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Wozu schön sein wollen?

Foto: Collage: Julia Busch

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Dass die Erfüllung mancher Träume lebensverändernd dumm sein kann, verstehen die einen, wenn es auf dem Mount Everest eng wird, die anderen, wenn die Affäre auffliegt, mit der Beförderung oder dem fünften Kind. Ich verstand es an einem Nachmittag vor vier Jahren, als ich entschied, mir zum ersten Mal die Haare färben zu lassen. Als Teenager hatte ich Gwen Stefani, die Sängerin der Band No Doubt zu meinem Schönheitsidol erkoren. Skaterhosen, Waschbrettbauch, weißblonde Mähne, knallrotes Lächeln: So wollte ich aussehen. Den Stil konnte ich noch halbwegs imitieren. Das mit dem Bauch war schon komplizierter, die Frisur aber eine Unmöglichkeit, wie mich meine Eltern eindeutig wissen ließen: „Du willst nicht dein perfektes Haar mit Chemie ruinieren!“, erklärten sie mir und garantierten bei Zuwiderhandlung für nichts.

Aber ich hätte sehr gewollt, und mit 32 schließlich, Mutter zweier kleiner Kinder, war ich zwar nicht mehr interessiert am Stefani-Style, aber bereit, ein Stück Ruin zu wagen. Nicht, weil ich als Blondine für die Mehrheit der Weltbevölkerung marginal attraktiver werden würde (oder fast nicht), sondern „für mich“. So wie ich mir seit 20 Jahren „für mich“ die Beine rasierte, die Wimpern tuschte und vorteilhafte Kleidung anzog, bevor ich das Haus verließ. Ich fühlte mich frei und ein bisschen high, als die Blondierung meine Kopfhaut anzusengen begann. Dass ich mich selbst zur Gefangenen eines anspruchsvollen Haarpflegeregimes gemacht hatte, wurde mir etwa acht Stunden später klar.

Als ich endlich den Salon verließ, mit einer traumhaft platinfarbenen Pracht zwar, aber gerädert wie nach einem Langstreckenflug und um die Summe einer Luxushotelübernachtung ärmer. Von nun an wurden meine Haare von einem meiner besten und unproblematischsten Körpermerkmale zu einer Belastungsprobe für mein Budget. Nach einem halben Jahr beschloss ich, dass sie zu teuer und zu aufwendig geworden waren, und hörte auf mit der Vollblondierung. Um bestmöglich auszusehen, musste ich mich allerdings im Rauswachsenlassen von der Friseurin engmaschig mit Strähnen und Haarschnitten begleiten lassen. Viel billiger war das auch nicht.

Schönheit ist eine weibliche Tradition

Wozu schön sein wollen? Die meisten Frauen könnte man genauso gut fragen, wozu sie Beine haben wollen: Natürlich, um besser durch die Welt zu kommen. Doch während es für Männer nach wie vor in der Regel ausreicht, Beine zu besitzen, müssen die einer Frau auch den Ansprüchen ihrer Betrachter genügen. Die strengste Betrachterin ist sie in der Regel selbst. Und obwohl Frauen heute als genauso qualifiziert, reich, mächtig oder kreativ wie Männer gelten können, entbindet sie das noch immer nicht von einer traditionellen weiblichen Aufgabe: schön zu sein.

Das Problem laut Soziologin Greta Wagner, die das Thema an der Goethe-Universität Frankfurt am Main erforscht, ist: Das durchschnittliche weibliche Schönheitsideal liegt viel weiter von der Realität entfernt als das männliche. Der finanzielle und zeitliche Aufwand, mit dem Frauen sich deshalb oftmals diesen Ansprüchen widmen, scheint zusätzlich immer größer und komplexer zu werden. Frauen lernen von früh auf, dass ein hübsches Äußeres ihnen Vorteile bringt - auch heute werden kleine Mädchen für kaum etwas so häufig und so warm gepriesen wie für goldiges Aussehen und schöne Kleidchen. Und das fühlt sich gut an, genau wie später die Bestätigung für ihre Selfies in Form von Likes und Herzen in Social Media oder anerkennende Blicke anderer zu ernten.

