Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Wie es ist, eine Woche lang wirklich früh ins Bett zu gehen

Tagesschau vorbei - Schlafenszeit.
Foto: inkje / photocase / Collage: jetzt.de

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Auf die banale Frage „Wie geht es dir?“ hört man häufig von Freund*innen oder Arbeitskolleg*innen die Antwort: „Gut, aber ich habe heute schlecht geschlafen.“ Das „gut“ davor könnten sich die Menschen, die so antworten, eigentlich sparen. Denn wer nicht schläft, dem geht es nicht gut.

Schlafen eint uns, denn wir schlafen alle: viel, wenig, schlecht, gut, unterbrochen, durch, wie ein Stein, Baby, Murmeltier – die Vergleiche sind vielfältig. Nur den Vergleich „Ich habe geschlafen wie ein Erwachsener“ gibt es nicht. Erwachsene schlafen nie besonders gut, sondern einfach, weil sie es müssen. Der Schlaf ist für uns ein Mittel zum Zweck, er trennt unsere Tage voneinander. Wir reden nicht viel darüber, denn Schlaf ist etwas Privates. Er gehört uns, wir haben ein eigenes Zimmer für ihn, niemand sonst soll bestimmen dürfen, wie viel oder wenig wir davon brauchen, was uns gut oder schlecht schlafen lässt.

Ich bin zum Beispiel jemand, der die Routine beim Schlafen braucht. Rhythmus, hat meine Mutter früher immer gesagt. Besondere Ereignisse an Wochenenden, Geburtstage, Hochzeiten, das bringt mich total raus.  Als eine Kollegin vorschlug, es solle doch einmal jemand ausprobieren, ob es klappen könnte, eine Woche lang jede Nacht zehn Stunden zu schlafen, meldete ich mich begeistert. Ich hatte gerade zwei Geburtstagsfeiern am Wochenende und einen Umzug hinter mir und konnte den Schlaf gut gebrauchen.

Ich freute mich richtig darauf. Eine Woche lang jede Nacht zehn Stunden schlafen. Das waren siebzig Stunden Schlaf in der Woche, so viel hatte ich glaube ich noch nie geschlafen – außer vielleicht als Kleinkind. Wie wach ich wäre. Keine Augenringe. Die Menschen würden zusammenzucken, wenn sie mich sähen, weil ich so wach aussehen würde. Und wie viel ich anstellen könnte, in meinem Immer-fit-siebzig-Stunden-Schlaf-Zustand! Ich würde alles viel schneller geregelt bekommen, in der Arbeit und zu Hause.

Nach neun Stunden Schlaf fühlte ich mich so erholt wie nach vier Wochen Urlaub

An einem Montagabend im September lag ich also, um ja alles richtig zu machen, um 20:30 Uhr im Bett. Mit offenen Augen. Ein wenig irritierte es mich, dass die Kinder in der Wohnung über mir noch wach waren und dass die untergehende Sonne durch die Rolloritzen fiel. Ich schlief nicht um neun ein und nicht um halb zehn, aber immerhin ziemlich schnell danach. Weil mein Wecker auf sieben Uhr stand, schaffte ich also nicht die veranschlagten zehn Stunden, sondern nur neun, aber neun Stunden fand ich für den Anfang schon verdammt viel. Ich fühlte mich so erholt, als ich in die Arbeit ging, als hätte ich vier Wochen Urlaub gehabt. Außerdem war ich absurd stolz auf meinen guten Schlaf.

An den nächsten Abenden versuchte ich sehr streng, die neun-Uhr Grenze einzuhalten. Es gelang mir am Montag, am Dienstag und am Mittwoch. Anders als ich gedacht hatte, war das frühe Einschlafen für mich überhaupt kein Problem. Ich legte mich ins Bett und meistens gelang es mir, sofort abzuschalten und einzuschlafen.

