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Wo gezielt die ersten Studierenden geimpft werden

In Berlin werden jetzt auch gezielt Studierende geimpft.
Fotos: Jens Kalaene, dpa, picture alliance / CDC, Unsplash

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Nach all dem Warten scheint es fast zu einfach zu sein. Aus einem weißen Gebäude der Humboldt-Universität zu Berlin treten nach und nach junge Frauen und Männer, ziehen ihre Masken ab und laufen beseelt lächelnd in den sonnigen Tag. Alle paar Minuten öffnet sich die Tür. Wieder eine mehr, wieder einer mehr – geimpft. Jetzt sind also die Vergessenen dran: die Studierenden. Seit vergangener Woche können sich Tausende von ihnen von den Betriebsärzt*innen der Hochschulen impfen lassen. Zumindest in Berlin.

Schon in der Vergangenheit setzte Berlin auf sogenannte Schwerpunktimpfungen für einzelne Gruppen der Bevölkerung. Immer wieder standen Bezirke der Stadt im Fokus, in denen besonders viele Corona-Infektionen gemeldet wurden. Nun sind deutschlandweit zum ersten Mal Studierende im Fokus, so heißt es in einer Pressemitteilung des Landes Berlin. Bundesweit impfen viele Hochschulen bereits vor allem ihre Angestellten und studentischen Hilfskräfte. Berlin stellte den etwa 160 000 Studierenden an seinen 13 staatlichen und konfessionellen Hochschulen nun aber vorerst zusätzliche 8000 Dosen zur Verfügung. Einerseits gingen die an Bewohner*innen der Wohnheime. Aber auch manche der übrigen Studierenden konnten eine Impfung ergattern, oftmals nach dem Motto: first come, first serve. Wer einen Termin bekam, hatte also Glück.

Einer von denen, die Glück hatten, ist Sanchir. Schwarze Shorts, schwarzes Shirt, die Frisur sitzt. Der 28-Jährige wartet auf der Bank vor dem Arbeitsmedizinischen Zentrum der Charité auf seinen Termin. Hier wird er gleich geimpft. Er erfuhr per Mail von dem Angebot und schrieb sich einfach auf der Website seiner Universität ein. Adresse, Name, Geburtsdatum – kurz darauf hatte er seinen Termin. „Ich war überrascht, wie leicht es ging, man bekommt normalerweise nicht einfach ein Angebot per Mail“, sagt er.

„Unsere Erfahrung ist, dass viele Studierende gelitten haben“

Er ist anderes gewohnt. Seit die Impfreihenfolge Anfang Juni aufgehoben wurde, stand er auf der Warteliste eines Hausarztes. Eine Rückmeldung bekam er nicht. Vor Juni hatte er sich gar nicht erst um einen Termin bemüht. Sanchir ist jung, hat keine Vorerkrankungen und fiel auch sonst durch das Raster der Priorisierung – so wie viele Studierende. Das ist das Dilemma: Obwohl junge Menschen eine schwere Erkrankung durch das Virus am wenigsten fürchten mussten, schränkten sie sich in den vergangenen Monaten für die Allgemeinheit ein – allerdings ausgerechnet in einer Lebensphase, die normalerweise besonders aufregend und intensiv ist. Eineinhalb Jahre nach Beginn der Pandemie ist jetzt jede*r zweite Deutsche mindestens einmal geimpft. Büros und Schulen öffnen. Doch die Gelände der Hochschulen sind nach wie vor weitgehend unbelebt.

„Die Impfungen sind ein wichtiger Schritt, um in ein Wintersemester mit viel Präsenzlehre zu starten“, äußerte sich Andrea Bör, Kanzlerin der Freien Universität Berlin, in einer Pressemitteilung. Die Pressestelle der Humboldt-Universität erklärte auf Anfrage: „Unsere Erfahrung ist, dass viele Studierende gelitten haben. Unter Geldmangel, Jobverlust, beengten Wohnverhältnissen.“ Auch die psychosozialen Folgen des Lockdowns gerade für junge Menschen hebt der Sprecher Hans-Christoph Keller hervor. „Deswegen ist die Rückkehr junger Erwachsener in das Studienleben wichtig, wie auch die Rückkehr anderer Menschen ins Arbeitsleben.“

Auch Sanchir schränkte sein Sozialleben ein. Er traf seine Freund*innen nicht mehr in der Mensa oder in der Bibliothek. Stattdessen war er während der Lockdowns meist allein in seiner Wohnung. Aber es sei schon in Ordnung gewesen, sagt er. So sei es nun mal mit Corona. Junge Menschen lernten, es zu nehmen, wie es kommt. Gelassen lehnt sich Sanchir auf der Bank zurück. Wenn er endlich zweifach geimpft ist, hat er Pläne: „Jeden Tag ins Fitness – ohne Test. Ins Restaurant – ohne Test. Ins Labor – ohne Test“, schwärmt er. Für seine Bachelorarbeit muss der Biologiestudent seit diesem Semester fast täglich im Labor arbeiten. Die Impfung wird ihm das Studium erleichtern.

