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Warum ich bedauere, die Sprache meines Vaters nicht besser zu können

Illustration: FDE

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„Farsi baladi?“ – Sprichst du Farsi? Es ist immer dieser Moment, kurz bevor ich in den Augen meines Gegenübers eine unvermeidbare Enttäuschung entdecken werde. Der Moment, kurz bevor die Wärme, die schon zwischen uns besteht, um ein paar Grad abkühlen wird. Da wo Nähe war, ist jetzt wieder Distanz. Ich werde die Enttäuschung in den Augen nicht verhindern können, egal wie beiläufig, freundlich lächelnd oder reumütig ich antworte: „Leider nicht so gut.“

Situationen wie diese habe ich oft erlebt. Denn mein Vater kommt aus Iran, ich bin allerdings nicht zweisprachig aufgewachsen. Während meine einzige Muttersprache seit jeher Deutsch ist, verstehe und spreche ich Farsi nur gebrochen – und das bedauere ich. Situationen, in denen ich das zugeben musste: Wenn ich als Kind oder Jugendliche ein iranisches Familienmitglied kennenlernte. Oder wenn ich im Alltag von anderen Iraner*innen als „iranisch“ erkannt und angesprochen wurde – und das passiert recht häufig.

Wäre es ein Gewinn für mich gewesen, eine zweite Muttersprache zu haben?

„Jedes fünfte Kind spricht zu Hause kein Deutsch“, meldeten in den vergangenen Tagen mehrere Zeitungen. Dabei handelt es sich um einen Bericht des Bundesfamilienministeriums, der auf Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion erfolgte. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Katja Suding fasste dies als Grund zur Sorge auf – und forderte eine bessere Sprachförderung in Kitas. „Sprache entscheidet, welche Chancen ein Kind im Leben hat“, so Suding. Auf Twitter wurde daraufhin kritisiert, dass es medial als besorgniserregend dargestellt werde, wenn Kinder zu Hause kein Deutsch sprechen. Man könne das Ganze immerhin auch positiv sehen: Jedes fünfte Kind lernt im Bildungssystem Deutsch und Zuhause noch eine andere Sprache. Im Zuge dessen teilten Nutzer*innen ihre eigenen Erfahrungen mit mehrsprachigem Aufwachsen unter dem Hashtag #Mehrsprachigkeit. Die meisten sehen ihre Zweitsprache als Gewinn.

Also habe auch ich mich mal wieder gefragt: Wäre es ein Gewinn für mich gewesen, eine zweite Muttersprache zu haben? Obwohl mich die Situationen, in denen ich andere Iraner*innen kennenlerne, meist freuen, schmerzen sie mich nämlich auch ein wenig. Denn uns fehlt etwas Zentrales: die gemeinsame Sprache. Das finde ich schade, weil die Sprache eine wichtige Möglichkeit des sozialen Austauschs ist. Und weil ich weiß, dass mich die iranische Kultur und Mentalität stark geprägt hat. Ich koche iranisches Essen, ich höre iranische Musik und hatte mein Leben lang Kontakt zu anderen Iraner*innen. Etwas an mir, nicht nur mein Aussehen, ist im Grunde auch sehr „iranisch“ – sofern man das bestimmen kann. Etwas, das ich durch bessere Farsi-Kenntnisse vielleicht ergründen könnte. Aber da ist eine Barriere. Sie trennt mich nicht nur von Menschen, denen ich emotional gerne noch näherkommen würde. Von Tanten, Onkels, Cousinen und Cousins. Sondern gewissermaßen auch von mir selbst.

Da wäre zum Beispiel „Taroof“: eine bestimmte – meine Mutter würde sagen: übertriebene – Form von Höflichkeit

Das merke ich vor allem an den Wörtern auf Farsi, die ich mittlerweile in meinen Alltag integriert habe. Sie drücken oft etwas von mir aus, das es auf Deutsch einfach nicht gibt. Da wäre zum Beispiel „Taroof“: eine bestimmte – meine Mutter würde sagen: übertriebene – Form von Höflichkeit. Eine typische Taroof-Situation ist, wenn ein Verkäufer erst einmal ablehnt, von dir bezahlt zu werden. Er will natürlich nicht wirklich auf das Geld verzichten. Aber zum Höflichkeitsspiel gehört dazu, erst einmal abzulehnen. Es folgt ein Hin-und-Her, bis er schlussendlich doch bezahlt wird. Als wir mal mit meiner Tante essen gingen, hat sie das von ihr bestellte Gericht allen am Tisch angeboten, bevor sie selbst einen Bissen nahm. Ich wurde als Kind oft als sonderbar belächelt wegen meiner übertriebenen Höflichkeit. Weil ich nie das letzte Stück Kuchen essen wollte. Weil ich beim Familienfrühstück erst dann ein Brötchen aussuchen wollte, wenn alle anderen sich schon bedient hatten. Seitdem ich das Wort kenne, ist mir einiges klarer geworden. Mittlerweile hat sich meine Höflichkeit akklimatisiert – ich kann häufiger auf Taroof verzichten. Aber wenn ich wieder in eine solche Situation gerate, habe ich immerhin ein Wort, das mich erklärt. Was ich auch regelmäßig verwende: „Mashallah!“, womit man Dankbarkeit für etwas ausdrückt – oder „Inschallah“, was sich auf ein zukünftiges Ereignis bezieht und jetzt sogar im Duden steht. Gerade bin ich dabei, von dem etwas platten „Gönn dir“ zu „Mobarak“ („Gratulation!“) zu wechseln, um meinen Zuspruch für die Entscheidungen anderer Menschen auszudrücken – das mache ich nämlich, warum auch immer, recht häufig.

