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„Du bist unerfahren und naiv, er unzufrieden in seiner Beziehung“

Illustration: Federico Delfrati

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Als Teenager führte unser Autor ein Online-Tagebuch. Es begleitete seinen langen, harten und oft einsamen Weg zu seinem Coming-out und zu der Person, die er heute ist. In dieser Kolumne schreibt er heute, mit 33, seinem jüngeren Ich die Briefe, von denen er glaubt, dass sie ihm damals geholfen hätten.

Augsburg, 2010:

„Antwortbrief erhalten.

Er: ,Ich empfinde einfach nicht SO für dich, war aber zu feige, es zu sagen, hab dich aus Selbstschutz absichtlich mit den Aussagen verletzt, du bist mir so wichtig blablabla, ich wollte nie so sein wie die anderen, jetzt bin ich vermutlich noch schlimmer.‘

Ja, bist du.

,Ich möchte für dich da sein ... als Freund!‘

Fuck you.

Liebe ist für mich gestorben. Weil ich kein bisschen auf mich selbst hören kann und ich immer und immer und immer wieder verarscht werde. Ich finde, jetzt habe ich wirklich allen Grund, eine verbitterte, alte, alleinlebende Schwuchtel zu werden. YES, perfekter Plan!“

Köln, 2019:

„Lieber David,

ich dachte mal, es gäbe nichts auf dieser Welt, das mein Leben so bereichern könnte wie neue ,Gilmore Girls‘-Folgen. Dann kam das Netflix-Sequel und meinen Jauchzer hat man bestimmt bis ins fiktionale Stars Hollow gehört. Nach den ersten fünf Minuten war ich allerdings so versteinert wie die Mimik der Hauptfigur Lorelai. Diesen Unfall in vier Akten hat wirklich kein Mensch gebraucht. Und genau so denke ich neun Jahre später über den Mann aus deinem Eintrag. Über seinen Brief, aber auch über deinen minimal dramatischen Plan.

Er schreibt dich auf GayRomeo an. Du bist unerfahren und naiv, er unzufrieden in seiner Beziehung. Er projiziert all seine Sehnsüchte auf dich. Das verwirrt dich, du hast Bedenken, sagst: ,Ich mache sowas nicht.‘ Das macht dich nur noch interessanter. Er stellt dich auf ein Podest, idealisiert dich und bemüht sich so sehr um dich, dass du dir vorkommst wie die Fünftklässlerin mit den seltensten Diddl-Blockblättern. Er spricht von Liebe. Alles völlig neu für dich – und so aufregend! Dann trennen er und sein Freund sich. Ist es das jetzt etwa wirklich dein großes Liebesdebüt? Weil du das so sehr hoffst, bekommt die skeptische Stimme in deinem Hinterkopf Bühnenverbot. Du lässt dich auf den Mann ein.

Plot-Twist: Genau ab diesem Zeitpunkt bist du nicht mehr aufregend oder interessant. Er beginnt, dich zu verunsichern, zu beschimpfen, zu verarschen. Einmal setzt er sich mit seinem schweren Körper auf deine Arme, hält deinen Mund zu und drückt dir gegen deinen Willen eine Poppers-Flasche an die Nase (Anm. d. R.: Poppers enthalten eine flüssigen Droge und sind besonders unter schwulen Männern verbreitet). Selbst das nimmst du hin, weil du befürchtest, sonst wieder alleine zu sein. Sein feiges Ziel ist es, dich so lange zu verletzen, bis du das Ganze beendest, damit er es nicht tun muss. Nach dem Brief, den du zitierst, führt ihr ein Gespräch, in dem er sich selbst zu einem Opfer der schwulen Welt stilisiert. Er wolle das alles nicht, aber er könne nichts für sein Verhalten. Er sei selbst einmal ähnlich behandelt worden. Jetzt sei er wohl selbst so geworden und er verachte sich dafür. Da verspürst du Mitleid und ziehst ernsthaft eine Freundschaft in Erwägung.