Wie viele Studierende und allgemein junge Menschen in Berlin und den übrigen Bundesländern noch auf einen Termin warten, ist oft nicht klar. Zahlen über eine Impfquote der 20- bis 30-Jährigen konnte das Robert-Koch-Institut auf Anfrage nicht nennen. Verantwortliche Ministerien in Bayern, Sachsen, NRW und Hamburg äußerten sich der jetzt-Redaktion gegenüber zuversichtlich, dass sie bis zum Start des Wintersemesters im Herbst allen Studierenden ein Impfangebot machen können. Vielerorts berate man über die Umsetzung. Eine Schwerpunktimpfung ähnlich der in Berlin stellte zum jetzigen Zeitpunkt jedoch keines der befragten Länder in Aussicht. Einige der Länder vertrösten mit der Möglichkeit, sich über freigewordene Termine in Impfzentren zu informieren, individuelle Programme einzelner Universitäten wahrzunehmen oder Hausärzt*innen aufzusuchen. So werden sich einige Studierende wohl noch länger mit einem „bald“ zufrieden geben müssen.

Sanchir muss nicht mehr warten. Er ist schon in dem weißen Haus verschwunden. Über den Platz vor dem Zentrum läuft jetzt eine junge Frau. In einer Mappe trägt sie ihre Impfunterlagen. Katja, 25, viele kleine und zwei große Ohrringe, hat heute ebenfalls einen Termin. Für ihren Master zog sie nach Berlin. Während der Pandemie. „Ich konnte keine sozialen Kontakte aufbauen“, sagt sie, „und gerade im Bereich Kulturwissenschaft ist es wichtig, sich mit anderen über Praktika und berufliche Perspektiven auszutauschen.“

Katja verfolgte in den Nachrichten, dass sich erst Alte und Vorerkrankte impfen lassen konnten. Andere Bevölkerungsgruppen folgten, wie Lehrer*innen oder Angestellte der Hochschulen. Und als die Priorisierung aufgehoben wurde, sprachen plötzlich viele über Impfungen für Schüler*innen. Katja sagt, dass das der Zeitpunkt war, an dem sie sich fragte: und wir? „Ich hatte das Gefühl, dass unsere Altersgruppe hinten runterfällt“, sagt sie. Sie befürchtete, die Zeit ihres Lebens, die Uni-Jahre, zu verpassen. Eine Hoffnung sah sie in den Impfungen. Doch bei den staatlichen Zentren suchte sie vergebens einen Termin. „Es war frustrierend“, sagt sie.

Sanchir hofft, dass ein paar Aspekte aus der Online-Lehre bleiben

Aber auch Katja ist eine von denen, die Glück hatten. Glück, dass sie in genau dem Moment ihre Uni-Mails checkte, in dem die Nachricht über die Impfmöglichkeit kam. Katja rief sofort eine Freundin an. Beide gaben ihre Daten in das Formular der Uni-Website ein – und tatsächlich: Sie hatten einen Termin. „Ich fühle mich sehr privilegiert“, sagt sie. Seit Beginn der Pandemie hat Katja ihre Großeltern in Russland nicht besucht. Um sie zu schützen. Nun wird sie ihre Familie wohl bald wiedersehen können.

Berlin plane weitere Schwerpunktimpfungen für Studierende, sagt Matthias Kuder, Sprecher des Wissenschaftssenats Berlin. Wann es soweit ist, sei davon abhängig, wie viele Dosen das Bundesland zur Verfügung hat. Gelegentlich habe ein Bundesland mehr frei verfügbare Dosen als ursprünglich abzusehen war. Etwa, wenn der Bedarf an anderer Stelle geringer ausfalle oder mehr Impfstoff geliefert werde. Dann könne die Regierung entscheiden, an wen die zusätzlichen Impfungen gingen. Berlins Bürgermeister Michael Müller ist auch Senator für Wissenschaft und Forschung. In der Vergangenheit habe er öffentlich gemahnt, die Belange der Studierenden in der Impfkampagne nicht aus dem Blick zu lassen, so Kuder. Impfungen für Studierende sind also eine Frage der Priorisierung, mal wieder. Und auch 8000 Impfdosen sind erstmal nur ein kleiner Schritt für mehr als 160 000 Studierende. Zumindest, solange nicht klar ist, wie viele der Studierenden noch auf eine Impfung warten.

Aus dem weißen Gebäude der Universität kommen weiterhin junge Menschen. Noch einer, noch eine, auch Sanchir kehrt zurück. Geimpft. Wie er jetzt in die Zukunft gehe? Er zuckt mit den Schultern. Als einen Wendepunkt der Pandemie sieht Sanchir seine Impfung noch nicht. Er hoffe sogar, dass ein paar Aspekte aus der Online-Lehre bleiben. Zum Beispiel, dass die Vorlesungen aufgenommen werden und so jederzeit abrufbar sind. Den Austausch mit Freund*innen auf dem Campus wünsche er sich schon zurück. Doch wann und wie das Leben an den Hochschulen wiederkehrt, wird wohl auch davon abhängig sein, wie bald alle Studierenden, die möchten, geimpft werden.

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