr und sogar beim Küssen übertragen. Oft bildet sich bei Infizierten ein Ulkus, ein Geschwür. Die Haut wird hart, schwillt an und in der Mitte entsteht eine Mulde. Daraus kann eine Flüssigkeit austreten, in der die Bakterien hochkonzentriert sind. Treponema Pallidum ist ein Bakterium, das aussieht wie ein langer, schraubenartig gedrehter Wurm. Es braucht nur einen kleine Verletzung und das Bakterium kann beim Sex oder Petting durch die Haut eindringen. Wo die Bakterien eintreten, bildet sich ein Ulkus. Meistens im Genitalbereich oder am Anus, aber auch im Mund. Das heimtückische: Ein Ulkus kann so verborgen liegen, dass die Erkrankten ihn selbst nicht bemerken. Sie spüren nichts, weil die Syphilis meist schmerzlos verläuft – anfangs.

Samuel bemerkte bei seiner ersten Infektion keine besonderen Symptome. Zum Zeitpunkt der Infektion hatte er im Monat mehrere Sexpartner. Die Diagnose bekam er im Rahmen eines Routine-HIV-Tests. Der Arzt sagte ihm: „Alles gut, kein HIV. Aber Syphilis.“ Samuel dachte, er war doch immer vorsichtig. Er hatte nicht gedacht, dass er eine Geschlechtskrankheit haben könnte. Er war zwar ständig müde, hatte Halsschmerzen. Aber: „Das könnte irgendetwas sein.“

Das Chamäleon unter den Geschlechtskrankheiten

Christoph Spinner sagt, manchmal käme selbst Ärzten nicht der Verdacht, ein Patient könnte Syphilis haben. Denn sie kann den Körper an den verschiedensten Stellen angreifen. Es ist, als würde die Syphilis andere Krankheiten nachahmen. Symptome können verschwinden und wieder auftauchen. In der Forschung heißt die Syphilis deswegen auch das Chamäleon.

Einen Monat nach dem Treffen mit dem Mann in Lissabon ahnt Laurin schon, dass er eine Geschlechtskrankheit hat. An seinem Penis löst sich Haut ab. Er kann es nicht glauben. Das ist ihm noch nie passiert. Und er kennt auch unter seinen Freunden niemanden, dem sowas passiert ist. „Eigentlich reden wir über alles, auch Sexualpraktiken. Aber wenn es zu sowas kommt – nein.“

Er geht zum Infektiologen. Zwar hat Laurin keine eindeutigen Symptome, die Haut am Penis könnte auch einfach nur trocken sein, aber der Arzt vermutet, dass es Syphilis ist. Er macht einen Bluttest. Das Ergebnis bekommt Laurin erst nach ein paar Tagen. Er fragt sich, was mit ihm passiert, wenn es wirklich Syphilis ist. Er googelt und findet Horrormeldungen.

Wenn man nichts gegen sie unternimmt, führt Syphilis häufig zum Tod. Die ersten Symptome wirken harmlos: Lymphknoten schwellen dort an, wo die Bakterien eingetreten sind, rote Flecken können am Körper entstehen, Haare ausfallen. Und dann, auf ein Mal, sind die Symptome weg. Einige Erkrankte heilen sogar spontan von alleine. Aber meistens geht es danach erst richtig los. Nach vielen Jahren kann die Syphilis das Herz befallen und die Wand der Hauptschlagader zum Platzen bringen. Sie kann Knochen verformen. Selbst das Nervensystem kann sie angreifen, nicht mal der Verstand ist vor ihr sicher.

Muss man vor der Syphilis Angst haben? Nein, sagt Christoph Spinner. Sie ist heute gut behandelbar, in der Regel auch in späteren Stadien. Gegen das spezielle Antibiotikum, ein besonders lang wirkendes sogenanntes Depot-Penicillin, haben die Bakterien keine Chance. Die Syphilis wird zunehmend in früheren Stadien erkannt. Aber: Menschen, die zur Risikogruppe gehören, also häufig Sex mit wechselnden Partnern haben, sollten sich regelmäßig testen lassen.

Syphilis ist heute gut behandelbar

Tatsächlich ist Laurins erster Syphilis-Test negativ. Bald heilt auch die Stelle am Penis von allein. Laurin hat wieder Sex. Davor hatte er keine Verabredungen mehr. „Ich wollte niemanden anstecken.“ Monatelang geht es gut, doch dann hat er genau dasselbe Problem mit der Haut. Er geht wieder zum Arzt.

Samuel beschließt schon nach seiner ersten Syphilisinfektion, dass er es nicht länger für sich behalten kann. Er ist ständig krank. Hat Angst, dass er andere angesteckt hat, fühlt sich schuldig. Seinem bestem Freund hat er es schon erzählt. Der war alarmiert: „Ich will keine Blumen an dein Grab legen.“

Laurin sitzt auf der Couch in seiner WG, als der Arzt anruft. „Können wir kurz reden?“, fragt der Arzt und Laurin hört ihm zu. „Scheiße“, schreit er und im gleichen Moment denkt er, gut, dass sein Mitbewohner in der Arbeit ist und ihn nicht gehört hat. Syphilis. Der Test ist positiv. Vermutlich war die Konzentration des Bakteriums in seinem Blut beim ersten Mal noch nicht hoch genug.

