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Ich liebe es, mich selbst zu spoilern

Den Handlungsverlauf einer Geschichte schon vorher zu studieren, kann den Genuss größer machen.
Illustration: Julia Schubert

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In den vergangenen Jahren hat sich in unserer Gesellschaft ein Feindbild entwickelt, auf das sich fast alle einigen können. Leider spreche ich nicht vom Klimawandel. Ich spreche von Spoilern. Spätestens seit „Game of Thrones“ 2017 in die siebte Staffel ging, wird sozial geächtet, wer vorab auch nur das kleinste bisschen Handlung preisgibt. Vor Kurzem wurde ein Mann sogar verprügelt, weil er die Handlung vom Avengers-„Endgame“ verraten hatte. Aber auch Medien mussten einstecken: Rezensionen vergangener Serien-Episoden wurden in den Kommentarspalten verbal in der Luft zerfetzt, bis sämtliche Beiträge zu Serien mit einer hektischen Warnung begannen: „Achtung, Obacht, Spoiler!!1!!“ stand da immer wieder so oder ähnlich. Als ginge von Spoilern eine unaussprechliche Gefahr aus.

Dabei sind Spoiler eigentlich etwas ziemlich Tolles. Zumindest, wenn man sie sich selbst zufügt, bevor es andere tun können. Denn wenn einen Spoiler nicht gerade unvorbereitet im Netz überrollen, machen sie das Lese- oder Filmschauerlebnis noch besser.

Bevor ich mir einen Film ansehe, lese ich mir in der Regel den Wikipedia-Eintrag dazu durch

Ich spoilere mich daher seit zwei Jahrzehnten selbst. Schon als Kind las ich beim Besuch in der Stadtbücherei nicht nur den Klappentext, sondern immer auch die erste und dann die letzte Seite des Buches. Denn für mich war schon damals klar: Das beste an einer Geschichte ist ihr Ende. Und das wollte ich eben sofort wissen.

Heute gehe ich sogar noch einen Schritt weiter. Bevor ich mir einen Film ansehe, lese ich mir in der Regel den Wikipedia-Eintrag dazu durch. Wann und wo spielt die Geschichte, welchen historischen Kontext gibt es? Welche Schlüsselszenen erwarten mich? Welche Charaktere muss ich besonders genau beobachten? Meine Mitmenschen finden diese Vorgehensweise absurd. Ich finde sie nahezu genial.

Denn gucke ich einen Film ohne Spoiler, bin ich zum Großteil damit beschäftigt, die Handlung zu durchsteigen. Mich beispielsweise zu fragen, in welcher Verbindung eigentlich Charakter A zu Charakter B steht und was auf die beiden wohl noch zukommen könnte. Mit Spoiler allerdings weiß ich das schon, zumindest im Groben. Und kann mich stattdessen auf das Drumherum konzentrieren: Ich verstehe schon jetzt, dass dieser Satz noch wichtig werden könnte. Dass die Wandfarbe aus der Wohnung des Protagonisten nicht zufällig gewählt ist. Und dass ich mich mit einem bestimmten Charakter wohl nicht zu sehr anfreunden sollte, weil ich mich eh gleich wieder von ihm verabschieden muss.

Ich bin froh, wenn das Gefühl des „Unbedingt-wissen-Wollens“ schnell wieder entschärft wird

Das finde ich auch deshalb gut, weil ich Spannung nur bis zu einem gewissen Grad mag. Während viele gerade darin den Reiz bei einem Film oder einer Serie sehen, bin ich froh, wenn dieses Gefühl des „Unbedingt-wissen-Wollens“ ganz schnell wieder entschärft wird oder ich mich gar nicht erst hineinsteigern muss. Verzichte ich also mal darauf, mich vorher zu spoilern, habe ich beim Seriengucken oft das Gefühl, dass mir das jetzt alles zu wild wird. Ich klicke dann auf Pause – und schaffe mir erstmal weitere Informationen ran. Call me crazy, aber es ist mir ein unfassbares Vergnügen.

Das funktioniert nicht nur bei mir so, wie ein Experiment von Nicholas Christenfeld und Jonathan Leavitt aus dem Jahr 2011 zeigt. Darin sollten Probanden Kurzgeschichten lesen – manchmal mit, manchmal ohne Spoiler am Anfang. Und der Ausgang war überraschenderweise relativ eindeutig: „Spoilers don’t spoil Stories“ (also „Spoiler verderben Geschichten nicht“). Das erklärten die beiden Wissenschaftler auch im Psychological Science Journal.

Die Probanden bewerteten im Gegenteil sogar die Geschichten als die spannenderen, deren Ende sie bereits vorher kannten. Denn zwar ist durch einen Spoiler schon klar, was passiert. Aber eben nicht, wie es passiert. Und darauf kann man sich vorbereitet einfach nochmal besser konzentrieren. Für Menschen wie mich also, die nicht gerne rätseln, sich auf die kleinen Kunstfertigkeiten in Filmen konzentrieren wollen und ungern überrascht werden, sind Spoiler eine gute Sache.

Aber zugegeben: Es gibt Produktionen, da nimmt man sich selbst auch etwas weg, wenn man sich vorher spoilert. Bei Filmen nämlich, deren einzige Stärke die überraschenden Wendungen sind, wo man die Spannung daher aushalten muss. Horrorfilme zum Beispiel. Oder einige Dramen, die erst durch einen ironischen Twist am Ende so richtig Sinn ergeben. In den meisten Fällen gibt es aber an Filmen eben doch noch viel Interessanteres als diesen einen Moment der Überraschung. Man muss nur den Kopf dafür frei machen. Und falls nicht, ist der Film ja auch nicht besonders sehenswert.

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