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Der Abschied von „Orange Is the New Black“ wird mir schwerfallen

Die Kantine ist einer der Orte in Litchfield, die Zuseher*innen mit der Zeit gut kennenlernen.
Foto: Netflix

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Als Angie Rice in der dritten Staffel der Gefängnisserie „Orange is the New Black“ aus Versehen vorzeitig entlassen wird, weil jemand ihre Akte mit der einer anderen Insassin von Litchfield verwechselt hat, kommt sie nicht weit. Gefängnisdirektor Caputo findet Angie an einem lokalen Busbahnhof. Ihr Bus-Voucher gilt bis Jersey, aber dort kennt sie niemanden, und für den Zug hat sie nicht genug Geld. „Freedom feels weird“, sagt sie.

Angie bleibt dann nichts anderes übrig, als sich von Caputo zurück ins Gefängnis bringen zu lassen. Eigentlich will sie das natürlich nicht, aber gleichzeitig macht diese Szene auch deutlich, dass sie sich in der Welt außerhalb des Gefängnisses nicht mehr zu bewegen weiß. In Litchfield hat sie Freundinnen, dort kennt sie sich aus. Der Knast ist ihr Zuhause. Ein beschissenes zwar, aber doch ein Zuhause. Und als Zuseherin kann ich das in diesem Moment absolut nachvollziehen.

Am 26. Juli wird auf Netflix die siebte und finale Staffel von „Orange is the New Black“ (OITNB) veröffentlicht. Serien-Abschiede sind zwar immer traurig, aber ich weiß schon jetzt, dass mir der von OITNB besonders schwerfallen wird. Es gibt unzählige Artikel, die erklären, woher die Liebe zu den Geschichten rund um Piper, Alex, Taystee, Red, Nicky und den anderen rührt. Meistens sind sie mit „10 reasons why we love Orange is the New Black“ oder einem ähnlichem Titel überschrieben und alle dort genannten Gründe haben ihre Berechtigung: Es stimmt, dass OITNB sehr lustig und spannend ist, Kritik am Rechtssystem der USA übt und dass der Cast diverser und interessanter ist als in den meisten anderen Serien. Aber ein Grund wird in diesen Listen nie genannt, dabei finde ich ihn sehr wichtig: Ich liebe OITNB auch, weil ich seit mittlerweile sechs Staffeln mit den Frauen in ihrem beschissenen Zuhause eingesperrt bin. Der Raum der Handlung und der Aktionsradius der Protagonist*innen ist so klein, dass ich mich ihnen näher fühle als so manchen anderen Serienfiguren.

Piper ist das Trojanische Pferd, mit dem die Netflix-Zuschauerschaft ins Gefängnis eingeschleust wird

Es ist grundsätzlich ein großer Pluspunkt des serielle Erzählens, dass man Zeit hat, die Charaktere kennenzulernen – aber eben auch ihre gewohnte Umgebung. Schnell sind es nicht nur die bekannten Gesichter, die einem beim Zusehen ein heimeliges, sicheres Gefühl geben, sondern auch die bekannten Orte. In jeder Sitcom ist die Totale des Wohnhauses der Protagonist*innen gängig. In der nächsten Einstellung sieht man sie im Haus und kennt sich dort aus. Die Küchenanrichte der Dunphys aus „Modern Family“ ist mir genauso vertraut wie der riesige Esstisch in der „New Girl“-WG. Auch abseits der Sitcoms, in Serien, die einen größeren Aktionsradius haben, gibt es Orte, an die man zurückkehrt und an denen man sich daheim fühlt: das orangefarbene Sofa in „The Wire“, auf dem sich D’Angelo, Wallace, Poot und Bodie treffen. Jesse Pinkmans Wohnzimmer in „Breaking Bad“. Der Keller der Familie Wheeler in „Stranger Things“. 

