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Sexuelle Belästigung: Feministinnen veröffentlichen den Guide „It's not that grey“
Der Professor, hoch angesehen, eine Koryphäe auf seinem Gebiet, lobt seine Studentin. Wie intelligent sie sei, die vielversprechendste von allen. Das ist natürlich schmeichelhaft. Sein nächstes Kompliment bezieht sich auf ihr neues Profilbild, das sei sehr hübsch. Ihr ist das unangenehm. Aber der Professor fördert sie, reist mit ihr zu Konferenzen, und das hilft ihr, denn der Konkurrenzdruck an der Uni ist groß. Er meint es doch sicher nur nett. Sie schiebt das unangenehme Bauchgefühl beiseite – und gerät in einen Strudel: Er schenkt ihr etwas zum Geburtstag. Dann will er sie ins Theater einladen. Auf einer Konferenz legt er seine Hand auf ihr Knie. Auf einer anderen ist er am Abend so betrunken, dass sie ihm aufs Hotelzimmer helfen muss. Dort fragt er, ob sie „es nicht versuchen“ sollten.
An dieser Stelle endet die Geschichte. Die Leserinnen und Leser sollen selbst entscheiden, wie sie ausgeht. Nachzulesen ist sie in „It’s not that grey“, einem Guide, den das feministischen Frauennetzwerk „Period.“ aus Brüssel herausgegeben hat. Er ist online verfügbar und soll dabei helfen, Situationen, die Belästigung und Missbrauch begünstigen, frühzeitig zu erkennen und sich dagegen zu wehren. Auch in sogenannten „Grauzonen“, die womöglich gar nicht so grau sind.
Sara Hassan, 26, ist Journalistin, Aktivistin und eine der Autorinnen von „It’s not that grey“. Am Dienstagvormittag sitzt sie im Brüsseler Stadtteil Ixelles vor einem Café in der Sonne. Rechts neben ihr lärmt eine riesige Baustelle, aber davon lässt sie sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie bindet die langen, dunklen Haare zusammen, setzt ihre Sonnenbrille auf und erzählt.
Ein Kollege im Europaparlament kam in Saras Büro, um sie „anzuschauen“
Im September 2015 ist sie von Wien nach Brüssel gezogen, um als politische Referentin im Europaparlament zu arbeiten. Sie hat schnell gemerkt, dass dort für junge Frauen wie sie keine gute Atmosphäre herrscht. „Es gab direkt mehrere krasse Übergriffe von Männern, für die das total normal war“, sagt Sara. „Sie haben ganz selbstverständlich Frauen angefasst, herumkommandiert oder zweideutige Jobangebote gemacht.“ Ein Kollege hörte, dass eine Neue da sein, also kam er in Saras Büro, um sie „anzuschauen“. „Als sei ich ein Zootier, das man besichtigen kann“, sagt sie.
Sara sprach mit Kolleginnen im Europaparlament darüber, die meisten wie sie „am unteren Ende der Nahrungskette“: jung, wenig Berufserfahrung, mit unsicheren Verträgen. Schnell merkten sie, dass ihre Erfahrungen und Beobachtungen nicht individuell waren. „Und da dachten wir: Wir müssen dem ein Ende setzen.“ Darum auch der Name des Netzwerks, das daraufhin entstand: „Period.“ Punkt, aus. Schluss damit.
Das Netzwerk organisierte im Frühjahr 2016 einen Workshop für Mitarbeiterinnen des Parlaments zum Thema „sexuelle Belästigung“ – also gut eineinhalb Jahre vor der #Metoo-Bewegung. „Unverhofft wurde uns die Bude eingerannt, es kamen Frauen aus unterschiedlichsten Fraktionen und Ländern“, erzählt Sara. Sie teilten ihre Geschichten, erkannten Gemeinsamkeiten und Muster. „Period.“ machte weiter, öffnete die Workshops für Frauen außerhalb des Parlaments. Mit der Zeit entstand dabei die Idee für den Guide: Weil sich die Fälle oft ähnlich anbahnten und entwickelten, müsste es doch auch möglich sein, typische Bedingungen für Belästigung und Missbrauch festzuhalten. Aber eben auch Auswege daraus aufzuzeigen. Gemeinsam mit Juliette Sanchez-Lambert, Vorsitzende der LGBTI Intergroup im Europaparlament, begann Sara mit der Arbeit. Eineinhalb Jahre haben die beiden an „It’s not that grey“ geschrieben.
