Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

„Wir wissen nicht, wann die Pandemie bei uns enden wird“

Reiche Staaten haben einen Großteil der Impfstoffe aufgekauft.
Foto: Adobe Stock; Bearbeitung: jetzt

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Anfang Oktober lag die Corona-Inzidenz deutschlandweit bei 64,3. Und obwohl die neue Delta-Variante sich noch schneller verbreitet, gilt für mehr als 60 Prozent der deutschen Bevölkerung: Sie und ihre Angehörigen sind durch die vollständige Impfung zuverlässig vor einer schweren Covid-19-Erkrankung geschützt. Die Wahrscheinlichkeit, an einer Infektion zu sterben, ist für sie verschwindend gering. Doch diese Sicherheit besteht längst nicht überall auf der Welt. Vielen Ländern des globalen Südens stehen kaum Ressourcen zur Verfügung, einen eigenen Impfstoff zu entwickeln und zu produzieren. Zwar hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon im Sommer 2020 einen Plan für die gerechte Impfstoffverteilung erarbeitet: Alle Nationen der Welt sollten in einen Fonds einzahlen, mit dem gebündelt Impfstoff für alle erworben werden sollte. Genannt: Covax. Doch der Plan gilt nun weitestgehend als gescheitert. Unter anderem, weil reiche Länder sich darüber hinwegsetzten und bilateral Deals mit den Herstellern aushandelten. Das Ergebnis: Die zehn reichsten Nationen kauften im März 2021 knapp 80 Prozent der verfügbaren Impfstoffe auf.

Der äthiopische Assistenzarzt Akalewold trug seine Masken oft wochenlang

Unterdessen fehlen Impfdosen in den Ländern des globalen Südens. Die Nachrichtenagentur Reuters geht beispielsweise davon aus, dass in Äthiopien Anfang Oktober gerade einmal 1,6 Prozent der Bevölkerung beide Impfungen erhalten haben können. Akalewold ist einer der wenigen Geimpften. Er arbeitet als Assistenzarzt in Addis Abeba. „Es ist eine große Erleichterung für uns, geimpft zu sein“, sagt er über sich und seine Kolleg:innen. Denn obwohl er als Doktor in einem Krankenhaus arbeitet, hatte er lange Zeit nicht das nötige Material, um sich vor dem Coronavirus zu schützen. Seine Masken trug er oft wochenlang, obwohl empfohlen wird, sie mehrmals am Tag zu wechseln. Immer wieder behandelte er Patient:innen, von denen er nach drei oder vier Tagen erfuhr, dass sie positiv auf das Coronavirus getestet wurden. „Ich konnte mich damals nicht schützen, doch wenigstens bin ich jung, gesund und lebe allein“, so Akalewold. Denn viele seiner Kolleg:innen leben gemeinsam mit ihren Kindern oder Eltern. „Sie brachten nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Angehörigen in Gefahr“. 

maike voss text

Maike Voss, Leiterin des Forschungsprojekts globale Gesundheitspolitik an der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Foto: SWP

Dass eine solche ungleiche Impfsituation entstehen würde, war allerdings abzusehen: „Die Verteilung der Impfstoffe war zum Scheitern verurteilt“, sagt Maike Voss, Leiterin des Forschungsprojekts globale Gesundheitspolitik an der Stiftung Wissenschaft und Politik. Zwar habe Covax grundsätzlich Anreize geschaffen, überhaupt Impfstoffe zu entwickeln. Doch schon bevor Covax entwickelt wurde, hätten europäische Staaten den Markt leer gekauft und Impfstoffe vorreserviert. Das Problem: „Covax ist ein Verteilungsmechanismus. Gibt es keine Impfstoffe, die verteilt werden können, ist das Modell von dem Wohltätigkeitsgedanken reicher Staaten abhängig. Wir hätten einen bindenden Mechanismus gebraucht, Impfstoffe in Covax einzuzahlen.“ Wer aber nicht zur fairen Verteilung verpflichtet wird, denkt zuerst an sich.

