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Die Diskussion um das „Männerwelten-Video“ ist viel zu elitär

Illustration: FDE

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„Das wird hart und bitter“ – so beginnt das „Männerwelten“-Video, das mittlerweile so ziemlich jeder gesehen haben sollte. Im Rahmen der gleichnamigen fiktiven Ausstellung machten Joko und Klaas gemeinsam mit Sophie Passmann, Palina Rojinski, Visa Vie und anderen deutschen Personen der Öffentlichkeit auf sexuelle Belästigung gegenüber Frauen aufmerksam. Thematisiert werden Dickpics, verbale sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen. Das Video ging viral und stieß auf viel positive Resonanz, aber auch auf kritische Stimmen. Nicht nur von Männern, die meinen, „dass das doch alles eh nicht so schlimm ist und sich die Frauen nicht so aufspielen sollen“. Zu denen kommen wir später. 

Viel interessanter ist nämlich das andere Kritik-Lager. Jenes hat sich in einer Instagram-Bubble zusammengebraut, seine Argumentation geht ungefähr so: In dem Video sind hauptsächlich weiße, normschöne Frauen zu sehen – PoC, Frauen mit Behinderungen, Transfrauen, Intersexuelle kommen in dem Video kaum vor und fühlen sich nicht repräsentiert.* Ist diese Kritik wichtig und richtig? Natürlich. Liegt das überhaupt in meiner Hand, so etwas als heterosexuelle, weiße Frau zu entscheiden? Natürlich nicht. Keine Frage: Dass man in einem Video mit einer solch großen Reichweite, produziert von Menschen, die dieses Bewusstsein eigentlich haben sollten, im Jahr 2020 auf mehr Diversität setzen sollte, als man im Video sehen kann, ist absolut klar. Und jetzt kommt der Knackpunkt: 

Ist das wirklich jedem klar? Es ist den privilegierten, gebildeten Menschen klar. Aber was ist denn mit den Tätern, den Männern, die Dickpics verschicken, Frauen auf der Straße nachpfeifen, oder abfällige Hasskommentare verfassen? Ich denke nicht, dass die sich über so was Gedanken machen. Denen ist ja in vielen Fällen nicht einmal bewusst, dass das, was sie da tun, überhaupt falsch ist. Um jetzt nicht Birnen mit Äpfeln zu vergleichen: Das Video zeigt eine Problematik auf, mit der so ziemlich jede Frau schon einmal konfrontiert war. Eine Problematik, die vielen Männern vielleicht erst jetzt klar wird. Eine Problematik, die genau die Männer ansprechen sollte, die Täter sind. Eine Problematik, die endlich im Mainstream angelangt ist. Dass das, was unzähligen Frauen widerfährt, wirklich „hart und bitter“ ist. Guten Morgen, liebe Männer. 

 

Wenn Gendern schon ein Fremdwort ist 

Um das Ganze nochmal herunterzubrechen: Der Großteil der Männer, an die dieses Video gerichtet ist, weiß nicht einmal, wozu Gendern gut ist oder was das überhaupt bedeutet – was sollen die dann mit Begriffen wie „intersektioneller Feminismus“ anfangen? Der Großteil unserer Gesellschaft, egal ob männlich oder weiblich, bewegt sich nicht in den Kreisen der woken Instagram-Bubble. Die Mehrheit ist eben nicht die belesene, politisch korrekte, Missstände aufzeigende Blase. Man kann diese Debatte nicht auf so einem hohen Level beginnen. Hier muss man viel weiter unten ansetzen, auch wenn das viele nicht wahrhaben wollen.

Sagen wir einmal, ein 20-jähriger Stefan aus dem Plattenbau sieht dieses Video. Oder ein 20-jähriger Hakan, Pierre oder Korbinian. Wurscht, nennen wir ihn trotzdem Stefan. Stefan pfeift regelmäßig Frauen auf der Straße nach, um sein fragiles männliches Ego zu pushen – ohne Erfolg.  Er macht das, weil seine Freunde das auch immer schon gemacht haben. Er ist ein Mitläufer. Stefan sieht nun dieses Video und die Rädchen in seinem Kopf beginnen, sich zu drehen. Scheinbar ist das, was er tut, ja doch nicht so in Ordnung. Und dann liest er in den Kommentaren: „Aber was ist mit genderfluiden Personen, was ist mit FLINT-Personen, was ist mit Frauen, die sich nicht als solche fühlen?“ Stefan versteht die Welt nicht mehr, schüttelt den Kopf und macht den Tab wieder zu. Bildungsauftrag verfehlt. 