Der Nachteil machte sich allerdings schon am ersten Tag bemerkbar: Wer früh ins Bett geht, hat verdammt kurze Wochentage. Da hatte ich irgendwie nicht mitgedacht. Wenn man gegen sechs Uhr Abends aus dem Büro kommt – und damit komme ich früher aus der Arbeit als viele meiner Freund*innen – dann bleiben einem nur noch drei Stunden für Abendessen, Sozialkontakte, Sport, Haushalt oder andere Arbeit. Drei Stunden sind gar nichts. Am Dienstagabend musste ich nach zehn Minuten joggen umkehren, weil ich sonst Duschen und Abendessen nicht mehr geschafft hätte.

Ich nahm mir überhaupt nichts mehr vor, sondern ging einfach gleich ins Bett

Mittwochabend war einfacher. Ich hatte nichts vor, mit Sport probierte ich es gleich gar nicht erst und legte mich unmittelbar nach dem Heimkommen ins Bett. (Es war kurz nach acht. Mir fiel das Wort „schrullig“ ein und ich fragte mich beim Einschlafen, wo es herkommt und warum es eigentlich niemand mehr verwendet.)

Am Donnerstag sagte ich schweren Herzens den Freund*innen ab, die mich verführen wollten, nach neun Uhr rauszugehen, beschlossen ist beschlossen. Immerhin war schon Donnerstag, und obwohl mir die Woche verdammt lang vorkam und ich so viel Zeit in der Waagerechten verbrachte, ging sie doch irgendwie dem Ende zu. Blöderweise lag ich genau an diesem Donnerstag noch lange wach und dachte darüber nach, ob ich nicht doch einfach das Experiment abbrechen sollte und aufstehen und mich anziehen, um mit meinen Freund*innen noch ein Bier zu trinken. Aber der Sturheit sei dank, ich blieb liegen und grübelte. Bis weit nach Mitternacht.

Das war der Wendepunkt. An diesem Abend wurde ich verbittert. Die Drei-Stunden-Tage gingen mir wahnsinnig auf die Nerven. Ich hatte das Gefühl, mein Vokabular bestehe nur noch aus „Nein“, und „Da muss ich schon im Bett sein“. Am Freitag erwischte ich mich, wie ich mit einem Bier in der Hand bei Freunden auf dem Balkon saß. Es war halb zehn, als ich auf die Uhr sah. Ich verabschiedete mich hastig, fast panisch und kletterte daheim in mein vorwurfsvolles Bett. Ich fing an, meinen Schlafanzug zu hassen.

Mein Körper schrie mich an, ich solle mein Leben nicht so an mir vorbeiziehen lassen

Damit war es vorbei. Ab diesem Freitag konnte ich gar nicht mehr schlafen. Es war, als hätte ich allen nachzuholenden Schlaf meines Lebens in den vorangegangenen vier Nächten bereits nachgeholt. Die Übernachtungspartys, die Festivals, die Hochzeiten, die Nächte an Küchentischen von Freund*innen mit Wein in der Hand, die Nächte, in denen ich geschrieben oder mich in einem Thema festgebissen hatte. Mein Körper war ganz und gar ausgeschlafen. Er schrie mich an, ich solle gefälligst aus diesem blöden Bett steigen und mein Leben nicht so an mir vorbeiziehen lassen.

Ich blieb liegen.

Samstagnacht kam ich nur noch auf ganz ordinäre sechs Stunden. In der Nacht von Sonntag auf Montag versuchte ich es noch ein letztes Mal mit aller Strenge: Ich lag um neun im Bett, stellte meinen Wecker auf sieben Uhr früh und wartete auf den Schlaf.

Er kam nicht. Er hat durchblicken lassen, dass er erst wiederkommt, wenn ich müde bin.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text wurde zum ersten Mal am 23. Oktober 2018 veröffentlicht und am 25. Juli 2020 noch einmal aktualisiert.

  • teilen
  • schließen