Den Lippenstift zu finden, mit dem man sich aufregend und cool fühlt, das Kleid zu tragen, das einem so gut steht, ein "Du leuchtest aber" oder "Du machst Ballett, oder?" zu hören - das fühlt sich nicht nur zutiefst gut an, es ist auch eine Möglichkeit, sich besser oder mehr wert zu fühlen als andere. Hinzu kommt, dass Kosmetikfirmen, Influencerinnen und sonstige Lifestyle-Beauty-Gurus ununterbrochen predigen: Du brauchst für jede deiner Stimmungen einen Lippenstift, dein Parfum ist deine Persönlichkeit, und die Pilates-Stunden sind deine Zeit für dich, deine Eigenfürsorge. Schönheit ist Selbstliebe. Selbst ungeschminkt auszusehen, erfordert nach der neuen Lehre Primer, Make-up, Augenbrauengel, Bronzer, da ist man 50 Euro oder mehr schnell los. Es ist schwer geworden, sich als Frau ohne Pflegeroutine zu denken. Man könnte auch von Konditionierung sprechen.

Wofür Frauen Geld ausgeben

Platt gesagt: Statt es in die Altersvorsorge zu stecken, investieren Frauen ihr neuerdings etwas größeres verfügbares Einkommen in Klamotten, Parfum und Kosmetikbehandlungen. Frauen in Deutschland geben zwischen 200 und 540 Euro jährlich für Beauty-Produkte aus (da gehen die Zahlen auseinander), in den USA sogar mehrere Tausend Dollar. Soziologen sprechen vom "Doing Beauty", der Schönheitspraxis, sie meinen damit all die kleinen - Duschen, Nägelschneiden - und größeren - Botoxbehandlungen, Diäten, Brustvergrößerungen - Dinge, die Menschen Tag für Tag vornehmen, um das Maß an Schönheit herzustellen, dem sie glauben, genügen zu müssen. Was dieses Maß ist, hat sehr viel weniger mit persönlichen Vorlieben und individuellem Stil zu tun als mit dem, was eine Person so beruflich macht und wer sie in der Gesellschaft sein will.

"Schönheit kann ein Kapital der Selbstermächtigung sein", sagt der Wiener Soziologe Otto Penz und meint damit: Für Menschen, die konventionellen beziehungsweise dominanten Schönheitsnormen entsprechen, ist das ganze Leben leichter. Das sagt nicht nur die subjektive, sondern auch die sozialpsychologische Empirie. Sie werden schneller in Gruppen akzeptiert, sie finden eher einen Partner, sie verdienen häufig vergleichsweise besser. Befragungen unter Lehrern haben gezeigt, dass sie hübschere Schülerinnen und Schüler unbewusst besser bewerten, an Universitäten und Ausbildungsstätten setze sich das fort, sagt der Soziologe Ulrich Rosar, der seit Jahren zu diesem Zusammenhang forscht. In der Bildungsphase sind vor allem Mädchen im Vorteil. Im eigentlichen Berufsleben gilt in fast allen Berufen in Deutschland immer noch erst der Vorteil Mann, dann der Vorteil Schönheit.

Das bedeutet in der Praxis: Männer verdienen besser und werden schneller befördert als Frauen, egal, wie sie aussehen. Aber sportliche, gepflegt aussehende Männer verhandeln schneller und effektiver Gehaltserhöhungen. Klar, wer sich in Form hält, wirkt auch leistungsfähiger - und einladender. Allerdings gibt es auch eine Grenze, sagt Ulrich Rosar, nämlich die sogenannte Hyper-Attraktivität. Die sei mit Vorteilen und abschreckenden Charakterklischees (Eitelkeit, Anti-Intellektualität) behaftet: Wären Alexander Skarsgård oder Idris Elba als Berater oder Steueranwälte tätig, hätten sie es möglicherweise eher schwer.

