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„Keine Frau, die belästigt wird, trägt daran jemals Schuld”

Foto: Oleg Sergeichik / unsplash / Bearbeitung: jetzt

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Ob in der U-Bahn, am Strand oder auf dem Nachhauseweg – immer wieder zeigen Männer fremden Frauen ungewollt und öffentlich ihre Penisse. Trotzdem werden exhibitionistische Handlungen - so nennt man das Entblößen der Geschlechtsteile in der Öffentlichkeit – kaum angezeigt. Viele Frauen schämen sich oder wollen nicht darüber sprechen. Dabei ist Exhibitionsimus eine Form von sexualisierter Gewalt und somit eine Straftat. 

Vor einigen Wochen haben die Frauen in unserer Redaktion die Momente gesammelt, in denen ihnen Männer öffentlich und ungefragt ihre Penisse zeigten. Daraufhin haben auf Instagram auch Leserinnen ihre Erfahrungen mit uns geteilt. Wir haben diese Erlebnisse gesammelt und der Sozialpädagogin Anna Lehrmann gezeigt. Sie arbeitet beim Frauennotruf in Fürstenfeldbruck und berät Mädchen und Frauen, die belästigt oder misshandelt wurden. Anna Lehrmann hat uns erklärt, wie man als Opfer oder Zeug*in mit solchen Situationen umgehen kann.

anna lehrmann fliesstext

Anna Lehrmann, 28, arbeitet in der Frauennotrufstelle Fürstenfeldbruck

Foto: Privat

Bevor wir Anna Lehrmann die Erlebnisse unserer Leser*innen schildern, sagt sie: „Keine Frau, die belästigt wird, trägt daran jemals Schuld. Wir wollen den Frauen helfen. Wir erzählen ihnen, was sie tun können, um sich zu schützen. Aber das bedeutet nicht, dass sie sich falsch verhalten haben, wenn sie sexualisierte Gewalt erleben. Denn das würde suggerieren, dass sie Schuld tragen. Schuld trägt immer nur der Täter.“

jetzt: Viele der Erzählungen, die Leserinnen uns zugeschickt haben, spielen in der Tram oder in der U-Bahn. Ein Mädchen schrieb uns:  

„Abends in der Straßenbahn hat ein Typ meine Freundin und mich angestarrt, während er seine Hand in der Hose hatte. Als wir daraufhin das Abteil gewechselt haben, kam er uns hinterher. Es waren viele Menschen in der Bahn, anscheinend hat trotzdem niemand etwas gemerkt. Wir haben uns so unwohl gefühlt, dass wir dann schließlich früher ausgestiegen sind, um dem Mann zu entkommen.“ 

Wie hätten die Freundinnen reagieren können, was hätten die anderen Menschen machen können?

Lehrmann: Für die Menschen in der Straßenbahn gilt: Hinschauen und vor allem helfen, wenn sie mitbekommen, dass jemand belästigt wird. Dafür hätten sie nicht zwingend den Täter ansprechen müssen. Es reicht schon, mit den Mädchen zu reden. Wenn die Mädchen extra das Abteil gewechselt haben, dann hat man ihnen sicher angesehen, dass sie Angst hatten. Die Mitfahrenden können zu den Mädchen hingehen und fragen „Ist bei euch alles okay? Sollen wir was tun? Sollen wir die Polizei rufen?“ Hilfe anbieten und Anteil nehmen – das ist ganz wichtig. 

Für die Mädchen gilt: Lasst euch helfen. Wenn du dich nicht traust, den Täter anzusprechen, dann sprich eine andere Person direkt an. Sag nicht einfach: „Kann mir jemand helfen?”, sondern sprich Menschen direkt an. „Du in der roten Jacke, kannst du mir bitte helfen, ich werde belästigt.” Die Menschen brauchen direkte Ansprachen. Dann ist es einfacher zu helfen.

Eine Leserin hat erlebt, wie ein Mann auf sie und ihre Freundin ejakuliert hat. Die beiden Mädchen waren 15 Jahre alt und am Strand. Sie schrieb uns: 

„Am Strand war nicht viel los, ein Mann fiel uns aber besonders auf. Er lief mehrmals an uns vorbei, irgendwann legte er sich etwas versteckt in die Nähe und zog sich aus. Er begann an seinem Penis rumzuspielen. Wir haben unser Zeug gepackt und uns ein ganzes Stück weiter weg wieder hingelegt neben eine Familie. Wir dachten wir seien den Mann losgeworden, als es plötzlich eine merkwürdige „Flüssigkeit“ regnete. Anscheinend hatte sich der Mann in das kleine Waldstück hinter uns gestellt, uns beim Sonnen beobachtet und dann auf uns ejakuliert. Leider waren wir zu jung oder zu unerfahren, um wirklich zu begreifen, was damals passiert ist. Wir haben bis heute nicht miteinander oder mit anderen darüber gesprochen, geschweige denn Anzeige erstattet.“

Das Gefühl der Sprachlosigkeit kam in vielen Antworten vor. Welche Taktiken kennst du um damit umzugehen?

Lehrmann: Es war sehr vernünftig, dass die Mädchen sich zu einer Familie gesetzt haben. Wir empfehlen immer: Wenn du dich nicht wohl fühlst, geh in die Nähe einer Person, die  vertrauensvoll wirkt. Manchmal reicht das schon. In diesem Fall leider nicht. Ihr Verhalten hat den Mann nicht von der Tat abgehalten. Das zeigt nochmals: Nur der Täter ist Schuld.

