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Grauzonen gibt es nicht: Ein Ratgeber über Warnsignale bei Machtmissbrauch
In ihrem Ratgeber „Grauzonen gibt es nicht“ wollen die jungen Autorinnen Sara Hassan und Juliette Sanchez-Lambert mit dem Mythos aufräumen, dass sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch einem bestimmten Bild entsprechen müssen, um als solche überhaupt wahrgenommen zu werden. Auch anlässlich ihrer Erfahrungen mit Machtmissbrauch in verschiedenen EU-Institutionen in Brüssel, haben sie aufbauend auf Geschichten von Betroffenen ein „Red Flag System“ zusammengestellt. Es soll als Frühwarnsystem für übergriffiges Verhalten dienen und Menschen helfen, ihre persönlichen Grenzen zu schützen. Sara Hassan erzählt im Gespräch mit jetzt von ihren Ratgeber, den es seit November 2020 gratis online gibt, und von ersten Warnsignalen, auf die man hören sollte.
jetzt: Gab es für dich einen persönlichen Anlass, dich mit dem Thema Machtmissbrauch und sexueller Belästigung in unserer Gesellschaft zu befassen?
Sara Hassan: 2015 haben ein paar Kolleg*innen und ich begonnen, in verschiedenen EU-Institutionen in Brüssel zu arbeiten. Ich zum Beispiel war als politische Referentin tätig. Wir haben gleich zu Beginn rund um diese Institutionen eine ziemlich bemerkenswerte Masse an Übergriffen erlebt. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ausgeübt wurden, fanden wir ziemlich schockierend. In der Hierarchie war es klar, dass etwa Abgeordnete über allen anderen standen. Was Menschen in Machtpositionen tun, wird nicht herausgefordert und hinterfragt. In den Raum der Menschen, die nicht in dieser Machtposition waren, Assistent*innen und Praktikant*innen zum Beispiel, wurde offensichtlich eingegriffen. Etwa durch unangenehme Bemerkungen, dass man einen anderen Job gegen eine bestimmte Gefälligkeit bekommen könne. Wir fanden das alles Andere als normal und haben beschlossen, uns dagegen zusammenzuschließen. Wir haben ein Netzwerk gegründet, die Vorfälle festgehalten, Strategien ausgetauscht und ein Repertoire an unterschiedlichen Techniken zusammengestellt, um auf solche Situationen reagieren zu können. Das war der Beginn. Später wurden auch viele durch den Blog „MeTooEP” dokumentiert, den es immer noch gibt.
Wenn man nicht schwach wirkt, wird einem häufiger nicht geglaubt
Habt ihr diese Täter*innen zur Rede gestellt oder euch über sie beschwert?
Betroffene sind oft nicht in der Situation, die Menschen, die ihre Macht missbrauchen, zur Rede zu stellen. Es gibt ein Abhängigkeitsverhältnis, Hierarchien und wer sich dagegen stellt, muss oft mit empfindlichen Konsequenzen rechnen. #metoo hat gezeigt, dass solche Fälle nicht für immer unter den Teppich gekehrt werden können und sich oft auf dem einen oder anderen Weg Bahn brechen können, insbesondere wenn sich Betroffene organisieren. Allerdings gilt es zu bedenken, dass leider mit starken zum Teil existentiellen Folgen für Betroffene einhergehen kann, wenn sie ihre Fälle veröffentlichen. Es ist zum Beispiel eine gängige Reaktion von Täter*innen, sofort auf Gegenanzeige oder Unterlassung zu klagen. Damit sehen sich Betroffene dann nicht nur in einer Situation, in der sie ihre Geschichte nicht mehr weitererzählen dürfen, sondern können auch in eine empfindliche finanzielle Lage getrieben werden. Wir nehmen auch am Ende des Ratgebers darauf Bezug. Das übergeordnete Prinzip unseres Guides ist daher auch, dass wir Betroffene in eine sichere Position bringen, indem wir die Geschichten anonymisieren.
In eurem Ratgeber sprecht ihr viele Mythen zum Thema sexueller Belästigung und Machtmissbrauch an, die ihr aufbrechen wollt. Welche sind dir persönlich besonders wichtig?