Auch Frauen hilft eine Supermodel-Erscheinung nur, wenn sie Supermodel werden wollen, ansonsten ist die Lage wie üblich vertrackter. Denn Schönheit ist nun mal keine Privatsache, sondern in gewisser Weise das, was ein Betrachter aus ihr macht: In vielen Berufen, die für Frauen interessant sind, ist gutes Aussehen ein Vorteil, oder sogar explizit erwünscht - und zugleich immer auch ein Risikofaktor. "Die Selbstbestimmung durch Schönheit stößt im Kapitalismus an Grenzen der Arbeitskontrolle", sagt Otto Penz, "denn überall gibt es unausgesprochene oder auch ausdrückliche Erwartungen daran, wie Frauen aussehen sollen." Das bedeutet, dass Frauen nicht nur ihre eigenen Ansprüche, sondern auch die ihres beruflichen Umfeldes erfüllen müssen, und dass davon nicht selten ihr Erfolg abzuhängen scheint. Doch was sie genau dafür tun können oder müssen, ist nie ganz klar.

Penz hat ein Buch (Schönheit als Praxis) über den Faktor Schönheit in der modernen Arbeitswelt geschrieben. Seine These: "Doing Beauty" ist längst eine Form von sozialer Abgrenzung und auch Kontrolle geworden. Auffällig sei das besonders in Berufen, die viel Kundenkontakt mit sich bringen: "Hier herrschen strenge Codes, was ein sogenanntes gepflegtes Äußeres sein darf." In akademischen oder eher büroorientierten Tätigkeiten sei das ein wenig anders, aber nicht weniger kompliziert: "Frauen absolvieren permanent eine Gratwanderung der Selbstdarstellung: Einerseits müssen sie kompetent und als Gleiche unter Gleichen wirken, andererseits wollen und sollen sie dabei attraktiv sein."

Wann Schönheit hinderlich ist

Besonders schwierig ist diese Gratwanderung für Berufsanfängerinnen. Junge Frauen, die sich gut kleiden und schön aussehen, werden vielleicht schneller und intensiver gefördert, vor allem von männlichen Kollegen. Gleichzeitig will wohl kaum eine Frau vor allem nach ihrem Äußeren beurteilt werden. Wobei, wie Ulrich Rosar einschränkt: "Gutes Aussehen kann auf entscheidenden Stufen keine mangelnde Qualifikation ersetzen." Eine hübsche Führungskraft hat also mit hoher Wahrscheinlichkeit auch noch fachliche Kompetenzen - aber je hübscher sie ist, desto weniger nimmt man sie ihr ab. Im Zweifel kann Schönheit den Nachteil Frau verstärken: Nach einer Umfrage in Personalabteilungen bevorzugten viele Personalerinnen weniger hübsche Bewerberinnen. In einer Aufsehen erregenden aktuellen Studie der Wirtschaftswissenschaftlerin Leanne Atwater gaben 21 Prozent personalverantwortlicher Männer an, überhaupt nur ungern Frauen einstellen zu wollen. Die Möglichkeit eines Belästigungsvorwurfs gefährde das Betriebsklima, wurde zur Begründung angegeben. Diese Angst habe seit der Sensibilisierung für sexistische Praxis mit #MeToo erst recht zugenommen, erklärt Atwater.

Auch die Forschungsergebnisse Ulrich Rosars bestätigen, dass Feminität oder Schönheitsattribute von Frauen in bestimmten Berufen aktiv vermieden werden: "Bei der Polizei oder auch in einer männlich geprägten Anwaltskanzlei ist es für Frauen wichtig, sich optisch eher anzupassen und ihre Weiblichkeit zurückzunehmen. Sie binden dann ihre Haare zusammen und tragen dezente Kleidung", sagt Rosar. Einfach nur aussehen, wie man aussieht, ist ein Privileg, das man sich nur mit einer extrem hohen Qualifikation und Position leisten kann. Oder eben als Mann. Allein Office-Wear für Männer: Hose, Hemd, Sakko.Office-Wear für Frauen: Stoffhose, Rock, Kleid, Bluse, Stricktop, Pullover, Sakko, Strickjacke, Blouson. Schön, viel schöner als der langweilige Herrenlook! Aber eben auch aufwendiger und komplizierter zu durchdringen. Doch müssten Frauen nicht eigentlich damit anfangen, sich von all diesen Auflagen zu befreien? Ist unsere Freude an schöner Kleidung, Düften und einer gepflegten Frisur wirklich für unsere weibliche Identität so zentral, wie wir glauben?

