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Wie sich Haarverlust auf die Psyche junger Männer auswirkt
Immer, wenn er nach dem Duschen durch seine schwarzen Haare fährt, spürt Markus, 38, dass sich etwas verändert hat. Schon lange fühlen seine Finger keine dichten Strähnen mehr, sondern treffen zunehmend auf nackte Haut – und jedes Haar, das in seiner Bürste hängen bleibt, ist eines zu viel. Beim Blick in den Spiegel liegt sein Fokus deshalb nicht mehr auf seinem Gesicht, sondern vielmehr auf den Stellen, an denen er als junger Erwachsener noch mit vollem Haar ausgestattet war.
„Seit ich 30 Jahre alt bin, ist meine Haarlinie kontinuierlich zurückgegangen. Damit fühle ich mich schon lange nicht mehr wohl und das wirkt sich natürlich auch negativ auf mein Selbstbewusstsein aus, beispielsweise beim Dating“, sagt der Münchner Ingenieurdienstleister. Einige Zeit habe er versucht, die Lücken zwischen seinen Haaren mit einem Pulver, sogenannten Streuhaaren, optisch zu kaschieren. Eine langfristige Lösung war das jedoch nicht. Und so wird Markus auch im Alltag immer wieder von seinen Selbstzweifeln heimgesucht. Wenn er durch die Fotos auf seinem Smartphone scrollt, legt er die Stirn in Falten. „Auf gemeinsamen Bildern mit meinen Freunden steche ich in meinen Augen sofort heraus. Während die Anderen noch volles Haar haben, sieht man bei mir mehr Kopfhaut und Stirn als Haarpracht. Das belastet mich schon, da Haare für mich immer einen hohen Stellenwert hatten.“
Nicht immer ist Haarverlust von außen so sichtbar wie bei Markus. Viele junge Männer werden kreativ, wenn es darum geht, die schwindende Haarpracht zu kaschieren. So auch Christian, 28, aus München, der eine moderne Undercut-Frisur trägt und in diesem Artikel lieber ohne Foto auftauchen möchte. Seine Haare hat er oben locker zur Seite gestylt, die Seiten sind kurzrasiert. Dass Christian diese Frisur bereits seit dem Abitur trägt, wissen viele Menschen in seinem Umfeld. Dass er sich die Haare aus einem bestimmten Grund seit mehr als neun Jahren selbst schneidet, weiß jedoch kaum jemand.
Christian hat ein Problem, mit dem viele junge Männer bereits in ihren Zwanzigern zu kämpfen haben: Geheimratsecken, die zunehmend größer werden. „Ich habe für mich mittlerweile die perfekte Frisur gefunden, um meine Geheimratsecken zu kaschieren. Das klappt aber nur, solange ich nicht schwimmen gehe oder es draußen windig ist. Dann wird es besonders deutlich, dass dort Haare fehlen und es ist mir unangenehm, wenn andere das sehen.“ Sollte der Haarausfall schlimmer werden, ist eine Glatze für Christian keine Option, denn Schönheit definiert er unter anderem auch über seine Haare. „Es geht mir dabei weniger um mein Selbstbewusstsein als um meine Eitelkeit. Ich möchte mich selbst schön finden und auch für meine Freundin schön sein.“
„Ich möchte lieber eigenes Haar verpflanzt bekommen, als mir ein Toupet aufzukleben“
Mit ihren Problemen sind Markus und Christian nicht allein, denn drei Viertel aller Männer leiden im Laufe ihres Lebens unter Haarverlust, die meisten allerdings erst ab der Lebensmitte. Zu 95 Prozent ist die Ursache genetisch bedingt, weitere Gründe für Haarausfall können Stress, Nährstoffmangel oder Autoimmunerkrankungen sein. Beginnt der Haarausfall bereits in jungen Jahren, ist das für die Betroffenen besonders belastend. Das sagt auch Psychotherapeut Klaus Peters aus Hamburg, der hauptsächlich Männer therapiert: „Eitelkeit wird oft als Frauenthema abgestempelt, dabei haben sich die Geschlechter in puncto Körperbild mittlerweile sehr angeglichen. Auch Männer wollen gut aussehen und wagen Schönheitsoperationen.“ Menschen mit Haarverlust seien selten nur deshalb unzufrieden, weil sie von anderen darauf angesprochen werden. Das Problem liege vielmehr bei den Betroffenen selbst. „Wenn der Stressor in mir liegt, habe ich aber auch die Chance, ihn zu entmachten – beispielsweise, indem ich mit anderen darüber spreche.“ Wichtig sei allerdings, sich nicht nur über sein vermeintliches Schicksal zu beklagen, denn das könne ein negatives Selbstbild weiter verfestigen.
