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Was steckt hinter dem Hype um Evangelikale Freikirchen?

Foto: ICF

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Ein Sonntagnachmittag in der Münchner Großraumdisco „Neuraum“. Am ersten Treppenabsatz in Richtung Kellergeschoss des Clubs begrüßt ein Mädchen alle Ankommenden mit „Schön, dass du da bist!“. Sie grinst dabei, als wäre das heute ihre Geburtstagsfeier, auf ihrem Shirt steht: „Willkommen daheim!“. Wummernde Bässe und eine Lichtshow wirken wie Überbleibsel vom Abend zuvor. Aber heute wird hier keine Party, sondern Gottesdienst gefeiert. Hier, wo normalerweise Teenies ihren ersten Rausch haben, Betrunkene sich in einer Ecke übergeben oder Pärchen auf der Tanzfläche knutschen, versammeln sich jeden Sonntag Anhänger der Evangelikalen Freikirche ICF (International Christian Fellowship). Zum Gottesdienst, oder wie man beim ICF sagt: zur Celebration. 

Im Vorraum des Clubs drängen sich Grüppchen von Mittzwanzigern, aus allen Ecken hört man „Schön, dass du da bist!“-Rufe. Dutzende Schilder, auf denen Wörter wie „Change“ oder „Explore“ geschrieben sind, hängen im Raum. Auch Joel ist hier. Er trägt einen Man-Bun, eine schwarze Hipsterbrille und sagt grinsend, was alle sagen: „Schön, dass du da bist!“ Joel gehört zum „Welcome Team“ beim ICF und auch auf seinem Shirt steht „Willkommen daheim!“. Weil er seit drei Jahren fast jeden Sonntag hier ist, erkennt er neue Leute sofort.

Evangelikale Freikirchen sind protestantische Kirchen, die einen konservativen Glauben leben und die Bibel wörtlich auslegen. Das ICF, das 1996 in der Schweiz gegründet wurde, ist eine von vielen dieser Art. Die berühmteste Evangelikale Freikirche ist wohl die „Hillsong Church“, die es bereits seit 1983 gibt und die ihren Ursprung in Australien hat. Ihre internationale Bekanntheit verdankt sie vor allem Anhängern wie Justin Bieber, Selena Gomez und Kendall Jenner, die alle regelmäßig und medienwirksam Gottesdienste in den Ablegern der Kirche in New York oder Los Angeles besuchen.

Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass Freikirchen in den letzten Jahren besonders unter jungen Menschen immer beliebter geworden sind. Denn während die traditionellen Kirchen gegen dramatisch sinkende Mitgliederzahlen kämpfen, wachsen ICF und Hillsong stetig. Im Jahr 2014 gab es in Deutschland 22 Millionen Protestanten – Tendenz sinkend, jährlich treten Hunderttausende aus der Kirche aus. Die evangelischen Freikirchen zählten 290.000 Mitglieder – Tendenz steigend. Was steckt hinter dem Hype? Und was sehen Kritiker der Freikirchen in ihnen, wenn sie vor sektenähnlichen Strukturen und sozialem Druck auf die Gläubigen warnen? 

In München zeigt Joel den Weg zum größten Saal des „Neuraum“, aus dem laute Musik zu hören ist. „Such dir einen Platz, solange es noch nicht so voll ist,“ sagt er. Tatsächlich kommen hier zu jedem der vier Gottesdienste, die sonntags stattfinden, etwa 500 Menschen – die meisten sind unter 40 Jahre alt. Das Licht im Saal ist schummrig, ein paar lila Scheinwerfer beleuchten die Bühne in der Mitte des Raumes. Eine Liveband spielt christliche Popsongs – „Let the devil know: ‚Not today‘!“, den Text kann man auf zwei riesigen Leinwänden mitlesen. Die Sängerin klingt ein bisschen wie Adele und die Musik ist wirklich gut. Selbst wer mit dem Vorsatz hergekommen ist, alles total nüchtern und objektiv zu betrachten, muss eine Gänsehaut bekommen – die Stimmung ist mitreißend. Direkt vor der Bühne steht eine Gruppe Mädchen um die 20, sie tanzen und singen laut mit. Viele Menschen im Raum recken ihre Hände und Köpfe zur Decke. Oder zum Himmel.