Jener, wie Betroffene auszusehen haben. Massenmedial werden, besonders bei Frauen, oft bestimmte Attribute in den Vordergrund gerückt. Betroffene werden häufig als schwach und ausgeliefert dargestellt. Wenn du dich allerdings nicht so fühlst oder von außen nicht so gesehen wirst, wird dir schnell nicht geglaubt. Wenn ein Fall öffentlich wird, werden Betroffene dann oftmals als Karrierist*innen dargestellt, die sich rächen wollen. Die hinterlistig sind und sich absichtlich in eine Position und ein Umfeld begeben, von dem sie wüssten, dass es schädlich ist. In beiden Fällen wird also das falsche Bild erweckt, dass die Betroffenen selbst Schuld an der Situation sind. Diese Klischeevorstellungen sind weit verbreitet. In Boulevardmedien, doch sogar in Prozessen vor Gericht, von dem man hoffen würde, dass es objektiv ist.
Gibt es auch auf Täter*innen-Seite bestimmte Klischeevorstellungen?
Auch von Täter*innen gibt es klassische Profile. Entweder sind sie die absurd reichen Magnaten, die Leute in eine Hotellobby einladen können, über die sie alleine verfügen. Oder es sind Menschen am Rande der Gesellschaft. Eher arme und rassifizierte Männer ohne Bildung. Diese Stereotype sind praktisch, weil sich der Durchschnitt davon distanzieren kann. Tatsächlich ist Machtmissbrauch aber kein Randphänomen, sondern findet mitten in der Gesellschaft statt: Oft kennen Betroffene ihre Täter*innen sehr gut und sind gemeinsam mit ihnen im selben sozialen Umfeld unterwegs.
Was kann man tun, um mit solchen Mythen aufzuräumen?
Sehr viel interessanter als solche Täter*innenprofile zu erstellen ist es, sich Systeme anzuschauen. Zu überlegen, unter welchen Voraussetzungen Machtmissbrauch ausgeübt wird. Dann muss ich nicht mehr moralische Urteile abgeben, sondern kann mir anschauen, was die Konstruktion eines Systems enthält, das Machtmissbrauch wahrscheinlich macht. Man müsste sich anschauen, wie wir diese Systeme gebaut haben, was das mit den Menschen macht und wie wir sie abbauen können, um etwas anderes zu schaffen, das den Menschen gerechter wird.
„Der entscheidende Faktor ist Macht und nicht Gender“
Könntest du ein Beispiel für ein solches System nennen?
Das können alle möglichen Institutionen sein. Ich denke unter anderem an die Politik. Es kann aber auch Bildung und zum Beispiel die Schule sein. Da geht es jetzt gar nicht so sehr darum, dass wir genderspezifisch die einen gegen die anderen austauschen müssen. Der entscheidende Faktor ist Macht und nicht Gender. Tatsächlich ist es so, dass heute in den allermeisten Fällen Belästigung und sexualisierte Gewalt von Männern ausgeübt wird. Das hat aber auch einfach den Grund, dass in den Gesellschaftssystemen, die wir entwickelt haben, Männer am längeren Hebel sitzen. Ich wage zu bezweifeln, dass das anders aussehen würde, wenn man das austauschen würde. Was es tatsächlich bräuchte, wäre eine grundsätzliche Neuverhandlung unserer gesellschaftlichen Strukturen: Also insgesamt soziale Systeme, die einen anderen Umgang mit Macht befördern. Das bedeutet zum Beispiel einen Abbau von Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnissen, sowie mehr demokratische Kontrollmechanismen für Menschen in Machtpositionen.
Wo glaubst du wird der Grundstein gelegt, der Machtmissbrauch in unserer Gesellschaft ermöglicht?
Da geht es einerseits um die eben erwähnte Struktur der Institutionen, in die wir hineinkommen, doch auch um frühe Sozialisierungserfahrungen. Wir nehmen im Ratgeber auch darauf Bezug, wie Kinder mit unterschiedlichen Rollenvorstellungen sozialisiert werden. Es kann sich zum Beispiel in toxische männliche Verhaltensweisen übersetzen, wenn junge Männer ihre Emotionen nicht ausdrücken dürfen oder können. Statt zu lernen sie zu fühlen, zu benennen und auszuhalten, werden unangenehme Emotionen und innere Konflikte dann häufig in gewalttätige Handlungen übersetzt. Sie schlagen sich zum Beispiel in Besitzansprüchen und Kontrolldenken nieder.