Das Gespräch mit Freunden haben Christian und Markus bisher nur selten gesucht. „Mit Leuten, die ein ähnliches Problem haben, rede ich eher darüber“, sagt Christian. „Ich würde aber nie zu meinen Freunden mit vollem Haar gehen und ihnen sagen, dass ich mich mit meinen Geheimratsecken unwohl fühle.“ Um zu verhindern, dass er eines Tages doch auf seinen Haarverlust angesprochen wird, hat er vor zwei Jahren damit begonnen, nach Lösungen zu suchen und ist auf Toupets und Haartransplantationen gestoßen. Mit Letzterem fühlt er sich gedanklich wohler: „Ich möchte lieber eigenes Haar verpflanzt bekommen, als mir ein Toupet aufzukleben.“ Seitdem hat sich der Head of Controlling bei einem IT-Unternehmen über Angebote von Haarkliniken und Ärzten aus Deutschland und der Türkei informiert, denn auch ausländische Firmen schalten hier Werbung. Im Juni hat er seinen ersten Beratungstermin bei einer deutschen Ärztin. „Ich habe mich gegen eine Operation im Ausland entschieden, weil ich unbedingt eine persönliche Beratung vor Ort haben möchte. Ein bisschen Sorge habe ich schon, dass ich danach mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein könnte. Deshalb will ich alles genau abklären. Wenn alles passt, werde ich die OP im Winter machen.“
Während Christian noch überlegte, ergriff Markus die Initiative und informierte sich gemeinsam mit einem Freund in Facebook-Gruppen über Haartransplantationen in der Türkei. „Wir haben uns ein Angebot einer Klinik aus Istanbul eingeholt. Dazu mussten wir vorab Fotos von allen Seiten unseres Kopfes per Whatsapp schicken“, erinnert er sich. Die Beratung und der Preis von 2000 Euro für die Operation überzeugten die beiden. Am 18. Dezember 2020 stiegen sie in den Flieger nach Istanbul.
Die folgenden Tage beschreibt Markus folgendermaßen: Am Tag der OP liegt er mit dem Gesicht nach unten auf einer Art Massageliege. Um ihn herum wuseln ein Arzt und weitere Klinikmitarbeiter*innen. Auch eine Übersetzerin ist mit dabei. Zunächst werden die Kopfhaare komplett abrasiert und die neue Haarlinie eingezeichnet. Dabei kann Markus auch seine persönlichen Wünsche einbringen. Als die Betäubungsspritzen unter die Kopfhaut gesetzt werden, beißt er die Zähne zusammen. „Die ersten fünf Spritzen waren der Horror, es hat unglaublich gebrannt“, sagt er heute. Rund zwanzig Spritzen sind es am Ende.
Was Markus zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Es werden noch mehr Spritzen mit Kochsalzlösung folgen, die dafür sorgen, dass sich die Betäubung besser verteilt und sich die Kopfhaut von der Schädeldecke abhebt. So können die sogenannten „Grafts“ besser entnommen und verpflanzt werden. 4400 dieser Haarwurzeln, aus denen jeweils ein bis fünf Haare wachsen können, erhält Markus an diesem Tag. Dafür harrt er mit Pausen insgesamt 11,5 Stunden auf der Liege aus. Der erste Blick nach der Operation ist dann ein kleiner Schock: „Mein Kopf sah aus wie der eines Aliens. Man hat natürlich genau gesehen, wo die Haare verpflanzt worden sind. Da war alles knallrot.“ Zurück in Deutschland schickt er nach einigen Tagen Bilder des Heilprozesses an die Klinik in Istanbul, denn in wenigen Fällen kann es dazu kommen, dass sich der Transplantationsbereich entzündet oder das Eigenhaar abgestoßen wird. Bei Markus sieht aber alles gut aus. Und nun, rund dreieinhalb Monate nach der Operation, blickt der 38-Jährige bereits in ein anderes Spiegelbild – denn dort, wo einst alles kahl war, sprießen jetzt die ersten neuen Haare.