Diese Diskussionen sind unglaublich elitär

Ganz ehrlich? Ich als gebildete, privilegierte Frau, die sich seit Jahren mit Migration, Diversität und Geschlechterrollen auseinandersetzt, sehe mich manchmal in so einem Stefan wieder. Ich lerne gerne dazu, verfolge die Diskussionen zu diesen Themen, und trotzdem verstehe ich manchmal nicht, was ein Begriff bedeutet oder wo man genau bei einer Problematik ansetzen sollte. Ich lerne ständig dazu. Was ist dann mit den Menschen, denen die Bildung, die Zeit oder ganz einfach das Bewusstsein fehlt, sich damit zu beschäftigen?

Es ist ja im Grunde genommen immer dasselbe: Eine Problematik kommt im Mainstream an und wird durch einen oberlehrerhaften Ton der oberen Zehntausend vom Tausendsten ins Hundertste diskutiert. Diese Diskussionen sind unglaublich elitär. Es sind ironischerweise dieselben Strukturen, die von den oben genannten oft und gerne kritisiert werden. Sich mit Political Correctness, all den Begriffen und Abwandlungen auseinanderzusetzen und sich damit gut auszukennen, ist ein wahnsinniges Privileg. Ein Privileg, das diejenigen, die es haben, auch einsetzen wollen und sollen. Aber es zeugt gleichzeitig auch von einer gewissen Arroganz denjenigen gegenüber, die eben noch nicht so weit sind oder nicht so weit sein können. Von diesem hohen Ross herab lässt es sich leicht urteilen. Wenn man sich innerhalb einer gewissen Zielgruppe bewegt, kann man das auch. Darüber diskutieren, was nicht alles problematisch, ungerecht oder nicht genug inklusiv ist. Aber wenn alle miteinbezogen werden sollen, wird das wesentlich komplexer. Ironischerweise ist das dann eben null inklusiv. Und im Endeffekt geht es ja nicht um diese oberen Zehntausend – die verstehen diese Debatten innerhalb der Debatten. Aber die breite Masse versteht es nunmal nicht.

Um nochmal auf das Video Bezug zu nehmen: Joko und Klaas, die dieser Tage von der halben deutschsprachigen Welt gefeiert werden, waren es, die 2012 im Rahmen eines Gags einer Frau auf einer Messe an die Brüste und den Po gegrapscht haben. Beide machten sich dann auch noch über die junge Frau lustig. Das Video löste damals schon Empörung aus, beide Moderatoren entschuldigten sich öffentlich.

Um den Diskurs breitenwirksamer zu machen, muss man in kleineren Schritten arbeiten

Damals fanden sie so etwas erst lustig, heute verabscheuen sie es. Ich sage: Fortschritt. Augenrollen? „Na Bravo, dass die das mal gecheckt haben“? Eh. Aber daran sieht man, dass sich diese Entwicklung eben hinzieht. Dennoch geht es in die richtige Richtung. Abgesehen von dem Video und gesamtheitlich betrachtet: Ich frage mich so oft bei solchen Debatten, wie Menschen, die sich nicht damit befassen, da überhaupt mitkommen sollen. Wir sind als Gesellschaft noch nicht so weit. Die woken Menschen, die sich innerhalb der Bubble bewegen, werden diese Kritik dankend annehmen. Diejenigen, die sich damit auseinandersetzen, werden auch dazulernen. Aber der Mainstream braucht noch viel, viel mehr Grundlagen, damit so eine Debatte in der Mitte der Gesellschaft ankommt. Um den Diskurs breitenwirksamer und somit sinnvoller zu machen, muss man in kleineren Schritten arbeiten. Dazu gehört natürlich, diese Missstände aufzuzeigen, zu informieren und zu erklären – durch die, die dieses Bewusstsein haben. Aber bitte ohne dabei so von oben herab zu handeln, sondern so, dass es wirklich bei allen ankommt. Gelebte Inklusion. 

* Edit: In einer früheren Version des Kommentars stand hier, dass unter anderem PoC in dem Video nicht vorkommen. Das ist nicht richtig. Ob sie im Video angemessen repräsentiert sind, ist aber weiterhin streitbar.

*Unsere Redaktion kooperiert mit biber  –  was wir bei JETZT ziemlich leiwand finden. Als einziges österreichisches Magazin berichtet biber direkt aus der multiethnischen Community heraus – und zeigt damit jene unbekannten, spannenden und scharfen Facetten Wiens, die bisher in keiner deutschsprachigen Zeitschrift zu sehen waren. biber lobt, attackiert, kritisiert, thematisiert. Denn biber ist „mit scharf“. Für  ihre Leserinnen und Leser ist biber nicht nur ein Nagetier. Es bedeutet auf türkisch „Pfefferoni“ und auf serbokroatisch „Pfeffer“ und hat so in allen Sprachen ihres Zielpublikums eine Bedeutung. Hier kannst du die aktuelle Ausgabe sehen.

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