Fragt man Sara, wie sie „Belästigung“ definiert, sagt sie langsam und überlegt diesen Satz: „Es geht um systematischen Machtmissbrauch mit verschiedenen Techniken, die auf Manipulation, Macht und Kontrolle abzielen und unter gewissen Bedingungen florieren können.“ So komplex wie das klingt, ist es leider auch: Belästigung, das ist die Hand auf dem Hintern in der U-Bahn, die unangenehme Anmache auf der Straße, der Übergriff nachts im Club. Aber sehr oft passieren Belästigungen und Missbrauch nicht irgendwo im öffentlichen Raum, sondern in geschlossenen Systemen: am Arbeitsplatz, an der Uni, in Schulen, Parlamenten, Kirchen, Familien. Dort, wo man sich kennt, oftmals sogar mag oder vertraut. Missbrauch bahnt sich dort eher Schritt für Schritt an und innerhalb der bestehenden Hierarchien: Wer unten steht, ist vulnerabel. Der Professor greift der Studentin nicht einfach an den Hintern oder bestellt sie in sein Bett. Er fördert sie, macht sie von sich abhängig. Dann legt er ihr irgendwann die Hand aufs Knie – und sie ist so verstrickt in dieser Situation und mit ihm, dass sie erstmal nicht weiß, wie sie da unbeschadet wieder rauskommen soll.
Die Autorinnen haben das „Red Flag System“ entwickelt, ein persönliches Warnsystem
Die Geschichte vom Professor und der Studentin ist eine von vier „real life examples“ in „It’s not that grey“. Es gibt auch noch den „Kollegen“, den „Freund“ und den „Arzt“. Es sind verdichtete Geschichten, die Sara und Juliette aus eigenen Erfahrungen, Medienberichten, den Gesprächen in den Workshops und mit Freundinnen und Bekannten zusammengestellt haben. All diese Fälle haben sie auf Muster untersucht und daraus das sogenannte „Red Flag System“ entwickelt, ein persönliches Warnsystem. Die „Red Flags“ teilen sie in vier Kategorien ein: Umweltfaktoren, typische Methoden, das „Good Guy Syndrome“ und das eigene Verhalten.
Um beim Beispiel mit dem Professor zu bleiben: Seine weitaus höhere Stellung ist eine „Red Flag“ im Bereich „Umweltfaktoren“. Dass er berühmt und angesehen ist, eine in der Kategorie „Good Guy Syndrome“ – solche „Good Guys“ eines Fehlverhaltens zu beschuldigen, ist besonders schwierig, weil ihr Umfeld sie verteidigen wird. Dass er seine Studentin fördert und so von den anderen Studierenden isoliert, gehört zu den „typischen Methoden“, mit denen Missbrauch angebahnt wird. Und dass die Studentin sich trotz ihres unguten Gefühls selbst einredet, er meine es nur gut mit ihr, ist eine Warnung im Bereich „eigenes Verhalten“. Das richtig einzuschätzen, sei mit das schwierigste, glaubt Sara. Weil Mädchen nach wie vor dazu erzogen werden, „keine Szene zu machen“ und gefällig zu sein. Erst einmal muss man sich also klarmachen, dass es okay ist, Grenzen zu setzen, und darauf zu bestehen, dass sie eingehalten werden.
Aber hilft es wirklich für den Alltag, Geschichten in einem pdf-Dokument zu lesen? „Wenn du das oft genug wiederholst, stellt sich ein Automatismus ein“, sagt Sara. „Es geht darum, zu verinnerlichen, wann etwas kein soziales Normalverhalten ist, sondern die andere Person ihre Macht missbraucht.“ Anstatt in der Situation zu erstarren und zu hoffen, dass man sich irrt, soll das Üben mit dem Guide dabei helfen, einen Schritt zurückzutreten und zu analysieren. Strategien für den Exit werden ebenfalls aufgelistet. Sie reichen von „lerne deinen eigenen Grenzen kennen“, über das Gespräch mit einer vertrauten Person bis hin zur offiziellen Meldung.