Jedes zweite Wort ist Englisch, man geht hier in die „Church“, zum „Worship“ und dann zum „Soccer“

Dass das ICF anders ist als gewöhnliche Kirchen, merkt man vor allem an der Verpackung. Professionelle Lichtshow, super Liveband, jede Predigt als HD-Video auf Youtube – welche traditionelle Kirche investiert schon so viel in die Inszenierung? Die Predigten erinnern von Sprache und Stil her eher an Mario Barth als an Margot Käßmann, der Ton ist bemüht jugendsprachig, die Witze klischeebeladen. Jedes zweite Wort ist Englisch, man geht hier in die „Church“, zum „Worship“ und dann zum „Soccer“. Der Münchner Pastor Tobias Teichen sagt gern Dinge wie „So goes it not!“. 

„Tobi“ Teichen, das Gesicht des Münchner ICF, ist ein schlaksiger Typ, der meist Jeans und Sneakers trägt. Während seiner Predigten hüpft der 41-jährige Pastor wie angeknipst von einem Rand der Bühne zum anderen, fuchtelt wild mit den lange Armen und sieht dabei auf sympathische Weise ungeschickt aus. Auch das gehört zur Inszenierung, denn zufällig ist beim ICF nichts. Bis zu 20 Personen schreiben an einer Sonntagspredigt von Tobi Teichen mit, auf Youtube schauen Zehntausende diese Auftritte an. Teichen hat das ICF München 2004 gemeinsam mit seiner Frau Frauke nach dem Vorbild des ICF Zürich gegründet. Sein Ziel erklärt er so: „Unsere Kirche soll ein Ort sein, wo jeder hinkommen kann, ganz egal wo er herkommt!“.

Was Tobi Teichen an diesem Sonntag im Neuraum in seiner Predigt sagt, ist einfach und klar – wirkt aber oft auch wenig reflektierend und einseitig. Die Predigt heißt „Meine Kirche positiv beeinflussen“: Tobi Teichen erklärt, dass Gott jedem Menschen eine Aufgabe gegeben hat, die man erfüllen muss, um ein gutes Leben zu führen. Einen Katalog an möglichen Aufgaben liefert der Pastor gleich mit. Klingt einfach. Komplexe Probleme, andere Sichtweisen oder Konflikte in der Argumentation fehlen – hier gibt es simple Kategorien: Gut und Böse, Gott und Teufel, Schwarz und Weiß. Bibelstellen verteilt der Pastor in winzigen Häppchen in seiner Predigt, vereinfacht, für jeden verdaulich. Sein Vortrag ist choreografiert bis ins kleinste Detail, Special-Effects wie Geräusche und kleine Videoeinspieler steuert er von der Bühne aus mit dem iPhone. Klar, wenn Tobi Teichen von schlechten Fußballtrainern spricht und dann die Brücke zu Aufgaben in der Kirche schlägt, ist das leicht verständlich. Dass Bibelstellen dafür schon mal einseitig ausgelegt werden, nimmt man scheinbar in Kauf.

Die jungen Menschen, die regelmäßig im Neuraum Gottesdienst feiern, geben alle ähnliche Antworten auf die Frage, warum sie hier sind. Die starke Gemeinschaft spiele eine große Rolle, sagen ein paar Jungs – im ICF finde man schnell Anschluss. In kleinen Gruppen treffen sich die Gläubigen manchmal mehrmals pro Woche, gehen essen oder machen zusammen Sport. Viele kommen auch, weil sie sich Orientierung wünschen und Antworten auf die großen Fragen des Lebens. „Ich hatte keinen Plan für mein Leben und bin viel rumgehangen. Hier habe ich gemerkt, dass Gott immer einen Plan hat, ich muss nur auf ihn hören,“ sagt ein Mädchen. Vielleicht sind junge Menschen heute überfordert von den schier unzähligen Möglichkeiten, die ihnen offenstehen. Einen tieferen Sinn, den suchen viele hier.

