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Ich hasse Fußball – aber ich freue mich auf die WM!

Fotos: dpa / freepik / Collage: Daniela Rudolf

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Es gab mal eine Zeit, da habe ich Fußballwelt- und Europameisterschaften tatsächlich angeschaut. Ich dachte, das müsse man tun, um als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft existieren zu können. Ich ging zu irgendwelchen Public-Viewing-Events, hing vor dem Fernseher und fieberte mit „meinem“ Team mit, weil man das halt so macht bei diesen Veranstaltungen. Dabei hat mich Fußball noch nie interessiert. 

Ich finde es bizarr, dass junge Männer auf einen Platz geschickt werden, um mit ihren Füßen einen Ball in ein Tor zu befördern. Dass Menschen ihnen dabei auch noch freiwillig zusehen, obwohl sie nicht deren Erziehungsberechtigte sind. Dass sie die Spieler anfeuern, bei Niederlagen heulen und sich währenddessen das Geld aus der Tasche ziehen lassen für Eintrittskarten, schales Stadionbier und Würstchen, ganz zu schweigen von den unfassbaren Summen, die TV-Sender für die Übertragungsrechte bezahlen. 

Dieses kollektive Besoffensein von einem Spiel, das nicht besser oder schlechter ist als Eisstockschießen oder Stabhochspringen, kann ich nicht nachvollziehen. Und die Aggressionen und der Hass gegenüber dem gegnerischen Team, den manche Fans empfinden, schockiert mich sehr. Genauso wie die Tatsache, dass derart viele Spieler Millionäre sind (und oft ganz besonders ungern Steuern zahlen), dass die Funktionäre der Fußballverbände so seriös sind wie die Bond-Bösewichte aus den Sechzigerjahren und dass die Turniere anscheinend jetzt häufiger in Ländern mit autokratischen Führern stattfinden (Katar 2022!). Ich finde, es gibt mehr als genug Gründe, die Fußball-WM zu ignorieren. Aber ich weiß schon: Damit werde ich keinen einzigen Fußballfan überzeugen. Und das ist auch in Ordnung.

Wenn das ganze Land nichts Produktives in der WM-Zeit zustandekriegt, muss ich das auch nicht tun

Mögen sie alle weiter schauen. Aber ohne mich: Mein Platz während der WM ist nicht vor dem Fernseher, sondern überall da, wo der Fußball nicht ist. Und darauf freue ich mich jetzt schon wie verrückt.

Das Tolle ist nämlich:  Alle anderen werden in den nächsten Wochen wahnsinnig beschäftigt sein. Müssen spätestens um 17 Uhr zu Hause sein oder vor irgendeiner Großleinwand stehen. Ich dagegen habe zumindest bei jedem Spiel mit deutscher Beteiligung die Gewissheit, dass ich die nächsten 105 Minuten ganz für mich allein haben werde – mindestens. Ich kann tun und lassen, was ich möchte. Kann in Ruhe im Freibad Bahnen ziehen, mir jeden Zehennagel in einer anderen Farbe lackieren oder die Enten im Park füttern. Endlich habe ich Zeit und vor allem die amtliche Berechtigung, meine Zeit zu verplempern. Denn alle anderen tun das ja auch. 

Klar, am nächsten Morgen können sie mit ihren Freunden und Kollegen irgendwelche entscheidenden Momente im Spiel noch mal analysieren. Ich kann denselben Kollegen dann halt meine angemalten Nägel zeigen. Beides hat den gleichen Erkenntnisgewinn – und ich bin sehr viel weniger gestresst als all die Fussball-Fans, die 90 Minuten lang ihren Puls hochgefahren haben, nur weil irgendwelche Männlein im Fernsehen etwas getan haben. Wenn das ganze Land nichts Produktives in der Zeit der WM zustandekriegt, dann muss ich das auch nicht tun. Höchstens aus Versehen.

Mögen die Spiele so lange wie möglich dauern!

Obwohl ich also die WM-Zeit für mich als die ultimative Entspannungs- und Achtsamkeitsübung betrachte, ist meine To-do-Liste schon ziemlich lang. Während der Rest der Nation vor der Glotze abhängen wird, habe ich folgende Pläne:

  • Zimmer ein bisschen aufräumen, aber immer nur fünf Minuten am Stück.
  • Lesen, Schreiben, Rechnen.
  • Das Instagram-Profil von Alessandra Meyer-Wölden studieren und kulturgeschichtlich einordnen.
  • Fußnägel lackieren.
  • Den perfekten Podcast suchen und finden.
  • Neue Schleichwege in meinem Viertel entdecken.
  • In der Gala nachlesen, welcher Spieler nach der WM welche Influencerin heiratet.
  • Mein Hab und Gut sortieren (keine amtlichen Briefe oder Dokumente).
  • Auf Bänken sitzen und Vögeln beim Fliegen zuschauen.
  • An den See fahren und das eine Strandbad finden, das kein Spiel überträgt (recherchieren, ob so etwas existiert).

Ach, ich freue mich jetzt schon wie verrückt auf die WM! Mögen die Spiele so lange wie möglich dauern, mit allen zur Verfügung stehenden Nachspielzeiten! Möget ihr kollektiv aufstöhnen und rumschreien, damit ich im Park auf dem aktuellen Stand bleibe. Ich schrei euch dann auch gerne den aktuellen Stand meiner Meyer-Wölden-Recherchen zurück. Ansonsten gilt: Wir sehen uns Mitte Juli wieder. 

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