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Warum jede Stunde einer Ausgehnacht ihren ganz eigenen Charakter hat

Illustration: Julia Schubert

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Schon mal aufgefallen, dass alle Ausgehabende einander auf ganz bestimmte Weise ähneln – so unterschiedlich ihr jeweiliger Verlauf auch sein mag? Denn jede einzelne Stunde eines Abends, der allmählich zur Nacht wird, hat seinen eigenen Charakter und seine eigene Funktion. Und jedes Mal, wenn man auf die Uhr sieht, spürt man es ganz deutlich: „Ah, it’s this time of the night!“

19 Uhr

Die gemütlichste Stunde vor dem Aufbruch in den Abend. Du guckst auf die Uhr und atmest auf: Noch nicht mal eine Uhrzeit mit einer 2 vorne dran. Also quasi noch Nachmittag. Du ahnst zwar, dass es demnächst mal Zeit würde, dich aus der Jogginghose rauszuschälen und unter die Dusche zu gehen, aber du denkst auch: Andere Leute sind jetzt noch im Büro! Müssen danach noch raus- aus der Stadt und wieder reinpendeln! Aber nicht du! Du kannst jetzt noch mindestens eine Stunde lang Modern Family gucken.

20 Uhr

Da ist sie, die erste der 20-er Uhrzeiten. Die ersten leichten Aufgeregtheitsschübe durchfahren dich: Wird es eine lange oder eine kurze Nacht? Wen wirst du treffen? Du spürst durch die Hauswände hindurch, dass die Stadt nach einer langen Woche aufatmet und sich langsam zu betrinken beginnt. Noch tun sie es zwar in der eigenen Küche, im Gasthof oder beim Eck-Italiener, bald aber auch in den Kneipen, Bars und Clubs. Du öffnest alle Türen deines Kleiderschranks und drehst deinen Laptop so hin, dass du auch beim Klamotten raussuchen weiter Modern Family gucken kannst. Du schlurfst zum Kühlschrank. Das erste Wegbier, Richtung Dusche.

21 Uhr

Die bequeme Wartezimmer-Couch unter den Ausgehabend-Uhrzeiten. Eine Art Knautschzone: Erst in etwa einer bis eineinhalb Stunden willst du aus dem Haus. Geduscht bist du schon. Noch ungeföhnt, aber immerhin schon mit bekleidetem Oberkörper und einem Ring im Ohr fällt dir plötzlich ein, dass du noch was essen müsstest. Aber nichts, was müde macht. Rohe Zwiebeln vielleicht auch nicht unbedingt. Was Warmes, Nährendes wäre schon schön. Nur zu lang darf es nicht dauern. Und dann natürlich noch zu Ende fertig machen. Haare kämmen, bisschen Lippenstift, und wo war jetzt eigentlich diese Hose mit dem Muster, die muss ja noch gebügelt werden - und warum ist es überhaupt auf einmal schon 21 Uhr 39? Ok, laut Musik an und schneller jetzt.

22 Uhr

22 Uhr ist eine klamme Uhrzeit, du musst raus auf die Straße, draußen ist es kalt und dein Ausgeh-Outfit ist nicht dafür gedacht, darin auf einen Bus zu warten, sondern dafür eine warme Bar zu betreten. Was, du bist noch nicht draußen? Du findest den anderen Ohrring nicht? Beeil dich! Du wolltest um 22 Uhr DA sein. Jetzt beginnt die „Ab-jetzt-gibt’s-was-zu-verpassen“-Phase. Um kurz nach 23 Uhr endet außerdem die „Macht-nichts-dass-du-viel-zu-spät-kommst“-Toleranzphase deiner Freunde.

23 Uhr

Du sitzt inmitten deiner Freunde, ein Drink steht vor dir, heiteres Gequatsche umgibt dich, die Musik ist gut, alle Flaschen sind noch halb voll, die Temperatur passt zu deinem Outfit. Wenn diese Uhrzeit ein Foto wäre, wäre das Licht darauf golden und strahlend, die Gläser glitzernd und der Raum voller Menschen. Dass die Nacht ein Ende nehmen wird und du irgendwann, in ein paar Stunden, wieder nach Hause gehst, der Gedanke erscheint dir jetzt so weit weg wie die Tatsache, dass du eines Tages sterben musst.