Dann das Trash-Soap-Finale: Als ,Freund‘ ballert er sofort die nächsten unnötigen Lügen raus und benimmt sich dabei unauffällig wie Lady Gaga auf einem roten Teppich. Also schnippst du den Trottel endlich aus deinem Leben. Zum Glück! Merke dir, Menschen wie er waren, sind und werden niemals Freunde oder gar Partner sein. Sie sind das Gegenteil. Nimm dich in Acht, denn diese Art Mensch wirst du nicht zum letzten Mal getroffen haben.

Lügen als Selbstschutz werden selbstverständlich ­– die größte von allen lebt man ohnehin selbst

An seinem selbstgerechten Erklärungsversuch könnte aber etwas dran sein. Menschen verletzen andere Menschen, weil sie selbst verletzt wurden. So ziemlich jeder, der Bahnen im Dating-Pool zieht, hört solche Monologe über Beziehungsunfähigkeit, ganz egal, welches Geschlecht und welche Orientierung ein Mensch hat. Das ist also kein exklusives Homo-Phänomen.

Trotzdem kommt es mir oft so vor, als kämen solche Erfahrungen frei Haus mit dem Gay-Life-Starterkit. Mal ehrlich: Ist die Annahme so abwegig? Wir leben zwar im 21. Jahrhundert, aber viele junge Menschen haben, wie du aus eigener Erfahrung weißt, massive Probleme wegen ihrer Homo- oder Bisexualität. Fast alle LGBT kennen beispielsweise die Angst, dass Familie und Freunde sie nicht mehr so sehen wie vorher, vielleicht sogar verstoßen. Das ist traumatisch. Lügen als Selbstschutz werden selbstverständlich ­– die größte von allen lebt man ohnehin selbst. Bei vielen schwulen Männern manifestiert sich all das im Gedanken, Liebe nicht verdient zu haben. Wer das glaubt, hat es wiederum schwer, selbst Liebe geben zu können. Dass dabei andere Menschen verletzt werden, dürfte jedem klar sein. Und schon sind wir mittendrin im Teufelskreis.

Eine Entschuldigung ist das trotzdem nicht. Bitte greif nicht auf Ausreden und Lügen zurück. Klar, dieser Weg ist einfach – aber eben selbstgerecht und rücksichtslos. Auch, wenn es manchmal anstrengend ist, unangenehm und schwierig: Es fühlt sich einfach besser an, andere Menschen so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte.

Du kannst und solltest sehr wohl auf dich hören

Sei aber nicht nur ehrlich zu anderen, sondern auch zu dir selbst. Denn fast ein Jahrzehnt nach deinem Eintrag habe ich analysiert: Dein Gefühl trügt dich selten. Du warst misstrauisch bei diesem Mann. Du hast gespürt, nein, du hast gewusst, dass etwas nicht stimmt und er nicht der Richtige ist. Aber du hast dich einlullen lassen und dich in der Sehnsucht nach Zuneigung verloren. Es tut mir leid, dass du so verarscht wurdest. Aber statt den Schmerz an andere weiterzugeben, hast du jetzt trotz Wut und Kummer die Chance, etwas zu lernen.

Schraub das Dramalevel kurz ein paar Stufen runter und sei ehrlich zu dir: Du sagst, du könntest nicht auf dich hören. Dabei haben alle Warnsignale so hysterisch geblitzt wie ein Strobogewitter im Club. Du hast sie ignoriert, weil du so sehr ein Happy End wolltest. Du kannst und solltest also sehr wohl auf dich hören – dein Fehler war es, dich nicht an das zu halten, was du gehört hast. Mach dich auf die Suche nach dem Mittelweg zwischen vertrauensseligem Naivling und misstrauischem Gefühlskühlschrank. Ich verspreche dir, du wirst ihn finden. Dabei wirst du zwar noch ein paar Mal mit dem Gesicht auf den Boden klatschen, aber du wirst fündig und weder alleine noch verbittert enden. Zum Schluss der wichtigste Tipp von allen: Stößt du bei der Suche auf neue ,Gilmore Girls‘-Folgen, ignoriere sie. Danken kannst du mir später.

Schöne Grüße aus Stars Hollow

Dein David“

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