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Raclette bringt das Schlechteste im Menschen hervor

Foto: dpa

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Raclette gilt als harmonisches Essen. Alle können essen, was sie wollen, und man kommt miteinander ins Gespräch. In der Theorie. In Wirklichkeit ist Raclette eine Erfindung des Teufels. Ein Abend zwischen Mixed Pickles und Raclettekäse reicht, um einen Menschen zu allen sieben Todsünden zu verführen – und Liebe und Besinnlichkeit nachhaltig auszulöschen.

Pfännchen 1: Habgier

Bereits wenn die vielen kleinen Schüsselchen mit ihren Gürkchen, Oliven und Schinkenwürfeln gedeckt werden, meldet sich die teuflische Stimme von der Schulter: „Das reicht niemals für alle“, flüstert sie. „Siehst du die Miniwürstchen? Wie immer zu wenig! Und das Schweinefilet vom Grill kannst du dir auch abschminken. Das steht direkt vor Felix. Bei dem weiß zwar niemand, warum er jedes Jahr eingeladen wird, aber Schweinefilet wegfressen, das kann er.“ Spätestens in diesem Moment wird dir klar: Vor dir liegt eine Schlacht. Für einen kurzen Moment siehst du die Zukunft klar vor dir: wüst und öd der Tisch, die Schälchen verwaist. Nur, wer an sich denkt, wird überleben. „Ich nehm' mir mal auf Vorrat, dann müssen wir nicht so viel über den Tisch reichen“, sagst du mit einem kalten Lächeln.

Pfännchen 2: Neid

Spätestens im zweiten Durchgang ist der Tisch gespalten. Auf der einen Seite sitzen die Pfännchen-Virtuosen, die Würstchen und Gürkchen und Maiskölbchen ineinander verschränken, als wären sie hier beim Tetris, um daraus perfekt gratinierte Zwei-Sterne-Häppchen zu backen. Auf der anderen Seite sitzt du. Du kombinierst, fusionierst und experimentierst – aber am Ende ist es unten flüssig und oben angebrannt. Grün wie ein Paprika-Streifen keimt der Neid in dir. „Beim nächsten Pfännchen“, denkst du, „werden sie endlich wissen, mit wem sie es zu tun haben!“

Pfännchen 3: Hochmut

Was dir an Qualität fehlt, willst du durch Quantität ausgleichen. Dass dieser Plan sich in der Menschheitsgeschichte – vom Koloss von Rhodos bis zum All-You-Can-Eat-Buffet – meistens als großer Mist entpuppt hat, stört dich nicht im Geringsten. Du wirst nicht das schönste und nicht das leckerste Pfännchen des Abends bauen – aber das gewaltigste.

Du stopfst und stapelst also all deine gebunkerten Zutaten (s. Habgier) in ein Pfännchen, lässt die Naturgesetze hinter dir und baust ein Empire State Building aus Fett und leeren Kohlenhydraten. Den schwankenden Turm parkst du so millimetergenau unter dem Grill ein, dass jeder 40-Tonnen-Trucker in Tränen ausbrechen würde. „Na, ob das gut geht...“, unkt der Schweinefilet-Felix. „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können“, schleuderst du zurück. Dann qualmt und stinkt es. Du versucht noch, den Pfänncheninhalt, während er bereits unter dem Grill steht, mit bloßen Fingern plattzudrücken.

Und du lernst: Der Hochmut endet stets mit roten Fingern in einem schmutzigen Geschirrtuch voller Eiswürfel. Und natürlich dem nöligen Satz des Gastgebers: „Und ich darf das nachher alles saubermachen.“

Pfännchen 4: Zorn

Wenn der erste Hunger bezwungen ist, kommt der Zorn. Zum einen wegen des Offensichtlichen: Warum schmilzt der Käse bei allen anderen immer schneller als bei dir? Und wieder flüstert die Stimme: „Weil du wieder das kaputte Fach abbekommen hast, bei dem der Heizdraht nur müde glimmt, während er bei allen anderen in sattem Orange glüht!“

Aber auch unter der Oberfläche schwelt es: Es ist so typisch, dass man Felix immer alles durchgehen lässt. Und dass Paul als einziger zwei Pfännchen hat und du wieder nur das gelbe, dabei ist rot doch deine Lieblingsfarbe. Und natürlich hat die vegane Laura eine ganze Schale mit Seitan-Medaillons bekommen. Dass du selber einfach am allerliebsten Miniwürstchen isst und es davon unbedingt mehr geben muss als sonst, wurde hingegen ignoriert. Jetzt musst du wieder mit Cervelatwurst Vorlieb nehmen. So typisch.

Pfännchen 5: Völlerei

Dass Raclette vom Teufel höchstpersönlich erfunden wurde, zeigt sich spätestens nach dem vierten Pfännchen. Danach bist du eigentlich nicht mehr hungrig, kannst aber einfach nicht aufhören zu essen. Jetzt geht es nur noch darum, den dampfenden Inhalt möglichst schnell auf den Teller zu schleudern und die Pfanne sofort neu zu beladen. Bloß keine Zeit verlieren! Essen mit Maß? Genuss? Sind beim Raclette Fremdwörter. Es geht nicht darum, wie etwas schmeckt, sondern darum, möglichst viel des absurden Mixes aus süß, salzig und undefinierbar möglichst schnell herunterzuschlingen. Trotz aller Widrigkeiten und Nahrungskonkurrenten irgendwie den Bauch am vollsten zu kriegen. Und dabei den anderen zu beweisen, dass du vielleicht nie der Klügste und Beliebteste warst, aber mehr essen kannst als jeder andere in diesem Sauhaufen!

Pfännchen 6: Trägheit

Bei Pfanne sechs merkt jeder, dass Oma maßlos untertrieb, als sie sagte: „Käse schließt den Magen.“ Jetzt fühlt es sich eher so an, als wäre dein Magen nach der Käsekernschmelze in einem Sarkophag aus Stahlbeton versiegelt worden. Aber das eine überfüllte Pfännchen, das da noch brutzelte, das musstest du ja unbedingt noch essen. Nun liegst du magentaub auf deinem Stuhl und fragst dich, ob du je wieder wirst laufen können. Die Person, die nun noch den Gang zum Eisfach schafft und den Schnaps rausholt, wird auf alle Zeiten als Messias angebetet werden. Das einzig Gute an diesem Zustand: All die Wut und der Hass, die sich vorher angestaut haben, entweichen. Man will nicht mehr streiten und kämpfen, sondern einfach nur noch verdauen und schlafen.

Pfännchen 7: Wolllust

Bei Seeed rettet Kotzen die Ehe. Beim Raclette rettet Fressen die Seele. Denn spätestens, wenn du im letzten Pfännchen noch das „kleine“ Dessert mit den überbackenen Bananen nachgeschoben hast, ist klar: Zumindest eine Todsünde bleibt dir erspart. In Sachen wollüstigem Sex geht bei dir heute ganz sicher nichts mehr.

Hinweis: Dieser Text wurde am 31. Dezember 2016 zum ersten Mal veröffentlicht und wurde am 31. Dezember 2020 noch einmal aktualisiert. 

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