Ihr zeigt in eurem Ratgeber viele Warnsignale auf, die erste Anzeichen für Machtmissbrauch und Belästigung sein können. Könntest du vielleicht ein paar nennen?
Es kann damit anfangen, dass es zum Beispiel in deinem Umfeld total normal ist, dass Bodyshaming betrieben wird. Es beginnt vielleicht ganz unscheinbar. Damit, dass ständig Kommentare darüber einfließen, wer wie aussieht, wer zugenommen oder abgenommen hat. Das hat in einem Arbeitskontext nichts verloren und solche Kommentare stoßen unangenehme, entwürdigende Dynamiken an, die Benachteiligung von bestimmten Personen ermöglichen und in denen weitere Übergriffe sehr leicht möglich sind. Also ich würde sagen klassische Dinge, die unter Mobbing fallen, oder leicht dazu führen, sind definitiv erste Alarmsignale.
Was möchtet ihr Betroffenen hier für eine Botschaft mitgeben?
Man spürt eigentlich sehr schnell, dass einem etwas unangenehm ist. Ich möchte wirklich alle ermutigen dieses Gefühl dann nicht von sich zu weisen und zu denken, dass es nicht so schlimm ist, wenn eine Grenzüberschreitung noch nicht ganz extrem ist oder zum Beispiel nicht einem plakativen „Me Too “ - Fall entspricht. Machtmissbrauch ist ein ganzes System aus Verunsicherung, psychischem Druck, Abhängigkeit und Kontrollausübung. Die Grenzüberschreitungen bauen aufeinander auf: Wenn Täter*innen mit einer gewissen Aktion auf der ersten Eskalationsstufe durchkommen, geht es auf der nächsten Stufe weiter. Solche Situationen können oft schnell Fahrt aufnehmen. Wir dürfen daher schon auf die Anfangsmomente hören, in denen es auch noch mehr Handlungsspielraum gibt.
Man sollte sich auf die eigene Intuition als persönlicher Kompass verlassen, um Machtmissbrauch frühzeitig zu erkennen
Was macht es manchmal so schwer, auf diese erste Warnsignale zu hören und zu reagieren?
Ich nehme an, dass Emotionen im weitesten Sinne in einer sexistischen, patriarchalen Struktur als aufwendige, unnötige und irrationale Größe wahrgenommen werden. Als etwas, das es zu kontrollieren gilt. Etwas, das den gewohnten Fluss des Systems stört, das sehr effizient und normativ funktionieren soll. Darum werden Gefühle oft wegrationalisiert und wer dagegen hält, wird schnell als übersensibel dargestellt. Tatsächlich sind Emotionen, unser Gefühl für uns selbst und unsere Intuition unser persönlicher Kompass. Dieser innere Gradmesser ist ein wesentliches Instrument, um Machtmissbrauch frühzeitig zu erkennen. Niemand sonst kann dir sagen, was für dich passt und was nicht.
Was sind zum Beispiel erste Handlungen, die man setzen kann, wenn eine Grenze für einen überschritten wurde?
Was Betroffene angeht, möchte ich niemandem etwas vorschreiben. Insbesondere in einer solchen Ausnahmesituation, die sehr individuell bewältigt wird. Es hilft schon sehr anzuerkennen, dass etwas für dich selbst nicht Ordnung war. Betroffenen das zu vermitteln ist das erste, denn es bricht bereits damit, dass es nur die Täter*innen Perspektive gibt. Sehr hilfreich ist auch, alles zu dokumentieren. Festzuhalten was passiert ist, wer die handelnden Personen waren und ob es potenzielle Zeug*innen gibt. Was damit später passiert hängt natürlich vom Willen und den Ressourcen des/der Betroffenen ab. Doch egal was, es hilft immer eine Beweislage und ein Protokoll zu haben.
Die Autorinnen wollen das System der Roten Fahnen ausweiten. Über das solidarische Netzwerk Period können Betroffene ihre persönlichen Erfahrungen mit Belästigung teilen.