Zwei Tage später beginnt Laurin mit seiner Behandlung. Obwohl er keine Beschwerden hat, bildet er sich plötzlich ein, krank zu sein. Fieber. Hatte er nicht gelesen, dass es damit anfängt? In der Arztpraxis hat er das Gefühl, die Menschen sehen ihm an, was er hat. Er glaubt, sie denken: „Der ist unvorsichtig. Der hat sich sonst noch was eingefangen. Der ist gefährlich.“

Laurin muss an drei Terminen in die Praxis. Jedes Mal bekommt er zwei Spritzen in den Hintern. Er schämt sich. Der Arzt beruhigt ihn: „Jeder hat das Verlangen nach Intimität, das ist menschlich. Sowas kann da schon mal passieren.“ Als der Arzt ihm das Penicillin verabreicht, geht es Laurin noch gut. Auch, als er sich hinlegen und ausruhen soll, geht es ihm noch gut. Erst zu Hause beginnt er zu zittern.

Laurin liegt in seinem Bett. Es schüttelt ihn am ganzen Körper. Seine Hand zittert so sehr, dass er kaum aus seinem Glas trinken kann. Er weiß nicht, was los ist. „Ich dachte: Das war es jetzt.“ Er versucht, die Nummer der Praxis in sein Handy zu tippen.

Ein bisschen Angst bleibt immer

Laurin hat Schüttelfrost, weil das Penicillin die Bakterien in seinem Körper zerstört. Es sind so viele Bakterien, dass die Giftstoffe, die zurückbleiben, die Reaktion auslösen. Was Laurin durchmacht, ist die Jarisch-Herxheimer-Reaktion. Der Arzt sagt Laurin, er solle zurück in die Praxis kommen und sich Cortison holen. Aber Laurin schafft es in seinem Zustand nicht.

„In dem Moment habe ich mir gewünscht, dass jemand da ist.“ Seiner Familie kann er es aber nicht sagen. „Ich komme aus einem konservativen Elternhaus.“ Er will es seinem Mitbewohner sagen. Mit ihm spricht er beim Kochen in der WG-Küche über alles, fast alles. Trotzdem traut er sich nicht und bleibt in seinem Zimmer. Erst nach Stunden geht es Laurin besser.

Samuels Mutter besucht ihn in Frankfurt. Für Samuel die Gelegenheit, es ihr zu sagen. Er erwartet, dass sie ihn fragt, was er mit seinem Leben anstellt. Ihm sagt, dass er Probleme habe. Aber sie sagt: „Keine Sorge“. Sie ist interessiert, fragt ihn, wie die Behandlung war. Im Vergleich zu damals, als er sein Coming-Out hatte, sagt Samuel, sei es nicht schwer gewesen.

Als Samuel ein Jahr später tatsächlich zum zweiten Mal Syphilis hat, macht er sich weniger Sorgen. Er stellt sich die Diagnose quasi selbst. In seinem Mund sind viele kleine Geschwüre. Der Hausarzt sagt ihm, das sei eine Erkältung. Die Zahnärztin sagt ihm, das sei der Stress. Er geht zum Spezialisten – und der gibt ihm Recht. Syphilis, wieder. „Es kann passieren. Es ist eine Krankheit“, sagt Samuel. Trotzdem: Ein bisschen Angst bleibt immer.

Syphilis ist weder gut noch schlecht - sondern ein Bakterium

Ganz für sich behalten kann es Laurin am Ende auch nicht. In der Praxis sagte man ihm, er müsse es allen Personen sagen, mit denen er in den letzten Monaten Sex hatte. Laurin schickt Nachrichten. Er schreibt: „Hallo, wir haben uns vor ein paar Wochen getroffen. Bei mir wurde Syphilis festgestellt. Ich habe mit der Behandlung begonnen. Als wir uns getroffen haben, hatte ich keinen Verdacht auf Syphilis. Bitte sei mir nicht böse, ich wollte so offen sein, dich darüber zu informieren.“

Die Reaktionen auf seine Nachricht sind unterschiedlich. Ein Mann rastet aus, beleidigt ihn. Andere bedanken sich. Laurin hat auch dem Mann aus Lissabon geschrieben. Er antwortet, dass er sich testen lassen wird. Laurin hat nie wieder etwas von ihm gehört.

Schon drei Wochen nach seiner ersten Behandlung bekommt Laurin seine letzten Spritzen. Der Schüttelfrost bleibt diesmal aus. Seit fünf Monaten ist er wieder gesund. Sex hat er genauso oft wie früher. „Den ersten Monat nach der letzten Spritze war ich vorsichtig. Über-übervorsichtig.“ Er hatte Angst, sich beim Sex neu zu infizieren. Er will sich jetzt öfter testen lassen als früher. Bis heute hat er es nur einem Freund erzählt, einem Arzt, bei dem er sicher gehen konnte, dass er professionell damit umgeht.

Als Laurin vor Kurzem bei einem Freund zu Besuch ist, entdeckt er in dessen Zimmer die Verpackung eines Medikaments. Es ist genau das Penicillin, das auch er für seine Behandlung bekommen hat. Das muss nichts heißen, das Penicillin wird auch gegen andere Krankheiten eingesetzt, aber Laurin sagt, der Freund habe ein so aktives Sexleben wie er auch. Er glaubt, dass er nicht der einzige in seinem Freundeskreis sein kann, der eine Geschlechtskrankheit wie Syphilis hatte. Aber genau wie er selbst hat der Freund nie ein Wort darüber verloren. Er denkt, einer sollte den ersten Schritt machen. Aber keiner tut es. Dabei weiß Laurin, dass es nichts Besonderes sein müsste. „Syphilis ist kein gutes oder schlechtes Bakterium“, sagt er, „es ist einfach ein Bakterium.“

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