In OITNB ist dieser Ort die „Litchfield Correctional Institution“, ein Gefängnis in Upstate New York. Gemeinsam mit Piper Chapman wird man in der ersten Episode dort hineingeführt und findet alles fremd und bedrohlich. Ich habe mich mit Piper in der Dusche gefürchtet und mit ihr im Stockbett geweint. Aber mit der Zeit habe ich wie sie die Menschen, die Regeln und den Ort an sich kennengelernt. Das ist auch das Kalkül der OITNB-Erfinderin Jenji Kohan: Piper ist ihr Trojanisches Pferd, mit dem sie die mehrheitlich weiße und gebildete Netflix-Zuschauerschaft ins Gefängnis einschleust. In der ersten Staffel liegt der Fokus daher auch noch sehr stark auf Piper und immer wieder auf ihrem Leben außerhalb von Litchfield. Aber im Verlauf der weiteren Staffeln konzentriert sich OITNB (mit Ausnahme der Rückblenden) immer stärker auf das Gefängnis selbst und seine anderen Insassinnen.

Auch als Zuseher*in wird man darum immer tiefer dort hineingezogen. Gemeinsam mit Piper habe ich in Litchfield Menschen gefunden, denen man vertrauen, und Orte, an die man sich zurückziehen kann. Vor allem aber hatte ich schnell das gesamte Serien-Universum durchschritten und kannte mich von Mauer zu Mauer darin aus: Schlafsäle, Duschen, Flure. Abstellkammern, Fernsehzimmer, Werkstatt. Hof, Küche, Kantine und Kapelle. Besucherraum und „The Shu“, Büros und Aufenthaltsräume der Gefängniswärter*innen. Mehr gab es kaum zu entdecken. Während des Aufstands in Staffel 5 tat sich plötzlich eine verlassene Schwimmhalle auf, aber in Staffel 6 wurde der Bewegungsradius durch die Verlagerung der Handlung in den Hochsicherheitstrakt sogar noch kleiner.

Während jeder Szene, die sich auf bestimmte Protagonist*innen konzentriert, weiß man, wo die anderen sich gerade befinden

Weil das Universum der OITNB-Charaktere so beengt ist, stellt sich ein Effekt ein, den es bei den meisten anderen Serien nicht gibt: Während jeder Szene, die sich auf bestimmte Protagonist*innen konzentriert, weiß man immer ungefähr, wo die anderen sich gerade befinden. Sie können ja nicht weit sein. In vielen Serienuniversen könnten die Charaktere sich Gott weiß wo herumtreiben, während man sie nicht sieht. Ihre Welt ist groß und weit, es gibt darin Orte, von denen man nichts weiß. Aber in OITNB sind alle möglichen Orte und Handlungen den Zuseher*innen bekannt. Die Protagonist*innen können darum kaum Geheimnisse voreinander und vor den Wärter*innen haben – und vor mir als Zuseherin überhaupt keine.

Ich habe mich im Verlauf der vergangenen sechs Staffeln gemeinsam mit den Frauen so sehr an an ihren beengten Lebensraum gewöhnt, dass ich mich auch gemeinsam mit Angie Rice oder Aleida Diaz verloren gefühlt habe, als sie plötzlich draußen auf der Straße standen. Alles kam mir weit und verwirrend vor, der Raum erstreckte sich nach allen Seiten und bot zunächst nichts, an dem ich mich festhalten kann. Nach allem, was man aus dem Trailer zur siebten Staffel schon weiß, wird es auch Piper so ergehen, die am Ende der sechsten Staffel Litchfield verlassen durfte. Aus Sicht der Produzentin ist das nur konsequent: Mit Piper wurden wir ins Gefängnis geführt, mit ihr werden wir auch wieder herausgeführt. Sie hat nun die Chance, in einem größeren Serienuniversum zu verschwinden, uns davonzulaufen, und die Serie so zu einem Ende zu bringen. 

Allerdings werden wohl kaum alle Protagonist*innen, die ich über die Jahre so lieb gewonnen hat, plötzlich freikommen. Wodurch das seltsame Gefühl entstehen wird, dass ich sie dort zurücklasse, in diesem beengten Raum und der Willkür der Wärter*innen und des Systems ausgeliefert. Darum wird mir der Abschied so schwerfallen: Während ich mich frei bewegen und wie Piper entschwinden darf, werden sie, die Unterprivilegierten, Gescheiterten, Bestraften, Vergessenen zurückbleiben. Und auch, wenn Taystee, Nicky, Gloria, Pennsatucky und Suzanne nur fiktive Figuren sind, ist das eine traurige Erkenntnis, die sich ohne Weiteres auf das echte Leben übertragen lässt. 

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