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LGBTQ-Proteste in Ungarn: Regierung verbietet queere Inhalte für Minderjährige
„Wir sind nicht allein!“
Tausende Menschen demonstrieren am 14. Juni 2021 vor dem ungarischen Parlament in Budapest. Es gibt Reden und Protestrufe, viele schwenken Regenbogen- und Trans*-Flaggen oder halten Protestschilder hoch, auf denen sie ein Ende der Regierung fordern. Am auffälligsten ist an diesem Tag aber der große Anteil von jungen Queers: Teenager und junge Erwachsene, die für ihre Zukunft in Ungarn auf die Straße gehen. Denn drinnen laufen die Verhandlungen über ein neues Gesetzespaket. Es bedeutet einen weiteren Einschnitt in das Leben und die Rechte von LGBTQIA+-Personen im Land.
Es geht um ein Verbot der „Darstellung und Förderung einer Geschlechtsidentität, die von dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht abweicht, einer Änderung des Geschlechts und der Homosexualität“ in Schulen und in jeglichen Medien, die Kinder und Jugendliche erreichen. Das heißt zum Beispiel: In Filmen für Kinder darf in Zukunft nur noch hetereosexuelle Liebe zu sehen sein. Alles, was davon abweicht, wird verboten. Darüber hinaus soll für unter 18-Jährige auch Werbung verboten werden, in der queere Menschen als Teil einer Normalität erscheinen. Außerdem dürfen nur noch staatliche Träger*innen und Einzelpersonen Sexualaufklärung an Schulen leisten. Als Begründung für das alles nennt die Regierung: Kinderschutz.
Das ist aber nicht alles. Das Gesetzespaket beinhaltet nämlich gleichzeitig auch die härtere Bestrafung von sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige. „Das ist ein perfides und gefährliches politisches Spiel“, sagt Andrea, 29, im Telefongespräch mit jetzt. So werde LGBTQIA+-Aufklärung und sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige verknüpft und ersteres stigmatisiert. Andrea ist lesbisch und koordiniert das Freiwilligennetzwerk des ungarischen LGBTQIA+-Bildungsprogramms Melegség és Megismerés, das als unabhängiger Bildungsträger von der neuen Gesetzeslage betroffen ist. Seit 2000 läuft das Programm und wird von der lesbischen Organisation Labrisz und der LGBTQIA+ Organisation Szimpozion organisiert. Andrea sagt: „Seit Jahren werden in Ungarn konstant Minderheiten als Feindbilder kreiert und für politische Ziele genutzt. Dieses Gesetz ist für alles, aber nicht für den Schutz von Kindern und Jugendlichen.“ Die Nichtregierungsorganisation Háttér Társsaság hat in einer 2017 durchgeführten Untersuchung erhoben, dass 82 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit LGBTQIA+-Hintergrund in Ungarn im vergangenen Schuljahr verbal und 22 Prozent körperlich belästigt wurden. „Die Schulen sind darauf nicht vorbereitet. Ohne entsprechende Bildungsprogramme werden diese Schüler*innen noch stärker isoliert,“ so Andrea.
„Ich bin mir sicher, dass hiernach noch etwas kommt“
Schon Ende 2020 kommentierte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán das Erscheinen des antidiskriminierenden Kinderbuchs Meseország Mindenkié (übersetzt: Märchenland für alle), das auch LGBTQIA+ Held*innen abbildet, mit den Worten: „Lasst unsere Kinder in Ruhe.“ „Ich habe damals noch gedacht: Mal sehen, wie lange wir dieses Buch noch kaufen können“, erinnert sich Sára, 23, Ungarin und queer. Diese Unsicherheit hat sich in den letzten Wochen, als klar wurde, dass das neue Gesetz kommen wird, noch verstärkt, erzählt sie im Videocall mit jetzt: „Wir wissen einfach nicht, wie sie dieses Gesetz umsetzen und wie es unsere Leben als LGBTQIA+-Personen beeinflussen wird. Dürfen bestimmte Bücher gar nicht mehr verkauft werden? Werden queere ungarische Autor*innen und Künstler*innen nicht mehr gelehrt? Und es gibt ja immer noch das Internet. Fangen sie im nächsten Schritt damit an, dass wir Netflix nicht mehr aus Ungarn streamen dürfen?“
Auch Lili, 28, macht die Unklarheit des Gesetzes Angst. Sie ist eine trans Frau und macht aktuell ihr Diplom zur Lebensmitteltechnikerin in Ungarn. Sie sagt: „Ich befürchte, dass zum Beispiel Fernsehsender umso vorsichtiger sein werden, eine Serie zu zeigen, bei der sie unsicher sind, ob sie unter das Gesetz fällt.“ Dabei sei es wichtig, so Lili im Videocall mit jetzt, dass queere und trans Kinder Charaktere sehen, die auch queer und trans sind und als normale Menschen erzählt werden. „Als ich aufgewachsen bin, gab es einfach keine Repräsentationen. Ich wusste bis weit in meine Pubertät nicht, dass trans Personen existieren und auch Jahre später sah ich nur Beispiele von ihnen als Lachnummern. Das hinterlässt tiefe Wunden“, sagt Lili.