Besonders wichtig findet Sara dabei das Kapitel über die „Unbeteiligten“: „In allen Geschichten, die wir gehört haben, gab es Menschen, die weggeschaut und nicht eingegriffen haben. Hätten die sich anders entschieden, wäre jede Geschichte anders ausgegangen.“ Darum schlagen die Autorinnen vor, dass jeder seine eigene Position in einer sozialen Gruppe reflektiert, um zu erkennen, was ihn oder sie eventuell privilegierter macht als andere: das Alter, die Erfahrung, die Herkunft, das Geschlecht. Und dann auf die achtet, die verletzlicher sind: Wie geht es der Praktikantin wirklich? Geht der Chef komisch mit ihr um? Braucht sie Unterstützung? Ein „Buddy System“ nennen sie dieses Aufeinander-achten. Dabei kann jeder ein Buddy sein. Auch und vor allem Männer, „denn die sitzen öfter an der Macht“, sagt Sara. Darum sollten alle den Guide lesen, findet sie, Frauen wie Männer.
Hat man das alles erstmal verinnerlicht – könnte es da nicht passieren, dass man überalarmiert ist? Bedrohungen sieht, wo keine sind? Sara glaubt das nicht: „Das ,Red Flag System‘ hilft auch dabei, differenzieren zu können: Ist das gerade eine problematische Situation oder nicht?“ Im Guide wird der Unterschied am Beispiel des Kompliments erklärt: Die Situation kann völlig harmlos sein oder auch sehr schön. In vielen Fällen ist ein Kompliment also keine „Red Flag“. Aber wenn der Arzt der Patientin oder der Chef der Praktikantin ein Kompliment zu ihrem Äußeren macht, entspricht das nicht seine Rolle. Er übertritt eine Grenze. Und wenn sie sich davon nicht distanzieren kann, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, weil die Machtverhältnisse unausgewogen sind, dann ist das ebenfalls eine „Red Flag“.
Das Projekt läuft weiter: über ein Online-Formular können anonym Geschichten eingesandt werden
Vor Kurzem hat „Period.“ ein ganztägiges Seminar veranstaltet, in Form von Improvisationstheater haben sie das System getestet und Strategien ausprobiert, um sich aus unangenehmen Situationen zu befreien oder ihnen vorzubeugen. Das können Kleinigkeiten sein, wie sich buchstäblich „Raum zu nehmen“, also groß zu machen. Es kann aber auch bedeuten, jemanden direkt auf unpassende Kommentare anzusprechen. Oder eine Szene, die sich abgespielt hat, niederzuschreiben, um die richtigen Worte für das zu finden, was einem passiert ist.
„It’s not that grey“ läuft derweil als offenes Online-Projekt weiter: Über ein Formular können anonym Geschichten eingesandt werden, mit denen der Guide weiterentwickelt wird. „Wie ist es für ältere Frauen? Wie für Mütter? Für Transfrauen? Für Frauen, die Missbrauchserfahrungen in der Familie machen? Oder in romantischen Beziehungen?“, fragt Sara. Sie hofft, dass sie mit der Zeit möglichst viele verschiedene Lebensrealitäten abbilden können.
Zuletzt die Frage: Wieso haben die Beispiel-Geschichten im Guide eigentlich kein Ende? „Weil wir unseren Leserinnen und Lesern alle Werkzeuge an die Hand geben, um entscheiden zu können, wie es weitergeht“, sagt Sara. Außerdem gehe es darum, Empathie mit der betroffenen Person zu empfinden, ihr helfen zu wollen, und diese Empathie in der Folge auch für andere aufzubringen. Nicht zuletzt für sich selbst, sollte man in eine ähnliche Situation geraten: „Denn zu verinnerlichen, dass man nicht schuld ist, ist der erste Schritt.“