„Da habe ich gedacht: Scheiße, jetzt bekommst du bald eine Glatze“
Gut auszusehen sei ihm lange nicht wichtig gewesen, sagt der 30-jährige Jan, Doktorand aus dem Ruhrgebiet, deshalb habe er schon früh mit seinen Haaren experimentiert – von der Skater-Frisur über schulterlange Haare war alles dabei. Doch diese wilden Jahre gehören längst der Vergangenheit an, Jan trägt die Haare nun kurz, damit seine Geheimratsecken nicht so auffallen. Da diese Frisur unkompliziert mit einem Rasierer bewerkstelligt werden kann, schneidet er sich die Haare seit vier Jahren selbst. Genau das möchte er in Zukunft aber gerne ändern. „Mein Traum wäre es, mit vollerem Haar wieder zum Friseur gehen zu können und eine Stilberatung zu bekommen. Dann könnte ich endlich wieder etwas Neues ausprobieren.“
Im Gegensatz zu Markus und Christian begann der Haarausfall bei Jan mit nur 23 Jahren praktisch über Nacht. Innerhalb weniger Wochen werden seine Geheimratsecken größer und größer. „Plötzlich fühlte es sich kahl an, die Haut war so glatt und ich hatte immer wieder Haare in die Hand. Da habe ich gedacht: Scheiße, jetzt bekommst du bald eine Glatze!“ Nach wenigen Wochen stoppte der Haarausfall damals jedoch. Das ist bis heute so geblieben. Dennoch war die Veränderung für Jan damals ein einschneidendes Erlebnis: „Es war seltsam, weil alles so schnell ging und ich plötzlich im Gesicht anders aussah. Mein Umfeld hat mich zwar nicht darauf angesprochen, vermutlich aus Höflichkeit, aber mir fiel es stark auf. Es war wie eine zweite Pubertät, in der sich der Körper plötzlich verändert. Nur dass es dieses Mal weniger statt mehr Haare wurden.“
Nach Jahren mit seiner Kurzhaarfrisur erfuhr Jan dann von der Haartransplantation des deutschen Fußballtrainers Jürgen Klopp und war fasziniert von dieser Lösung, die ihm simpel und effektiv erscheint. Im Januar dieses Jahres wagte auch er daher den Schritt und ließ sich in einer deutschen Klinik innerhalb von vier Stunden mit 2000 Grafts die Geheimratsecken auffüllen. 6000 Euro bezahlte er dafür. Erzählt hat er von diesem Eingriff nur seiner Familie und seiner Freundin, sonst sollte zunächst niemand davon erfahren. „Direkt nach der OP sieht man aus, als hätte man gerade einen schweren Unfall gehabt, deshalb habe ich in den Tagen danach darauf geachtet, nicht vor die Tür zu gehen. Die Blicke anderer wollte ich mir nicht antun.“
Knapp eine Woche nach der OP ist alles soweit abgeheilt, dass Jan sich wieder vor die Tür wagt. In ein paar Monaten wird Jans neue Haarlinie sichtbarer sein. Auf die womöglich überraschten Reaktionen seiner Freunde freut er sich mittlerweile, denn mit dem, was er bereits sehen kann, hat sich sein persönliches Empfinden schon verändert: „Auch wenn ich dreißig bin, fühle ich mich eher noch wie in den Zwanzigern. Geheimratsecken sind jedoch ein Sinnbild für das Alter und das hat lange nicht zu meiner persönlichen Wahrnehmung gepasst. Durch die Haartransplantation konnte ich das Äußere endlich wieder meinem eigenen Empfinden anpassen.“
Betroffenen würde ein offenerer Austausch zum Thema sicher helfen – unabhängig davon, zu welchen Schritten man sich letztendlich entscheidet. Psychotherapeut Klaus Peters rät seinen Patienten außerdem, den Haarausfall als Chance zu sehen. „Wie schön wäre es denn, wenn wir eine Veränderung wie den Haarverlust einfach annehmen und in unseren Alltag integrieren könnten? Daraus ergibt sich die Möglichkeit, den Fokus auf unsere wahren Stärken und den eigenen Charakter zu lenken. Und genau das sollte in unserer zunehmend optisch geprägten Welt keinesfalls verlorengehen.“
Anm. d. Red.: Eine Haartransplantation ist ein massiver Eingriff, der gut überlegt sein sollte. Solltest du diesen in Erwägung ziehen, solltest du dich eingehend informieren, und dich von einem*r Ärzt*in beraten lassen.