Trotz der Proteste vor dem Parlament wurde das Gesetzespaket von der Regierung am 15. Juni mit 157 von 199 Stimmen beschlossen. „Mich überrascht nichts mehr. Sie haben diese Gesetze Schritt für Schritt aufgebaut und ich bin mir sicher, dass hiernach noch etwas kommt“, sagt Sára. Denn schon im Jahr 2020 wurden die Rechte von LGBTQIA+-Personen in Ungarn stark eingeschränkt: Adoptionen für queere Personen wurden verboten und das Recht auf eine Änderung des Geschlechtseintrags wurde aus dem Gesetz gestrichen. Das betrifft besonders trans Personen wie Lili, die ihre Papiere nicht ändern darf:. „Ich hasse es, offizielle Dinge zu erledigen. Entweder muss ich mich fragen, ob es mich in Schwierigkeiten bringt, meinen Namen zu benutzen oder ob ich die Sachbearbeiter*innen, die ich nie wieder treffe, korrigieren soll bezüglich meines Namens und Geschlechts“, sagt Lili.
Für viele Betroffene kommt die Kritik der EU zu spät
Das neue Gesetz sorgt jetzt auch international für große Kritik. Mehrere EU-Staaten haben das Gesetz verurteilt und auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat es als „Schande“ bezeichnet und will dagegen vorgehen. Für viele Betroffene kommt das aber zu spät. „Jetzt sagt die EU, dass sie ,mit Sorge die Situation in Ungarn‘ beobachtet. Aber das haben sie schon öfter gesagt und dann ist nichts passiert. Ich glaube auch jetzt nicht an Konsequenzen“, sagt Sára. Sie befürchtet stattdessen etwas anderes: „Im Ausland wird sich noch mehr verbreiten, dass Ungarn ein homophober, rückständiger und gefährlicher Ort für so viele sei – das wird sich verstärken, aber hier vor Ort wird sich nichts verbessern.“ Und Andrea vom LGBTQIA+-Bildungsprogramm fordert: „Die EU sollte es für kleine zivilgesellschaftliche Organisationen so wie unsere einfacher machen, an finanzielle Unterstützung zu kommen. Und sie sollte sich gegen diese Menschenrechtsverletzungen stellen und sie nicht mitfinanzieren.“ Seit Januar hat die EU mit dem sogenannten Rechtsstaatsmechanismus die Möglichkeit, die Fördergelder von Mitgliedstaaten zu kürzen, wenn sie rechtsstaatliche Grundwerte nicht einhalten. Der Mechanismus greift jedoch erst, wenn der Europäische Gerichtshof seine Rechtmäßigkeit geprüft hat. Das kann bis zu zwei Jahre dauern.
In Ungarn formiert sich währenddessen weiter Widerstand. Das hilft den Betroffenen und Aktivist*innen, wie Andrea: „Wir haben eine Demonstration mit zwölf Nichtregierungsorganisationen innerhalb von drei Tagen organisiert und seitdem arbeiten wir intensiv zusammen. Das hat uns gezeigt: Wir sind nicht allein,“ sagt sie über die Demonstration in der letzten Woche. Auch Lili war dabei: „Wo immer ich hingeschaut habe, waren queere Personen. Das war ein Sicherheitsgefühl, auch wenn der Anlass schrecklich war.“ Und auch Sára erzählt von solchen Momenten der Hoffnung: Wenn zum Beispiel der Bürgermeister von Budapest eine Regenbogenflagge an das Rathaus hängt. Oder wenn ein Buch wie das inklusive Kinderbuch Meseország Mindenkié erscheint. „Das sind große Dinge und Menschen haben sich hinter sie gestellt“, sagt Sára. Aktivistin Andrea will nicht aufgeben. „Wir werden uns was ausdenken und ich hoffe, dass uns auch Pädagog*innen weiter einladen werden“, sagt Andrea zur Zukunft ihres LGBTQIA+-Bildungsprogramms. „Und wenn nicht, dann machen wir eben selbst Aktionen, gehen direkt zu den Eltern und werden außerhalb des Bildungssystems aktiv.“ Und sie sagt auch: „Wir sehen in unserem Programm, dass Kinder und Jugendliche immer mehr Wissen über queeres Leben haben. Das kann die Regierung nicht zurückdrehen.“