Es wäre aber auf jeden Fall ratsam gewesen die Polizei zu rufen. Grundsätzlich gilt: Immer, wenn du dich belästigt fühlst – ganz egal wie schwer das Vergehen ist – hast du das Recht, die Polizei zu rufen. Wähl den Notruf und sag, dass du belästigt wirst. Exhibitionismus bleibt eine Straftat. Wenn du die Möglichkeit hast und du dich traust, dann ruf die Polizei. In der Regel kommen dann Streifenpolizist*innen vorbei, welche die Täter*innen zumindest vom Platz verweisen können. 

Die Polizei anzurufen, ist immer ratsam, hast du gesagt. Ist es auch immer ratsam Anzeige zu erstatten? Was bringt das?

Das ist natürlich von Fall zu Fall verschieden. Als Betroffene habe ich dann alles getan, was ich konnte. Manchen Frauen hilft das.

Wenn der Täter tatsächlich gefunden wird, kann eine Anzeige dazu führen, dass er sein Fehlverhalten einsieht. Wenn er das nicht tut, dann bleibt immerhin ein Eintrag in seiner Akte. Da viele Männer mehrmals hintereinander Frauen belästigen, können Anzeigen sinnvoll sein. Denn wenn ein Täter nicht nur einmal, sondern drei oder vier Mal angezeigt wird, dann ist es wahrscheinlich, dass er am Ende wirklich bestraft wird.

Die beiden Mädchen haben nicht darüber gesprochen, was passiert ist. Warum?

Für die beiden Mädchen muss das eine wahnsinnig unangenehme Situation gewesen sein. Dass sie mit niemandem, nicht mal miteinander darüber gesprochen haben, ist sehr typisch. Vielleicht sind sie sogar traumatisiert, vielleicht schämen sie sich. Sexualisierte Gewalt ist immer sehr stark mit Scham besetzt. Deshalb fällt es vielen Frauen und Mädchen so schwer mit ihrer Familie oder ihren Freund*innen darüber zu reden. Dann ist es eine gute Idee sich außerhalb des Freundeskreis Hilfe zu holen. Einfach mal nur mit einer anderen Person darüber zu reden, laut auszusprechen, was einem passiert ist – das kann schon sehr helfen, vor allem, wenn man noch nie mit jemandem darüber gesprochen hat. Genau dafür sind Beratungsstellen da.

Viele Frauen* erzählen, dass sie sich nicht ernst genommen fühlen oder, dass Freund*innen, Familie oder sogar die Polizei das Erlebte runterspielen. Eine Leserin rief die Polizei, nachdem ein Mann ihr im Vorbeigehen seinen Penis entblößte. Sie wartete dann im Auto vor ihrem Studentenwohnheim auf die Beamten:

„Es kamen drei Polizisten und eine Polizistin. Die vier haben mir dann ganz viele Fragen gestellt, unter anderem über den Errektionszustand des Penisses. Die Situation war super unangenehm und ich hatte das Gefühl die Polizei wisse selbst nicht, wie sie handeln sollte. Sie haben noch mit dem Mann gesprochen, der daraufhin das Wohnheimgelände verlassen hat. Ich habe ihn tatsächlich aber noch häufiger im Viertel gesehen. Ich bin verunsichert, weil ich nicht weiß, wie ich auf solche ungefragten„Auftritte“ angemessen reagieren soll. Außerdem habe ich Angst von der Polizei wegen einer Kleinigkeit belächelt zu werden. Einige Freundinnen fanden es im Nachhinein auch übertrieben, dass ich die Polizei gerufen habe.“

Auch Polizist*innen gehen offenbar nicht immer richtig mit diesen Situationen um?

Lehrmann: Vor vier Polizist*innen über den Penis sprechen zu müssen, den man gerade ungewollt gezeigt bekommen hat – das ist extrem unangenehm. Die Polizei hat aber mit Sicherheit auch gute Gründe solche Fragen zu stellen, sonst würde sie es nicht tun. Dann kann man aber ruhig sagen „Es fällt mir gerade schwer darüber zu reden, ich würde vielleicht lieber nur mit der Polizistin sprechen.“ Da muss man gut auf sich achten und auch sagen, wenn einem etwas unangenehm ist. 

Was hältst du von der Reaktion der Freundinnen?

Dass ihre Freundinnen ihr das Gefühl geben, dass sie überreagiert hat, ist schlimm. Es zeigt, dass die Bevölkerung nicht aufgeklärt genug ist. Zu sagen es ist übertrieben die Polizei zu rufen, bedeutet die Situation nicht zu verstehen. Exhibitionistische Handlungen sind eine Form von Gewalt. Im eigenen Sinne und im Sinne aller anderen Frauen, sollte man dann mutig sein und sagen: „Das ist nicht übertrieben, das ist eine Straftat, das war Gewalt und das hat mir Angst gemacht.”

Wenn ich in so eine Situation gerate und mich traue zu reagieren, wie sollte ich dann reagieren? Was sollte ich am besten sagen? 

Wenn du dich in der Situation traust etwas zu sagen, dann formulier klar und deutlich, was du willst, sag: „Hör auf damit, das überschreitet meine Grenzen. Nimm Abstand. Ich möchte das nicht sehen.“ Es ist wichtig, genau das zu sagen, was du empfindest. Kurze Sätze. Zeig, dass du angewidert bist und sag das auch. 

Hinweis der Redaktion: 

Betroffene können gegen sexuelle Belästigung vorgehen, zum Beispiel durch eine Anzeige bei der zuständigen Polizeidienststelle. Für Betroffene sexualisierter Gewalt gibt es zudem Beratungsstellen. Immer erreichbar ist zum Beispiel das bundesweite Hilfetelefon. Das Hilfetelefon ist rund um die Uhr unter der Nummer 08000 116 016 kostenlos, auf Wunsch anonym und über die Internetseite auch mit Gebärdendolmetschung erreichbar.

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