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„Ich möchte nicht konstant schauen müssen: Wo ist mein nächster Job?“

Teilzeit und befristet: Viele junge Wissenschaftler*innen leiden am System.
Foto: Julia Koblitz / unsplash / Bearbeitung: jetzt

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„Hanna weiß, dass man eine Karriere in der Wissenschaft frühzeitig planen muss.“ – Unter anderem dieser Satz führt gerade zu viel Frust bei jungen Wissenschaftler*innen auf Twitter, von manchen wird er sogar als Hohn verstanden. Hintergrund ist ein Video des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), in dem das sogenannte Wissenschaftszeitvertragsgesetz erklärt wird. In der Wissenschaft gibt es seit Jahren immer noch eine hohe Anzahl an befristeten Verträgen, das Gesetz wird scharf kritisiert.

Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz gibt seit 2007. Es soll die zeitliche Befristung von wissenschaftlichem und künstlerischem Personal an staatlichen Hochschulen und Forschungseinrichtungen regeln. In dem Video wird anhand des Beispiels von Hanna, einer Biologie-Doktorandin, erklärt, dass das Gesetz wichtig sei, damit „nachrückende Wissenschaftler*innen die Chance auf den Erwerb dieser Qualifizierungen haben und nicht eine Generation alle Stellen verstopft.“ Nach dem Gesetz dürfen wissenschaftliche Mitarbeiter*innen maximal zwölf Jahre befristet angestellt sein. Viele beschweren sich, seit Jahren ausschließlich in befristeten Arbeitsverhältnissen arbeiten zu müssen. Zukunfts- oder Familienplanung sei da kaum möglich.

Mehr als 14 000 Tweets gibt es bereits, der Hashtag ist seit Donnerstag in den deutschen Twitter-Trends. Obwohl das Video des BMBF aus dem Jahr 2018 ist, scheint es auch heute noch einen Nerv zu treffen. Nachdem der Historiker Sebastian Kubon das Video am Donnerstag in einem Tweet als verhöhnend bezeichnete, haben viele junge Wissenschaftler*innen begonnen, ihre persönlichen Erfahrungen zu teilen:

Zusammen mit Kubon haben Literaturwissenschaftlerin Kristin Eichhorn und Philosophin Amrei Bahr den Trend initiiert. Letztere erklärte im Interview gegenüber jetzt, dass vor allem junge Wissenschaftler*innen, also Promovierende und Post-Doktorand*innen, mehr Stunden arbeiten würden als vertraglich festgelegt: „Häufig läuft der Vertrag gar nicht lang genug, um die Dissertation oder Habilitation überhaupt fertigzustellen.“ Das Gesetz schütze die Beschäftigten nicht, sondern sei vielmehr ein persönliches Risiko.

Genau in dieser Situation steckt Doktorandin Annika Spahn, die schreibt, ihr Job mache ihr zwar Spaß – die Unsicherheit setze ihr aber massiv zu. 

Seit dem Beginn ihrer Promotion im Jahr 2017 hat sie bereits mehrere ein- oder zweijährige Stellen an verschiedenen Universitäten gehabt, die thematisch gar nichts mit ihrer Dissertation zu tun hatten – ansonsten fehle das Geld, erzählte Annika jetzt am Telefon. Gerade schreibe sie mit finanzieller Hilfe eines Familienmitgliedes ihre Dissertation zu Ende und habe nebenher nur noch eine kleine Stelle. Sie störe auch die fehlende Planungsmöglichkeit: „Ich würde gerne mit meiner Partnerin planen können, wo wir in fünf Jahren sind. Ich möchte nicht konstant schauen müssen: Wo ist mein nächster Job?“

Psychologin Christine Blume sagte gegenüber jetzt, dass Fünfzig- bis Sechzig-Stunden-Wochen für sie normal waren, um neben der Dissertation auch noch Geld verdienen zu können. Das betont sie auch auf Twitter:

„Das kostet unglaublich viel Kraft. Man muss sich jeden Tag fragen, ob man das weiter machen will“, erzählt sie im Interview. Gerade hat sie eine Stelle an der Universität Basel, die noch bis März 2022 läuft. „Letztes Jahr hatte ich die Situation, dass ich im November nicht wusste, wo ich im April sein werde.“ Das erzeuge einen unglaublichen Druck. Man müsse nebenbei auch noch publizieren, sich weiterbilden und „am besten eine eierlegende Wollmilchsau sein.“ Jede*r strebe auf eine Professur hin, die wenigsten würden es schaffen. 

Diese Aussichten schrecken viele Menschen, die eigentlich Lust auf eine Karriere in der Wissenschaft hätten, ab. Auch dieser Twitter-Nutzer hat sich trotz Angebot deswegen gegen eine Promotionsstelle entschieden:

Die eigene Familie zu versorgen ist mit unsicheren Zukunftsaussichten schwer:

Nichtsdestotrotz darf man auch nicht vergessen, dass es Wissenschaftler*innen of Color noch schwerer haben, überhaupt an Stellen zu kommen. „Regelmäßig bekomme ich Vortragsanfragen von allen Universitäten, aber wenn ich mich für Stellen bewerbe, immer nur Absagen“, schreibt Reyhan Şahin, vielen besser bekannt als Lady Bitch Ray, im Thread. 

Mit dieser Perspektive ist sie nicht allein. Nutzerin Maha El Hissy schreibt:

Auch Mitinitiatorin Bahr betont im Interview, dass Diversität in der Wissenschaft oft nur ein Lippenbekenntnis sei: „Bei dem Video wird gar nicht klar, dass hinter Hanna Menschen stecken, die Familien zu versorgen haben, die ein Leben jenseits der Wissenschaft haben, die aus unterschiedlichen Kontexten kommen. Und dass vielen ein Weg in die Wissenschaft verwehrt bleibt, etwa weil sie sich die Arbeit unter prekären Bedingungen nicht leisten können. Faire Teilhabechancen sehen anders aus.“

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat sich bislang nicht zu dem Hashtag und der Kritik an dem Video geäußert. Mitinitiatorin Bahr wünscht sich für die Zukunft eine Reformation des Gesetzes, sodass Promovierende und Postdocs genügend Zeit und Geld für ihre Arbeit bekommen. Sie freut sich, dass durch den Trend „die Menschen ein Gesicht bekommen, die durch dieses System verheizt werden.“

lill

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