0 Uhr

Es ist soweit, die flauschigen 20er-Uhrzeiten sind tempi passati. Geisterstunde! Null Uhr! Offiziell ist 0 Uhr noch sehr früh. Doch im Hinterkopf weißt du: Die Küchen der Stadt sind jetzt schon geputzt und geschlossen, unterwegs sind nur noch Heimgeher oder Ausgeher, die Nacht hat begonnen. Ein Foto dieser Uhrzeit wäre jetzt nicht mehr goldgelb, sondern schlagartig nachtviolett. Für eine Hundertstelsekunde, als wärst du noch ein Kind, haben die Nullen auf der Uhr auch etwas leicht frivoles: „Wow, ich bin noch wach, dabei ist es schon nach 12!“, schießt dir durch den Kopf. Dann fällt dir ein: Achso, ich bin ja schon erwachsen. Die ersten Schnäpse gehen rum und die nächste Runde geht auf dich.

1 Uhr

Die Uhrzeit, an der sich entscheidet, wie die Nacht für dich weitergeht. Entweder, a) du erschrickst angesichts der 1 auf der Uhr, findest das urplötzlich doch spät, bist müde, wieder angenüchtert, fröstelst, gähnst und findest den Gedanken an deinen Schlafanzug anziehender als den an einen Clubeintritts-Stempel auf dem Handgelenk. Oder b) du denkst: Boah 1 Uhr erst! Die Nacht ist lang, wir sind jung. Warum sind wir eigentlich immer noch so jung? Wäre 1 Uhr eine Jahreszeit, es wäre der Übergang zwischen Winter und Frühjahr, in der zaghaft die ersten Schneeglöckchen aus der Erde schauen – bis zu den Tulpen und Narzissen ist es noch eine Ewigkeit hin.

2 Uhr

Der Frühling der durchtanzten Nacht. Tulpen und Narzissen in voller Blüte. Die letzte Stunde, in der noch U-Bahnen fahren. Also alles noch total zivilisiert. Wenn du jetzt ins Bett gingest, wärest der morgige Tag noch weitgehend intakt. Easy, nächster Drink!

3 Uhr

Beginn der „Lost Zone“. Auf den Straßen nur noch Taxis. Du weißt nicht, wie die letzte Stunde so schnell vorbeigehen konnte. Und wo deine Tasche ist. Wahrscheinlich unter dem Jackenhaufen beim DJ in der Nähe. Du hast Vertrauen in die Menschheit, niemand wird dir was stehlen. Du hast ein paar Leute kennengelernt, Freunde aus einem früheren Leben! Wie sie heißen, weißt du gerade nicht, aber sie sind toll. Du pinkelst in einen Hinterhof, weil da niemand ist, es so schön dunkel ist und du in diesem Geisteszustand nicht an morgen, nicht an Anstand und erst recht nicht an andere Hausbewohner denkst. Warum bist du eigentlich plötzlich in einem Hinterhof? Dann bist du wieder im Club. Bei deiner Tasche. Kaugummi. Bier drauf. Auf jeden Fall könntest du jetzt noch mit dem Fahrrad nach Hause fahren. Achso, du warst ja gar nicht mit dem Fahrrad da. Oder doch?

4 Uhr

Höhepunkt der „Lost Zone“. Mit mindestens neun Leuten in irgendeinem Taxi gewesen und kostenlos mitgefahren. Kurz in einem anderen Club gewesen, oder einer Bar? Oder zweien? Oder war es ein Imbiss? Jedenfalls isst du gerade Pommes. Schöne, warme Pommes. Die Luft fühlt sich an den Armen so an, als könntest du drin schwimmen. Die anderen wollen noch irgendwohin. Du schwimmst hinterher. Haha. Puh.

5 Uhr

Ihr wart nochmal irgendwo tanzen nach den Pommes, aber das wird dir erst jetzt klar, jetzt, wo du aus dem Club heraustrittst, wie aus einem Traum. Du bist wach. Hellwach. Nüchtern. Die Straße ist graublau und am Himmel hinten wird es immer hellblauer, mit ein bisschen rosa, und du riechst Brötchen. Bäcker! Echte Bäckerbrötchen! Wow. Es ist morgens! Jetzt kommt wieder so ein Kindergefühl: Juhu, ich hab durchgemacht! Und danach erwachsene Enttäuschung: Naja, dafür ist halt auch der Samstag jetzt im Arsch.

6 Uhr

Du bist ja immer noch wach! Ja, logo bist du das! Du bleibst einfach wach! Dir geht’s besser als je zuvor. Du gehst jetzt nach Hause, bringst deinem Geliebten frische Brötchen vorbei, dann ziehst du dir deine Laufsachen an und gehst joggen am Fluss. Danach Frühstück mit dem Geliebten. Dann Museum. Und Oma anrufen. Du bist so glücklich. Du hast den toten Punkt überschritten. Jetzt ist wieder alles möglich.

16 Uhr 

Du wachst auf, in deinem Bett, angezogen, die Brötchentüte liegt auf deinem Schoß, Pommesreste auf deiner Hose. Draußen wird es allmählich wieder dunkel.

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