Nicht nur Farsi, auch Arabisch, Türkisch oder Kurdisch zu sprechen, ist in Deutschland vorurteilsbehaftet

Mir ist es wichtig, Farsi mehr zu zelebrieren – auch wenn ich es nur bruchstückhaft kann. Denn nicht nur Farsi, auch Arabisch, Türkisch oder Kurdisch zu sprechen, ist in Deutschland vorurteilsbehaftet. Ich würde sogar sagen: Mit dem Sprechen bestimmter Sprachen in der Öffentlichkeit sind nicht selten Rassismuserfahrungen verbunden. Auf der anderen Seite gelten Zweitsprachen wie Englisch oder Französisch als förderlich und nützlich. Einer der Gründe, warum wir zu Hause kaum Farsi gesprochen haben, war: Mein Vater wollte, dass wir uns „richtig integrieren“. Er hatte Sorge, dass Farsi meinem Deutsch schaden könnte. Und er fühlte sich bestätigt, als ich im Deutschunterricht Bestnoten bekam. Natürlich respektiere ich seine Entscheidung. Aber ich frage mich oft, ob es mir tatsächlich geschadet hätte, zweisprachig aufzuwachsen.

Ein Freund von mir, der mit beiden Eltern zu Hause ausschließlich Farsi gesprochen hat, hat eine der eloquentesten Ausdrucksweisen drauf, die ich kenne. Und es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass zweisprachiges Aufwachsen meistens sogar förderlich für die Entwicklung von Kindern ist. Und selbst wenn mein Deutsch dann nicht so „perfekt“ wäre wie jetzt: Vielleicht wäre es das doch Wert gewesen, um meine iranische Seite zu entdecken und besser mit Verwandten interagieren zu können? Was wäre, wenn es gesellschaftlich weniger vorurteilsbehaftet wäre, zum Beispiel einen iranischen Akzent zu haben? Und: Wenn manche Menschen meine Deutsch-Sprachkenntnisse ohnehin aufgrund meines Aussehens oder Namens infragestellen – macht es die Tatsache dann wirklich besser, dass es sich dabei um meine einzige Muttersprache handelt?

Natürlich nützt es wenig, sich über etwas zu beklagen, das man selbst ändern könnte. Nur weil ich es bis jetzt nicht perfekt gelernt habe, muss es noch nicht zu spät sein. Aber es fühlt sich oft so an. Nach meinem Abitur habe ich ein paar Mal Farsi-Kurse besucht. Ich war anfangs sehr motiviert – auch, weil die Lehrerin meine Aussprache lobte und ich schnell Fortschritte machte. Als ich kurze Zeit später aber für Arbeit und Studium in eine andere Stadt zog, schaffte ich es nicht mehr, kontinuierlich dranzubleiben. Manchmal denke ich, dass man ausgerechnet bei den Wünschen, die einem besonders wichtig sind, die größten Hemmungen hat, sie zu verwirklichen. Weil ich Angst vor dem Scheitern habe, bleibe ich also melancholisch.

Ich weiß jedenfalls, dass es mir nicht egal ist, die Sprache meines Vaters nicht gut sprechen zu können. Es ist ein seltsames Gefühl, ein deplatziertes, aber auch hoffnungsvolles. Da gibt es noch etwas zu entdecken für mich. Manchmal fühlt es sich ein bisschen an wie Heimweh. Aber ohne die Gewissheit gegenüber dem, was „Heim“ bedeutet. Bei Heimweh weiß man schließlich, was man vermisst. So genau weiß ich das noch nicht. Dieses Heimweh-Gefühl gegenüber dem Versäumnis einer zweiten Muttersprache hat also eher mit Sehnsucht zu tun, mit einer inneren Ahnung. Und ich werde mir irgendwann Gewissheit verschaffen.

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