Kritiker sagen, die Kirche werde beim ICF als Allheilmittel stilisiert

Die vermeintlich einfachen Lösungen, die das ICF bietet, werden besonders von den traditionellen Kirchen und unabhängigen Organisationen kritisiert. So warnt zum Beispiel die Schweizer Organisation „infosekta“ davor, dass ICF-Anhänger sich häufig von Freunden und Familie entfremden würden. Die Kirche werde beim ICF als Allheilmittel stilisiert, als einzige Lösung für Probleme werde die Beziehung zu Gott, der Glaube, angeboten. 

Dieses Schwarz-Weiß-Denken ist zwar typisch für Sekten, aber Harry Bräuer, Sekten-Experte bei der Polizei München, gibt zunächst Entwarnung. Er sieht das ICF nicht als problematische Gruppe oder gar als Sekte, aber betont gleichzeitig: „Wir schauen da genauer hin.“ Denn zum ICF bekommen er und seine Kollegen immer wieder kritische Anfragen und Rückmeldungen aus der Bevölkerung. Zunächst sei aber jede Glaubensrichtung zu akzeptieren – gefährlich werde es erst, wenn sich ein Mensch dadurch grundlegend verändere. „Wenn bei jemandem das soziale Umfeld komplett wechselt, andere Ansichten nicht mehr akzeptiert werden, jemand überhaupt nicht zum Dialog bereit ist und sich seine Persönlichkeit stark verändert, sollte man hellhörig werden,“ so Bräuer. Dafür gibt es Beratungsstellen, an die sich Betroffene und Angehörige wenden können. 

Allerdings gibt es einen Aspekt, den der Polizist bei Bewegungen wie dem ICF kritisch sieht: den finanziellen. Denn beim ICF gibt es den Grundsatz, „den Zehnten zu bezahlen“ – das bedeutet, dass jeder Gläubige ein Zehntel seines Einkommens der Kirche geben soll. Das wird sehr ernst genommen und immer wieder betont: Nur wer den Zehnten bezahle, könne versöhnt mit Gott leben. „Wir hatten im Bereich der evangelikalen Szene schon Beratungsfälle, in denen der subtile Druck, den Zehnten zu bezahlen, sehr stark geworden ist“, sagt Bräuer. „Das kann dann sogar strafrechtlich relevant werden.“

Aus den Geldern ihrer Gläubigen finanziert die Freikirche unter anderem die aufwändige Inszenierung der Predigten und die Marketing-Maßnahmen. Kein Wunder, dass die Büroräume der Freikirche in München aussehen wie die eines Berliner Startups: Loungechairs, Ruheräume, eine große Bar. Hier erklärt Raphael Kunz, bis vor kurzem Pastor beim Innenstadt-Ableger des ICF, die Strategie der Kirche: „Wir wollen die Menschen in ihrer Lebenswelt erreichen. Dabei müssen wir aufpassen, dass wir nicht zu spät sind – man muss immer am Puls der Zeit bleiben.“ Instagram, Youtube, Online-Kurse – die Marketing-Maschine läuft. 