Mut zur Gewöhnlichkeit

Die gemeine Evolutionsbiologie sagt: Ja, weil Frauen dringend einen Partner brauchen, solange sie fruchtbar sind. "Diese biologischen Begründungen erschließen sich mir nicht", kritisiert Otto Penz. Denn die Realität weiß: Für Frauen mag es schwieriger sein, ein angemessenes Gehalt für ihre Arbeit zu bekommen; ein Sexualpartner findet sich hingegen in der Regel eher leicht. Penz sagt: "Dass Frauen nach wie vor als das 'schöne Geschlecht' tituliert werden - und damit auch als das Geschlecht, das schön zu sein hat -, liegt in der Geschichte ihrer Unterdrückung. Aussehen war nun einmal oft die einzige Ressource, die einer Frau zugebilligt wurde."

Doch diese Zeiten sind vorbei. Die Soziologin Barbara Kuchler veröffentlichte vor zwei Jahren einen Text, in dem sie Frauen dafür kritisierte, sich dem Schönheitsmarkt willenlos auszuliefern. Kuchler schrieb, eine Frau, die ihre Figur mit engen Hosen betone und ihr Gesicht besonders vorteilhaft schminke, beteilige sich an der Unterdrückung ihres Geschlechts. Sie wurde dafür von vielen stark angegriffen, Frauen warfen ihr vor, sie zu bevormunden. Dabei verlangte Kuchler nur ästhetische Gleichberechtigung: Solange Schönheit als ein so kosten- und zeitintensives Produkt definiert werde, das nur Frauen brauchen, könne es keine echte Gleichberechtigung geben. Entweder müssten die Männer anfangen, auch in professionellen Zusammenhängen ihre Reize zu betonen, oder Frauen müssten damit aufhören - sonst stünde der Attraktivitätsanspruch immer zwischen den Geschlechtern.

Letztlich entscheidet natürlich jede Frau, wie viel "Doing Beauty" sie sich selbst gönnen - oder zumuten will. Man kann sich stundenlang in einen Friseursalon setzen und handelt damit moralisch nicht verkehrt. Aber man schafft sich eben immer noch eine Sache mehr, um die man sich kümmern muss. Gerade in Zeiten, in denen man vielleicht mehr als genug zu tun hat, kann es auch hilfreich sein, sich daran zu erinnern, dass ein Leben ohne maximale "Hübschness" auch ein gutes ist. Ja, es könnte sogar ein politisch relevantes Zeichen sein, den Schönheitsidealen der Zeit den Mittelfinger zu zeigen: Weil es immer die schwächeren weiblichen Mitglieder einer Gesellschaft sind, die unter ihnen besonders leiden. Die weniger ausgebildeten Frauen, die zum Beispiel in ihren Jobs als Verkäuferinnen auch immer sich selbst mit verkaufen müssen. Und die jungen Mädchen, denen Schmink-Channels auf YouTube und Sendungen wie Germany's Next Topmodel permanent ihre Unzulänglichkeit einreden.

Die gute Nachricht für alle Schmink- und Modemüden ist ja ohnehin: Wer etwas kann, kann sich auch darauf konzentrieren. So wichtig wie die Schönheit tut, ist sie nicht. Ein Frauenleben ohne Beauty-Routine ist möglich für jede, die es will - und vielleicht wirklich der nächste Schritt in die Freiheit.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien zuerst in Plan W, dem Frauenwirtschaftsmagazin der Süddeutschen Zeitung.

Dieser Text erschien zum ersten Mal am 8. Juli 2020 und wurde am 11. Juli 2021 noch einmal veröffentlicht.

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