„Es ist absurd, dass nur Deutschland allein mehr Menschen impfen konnte als der gesamte afrikanische Kontinent“

Das Resultat ist eindeutig. Während es in Ländern wie Tschad, Eritrea und Tansania im Mai noch gar keine Impfstoffe gab, wurde die Impfpriorisierung in Deutschland bereits am 7. Juni aufgehoben. Nicht nur das medizinische Personal und alle Risikogruppen hatten oder haben also bereits Zugang zu den Impfungen, sondern auch andere Bevölkerungsgruppen. Diese Ungleichheit der Impfstoffverteilung kritisieren viele junge Aktivist:innen: So auch Amina, Zahnmedizinstudentin in Berlin und Jugendbotschafterin für ONE, eine internationale Lobby- und Kampagnenorganisation, die sich gegen extreme Armut und vermeidbare Krankheiten einsetzt. „Es ist absurd, dass nur Deutschland allein mehr Menschen impfen konnte als der gesamte afrikanische Kontinent“, findet sie und fordert: „Die Politik muss sich für eine bessere Entwicklungspolitik einzusetzen, Impfdosen an Covax abgeben und zum Beispiel in Impfstoff-Produktionsstätten afrikanischer Länder investieren.“

Die ungleiche Verteilung wäre auch deshalb absehbar und vermeidbar gewesen, weil es nichts Neues ist, dass wichtige Ressourcen erst einmal unter den reichen Staaten verteilt werden. „Wir kennen es von der Schweinegrippe oder dem Ebolafieber in Westafrika“, sagt Maike Voss. „Bei solchen Infektionsausbrüchen schützen sich reiche Staaten erst einmal selbst.“ Das sei unserem Nationalstaaten-Modell geschuldet, aber „damit verkennt die Politik das globale Ausmaß der Pandemie“. Es hätte allerdings durchaus Möglichkeiten gegeben, dieser ungerechten Verteilung entgegenzuwirken: „Wir hätten die Impfstoffpriorisierung der WHO global umsetzen müssen.“ Dann wären weltweit zuerst medizinisches Personal und stark gefährdete Risikogruppen geimpft worden. Doch dies sei nie wirklich kommuniziert oder vorgeschlagen worden. „In der Stellungnahme des deutschen Ethikrates zur Impfstoffpriorisierung wird eine globale Impfstoffverteilung nicht erwähnt. Es ist ein großes Versagen der Regierung reicher Staaten, dass sie ihren Bürgern nicht zutraut, global zu denken“, resümiert Maike Voss. 

„Wir wissen nicht, wann die Pandemie bei uns enden wird“, sagt Isaac, 29, Geschäftsführer von SHRIN, einer Initiative, die sich in Nigeria, Gambia und Äthiopien für mehr und bessere Informationen über öffentliche, mentale und sexuelle Gesundheit einsetzt. Weniger als zwei Prozent der nigerianischen Bevölkerung haben Anfang Oktober den vollen Impfschutz. „Das ist auch deswegen gefährlich, weil es 2023 neue Wahlen in Nigeria geben soll“, erklärt Isaac. Denn ein Briefwahlsystem wie in Deutschland habe es dort bisher noch nicht gegeben. „Die Pandemie wäre dann auch eine Gefahr für unsere Demokratie.“

Voss sagt: „Wir müssen endlich beginnen, global zu denken”

Auch Esihle wünscht sich endlich eine fairere Verteilung der Impfstoffe. Die IT-Koordinatorin und Aktivistin lebt momentan in Brüssel, kommt ursprünglich aus Südafrika. Ihr Vater verstarb Anfang Juni 2020 am Coronavirus, er arbeitete im Gesundheitswesen. Für sie ist klar: Erst wenn alle Länder der Welt ausreichend Impfstoff haben, können Schicksale wie das ihres Vaters vermieden werden. Esihle betont: „In Belgien sind die Leute ungeduldig, sie wollen geimpft werden, um zu reisen oder ihre Familie wieder zu sehen. Darauf hoffen auch die Leute in Südafrika, doch die Impfdosis bedeutet für sie noch viel mehr: Sie wollen sich nicht impfen lassen, damit ihre Urlaubspläne nicht ins Wasser fallen, sondern um endlich wieder zu arbeiten und ihre Familie ernähren zu können.“

Doch was könnte jetzt noch passieren, um für eine faire Verteilung des Impfstoffes zu sorgen? „Die Welthandelsorganisation muss die Gespräche über die Freigabe möglicher Patente weiterführen, wir müssen mehr Impfstoffe an Covax freigeben und langfristig muss die Weltgesundheitsorganisation eine bessere Finanzierung erhalten“, erklärt Maike Voss. „Wir müssen endlich beginnen, global zu denken.“

  • teilen
  • schließen