Im ICF ist die einzig richtige Art zu leben eine monogame, heterosexuelle Ehe

Aber ist das alles in Wahrheit sogar Fundamentalismus im modernen Gewand? Denn egal wie cool der Instagram-Account des ICF auch ist, die Werte, die hier vertreten werden, sind streng konservativ. Homosexualität gilt als Fehler, als etwas, das geheilt werden kann. Tobi Teichen sagt dazu in einer Predigt: „Wenn du es zulässt, kann Gott dich verändern!“ Das Frauenbild ist veraltet, die Geschlechterrollen eindeutig definiert: Die Frau ist eine „Prinzessin“, weich und emotional, während die Männer ungestüm und stark sind. Im ICF ist die einzig richtige Art zu leben eine monogame, heterosexuelle Ehe. 

Raphael Kunz ist einer derjenigen, die jungen Menschen helfen sollen, diese Regeln zu befolgen. Mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen spricht er über Dinge wie Homosexualität und Sex vor der Ehe. Er sagt: „Die Leute können immer zu mir kommen und wir finden eine Lösung!“ Aber was, wenn jemand gar keine „Lösung“ finden will? „Dann muss ich das akzeptieren. Aber das passt schon nicht so gut in unsere Kirche.“

Damit es genug Menschen gibt, die in die Kirche passen, wird beim ICF viel Wert auf Wachstum gelegt – man könnte es auch „Missionierung“ nennen. Das umstrittene Konzept der G12-Gruppen – ein Schneeballsystem, bei dem jeder Gläubige 12 neue „Mitglieder“ aus seinem Umfeld anwerben sollte – ist zwar mittlerweile abgeschafft. Trotzdem: Predigten beim ICF heißen zum Beispiel „Meine Familie positiv beeinflussen“ oder „Mein Arbeitsumfeld positiv beeinflussen“. Darin wird dazu aufgerufen, den Einfluss der Kirche auf alle gesellschaftlichen Bereiche auszuweiten und wichtige Positionen mit Gläubigen zu besetzen.

Aber was ist mit den strengen Regeln, wie zum Beispiel kein Sex vor der Ehe?

An dem Sonntagnachmittag im „Neuraum“ kann man ganz gut erkennen, was das ICF für die jungen Menschen hier ist: Ein bisschen Popkonzert, ein bisschen seichte Poetry-Slam-Philosophie, ein bisschen Gemeinschaft und weniger allein sein. So, wie manche zum Yoga gehen, holen sich manche hier sonntags ihre Dosis Lebensweisheit ab. „Hör auf dein Herz!“ und „Hab Vertrauen in Gott!“ – das sind simple Mantras. Einfache Lösungen – vielleicht zu einfach? Das ICF zeigt zumindest, wie groß die Macht einer guten Inszenierung ist. 

Nach der Predigt am Sonntag in München wartet Joel im Vorraum des Clubs, er packt Prospekte und Kugelschreiber für Neuankömmlige in Tüten. Immer noch freudestrahlend erklärt er, warum er zum ICF gekommen ist: „Ich habe mich in der evangelischen Kirche nicht mehr aufgehoben gefühlt. Die Inhalte und das Drumherum, das hatte einfach nichts mit meinem Leben zu tun.“ Das sei beim ICF anders: „Hier ist alles gut erklärt, nicht so abgehoben. Man kann die Predigten leicht auf seinen Alltag beziehen.“ Aber was ist mit den strengen Regeln, wie zum Beispiel kein Sex vor der Ehe? Joel sagt: „Wenn man einmal verstanden hat warum es diese Regeln gibt, befolgt man sie auch gerne.“ Und warum gibt es die Regeln? „Weil Gott das Beste für mich will,“ sagt Joel.

Wer sich durch Sekten oder sektenähnliche Gruppierungen bedroht fühlt, kann sich beispielsweise bei der Opferschutz-Beratsungsstelle der Münchner Polizei melden: 089/2910-4444. Eine Übersicht über Sektenausstiegs-Hilfen gibt es im Netz unter: weltanschauungsfragen.de oder sektenausstieg.net. Ansprechpartner der katholischen Kirche ist Axel Seegers (089 / 54 58 13 0), Ansprechpartner der evangelischen Kirche ist Wolfgang Behnk (089 / 5595 610).

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