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Warum ich mich auf Kongressen wie ein Kind fühle

Illustration: Daniela Rudolf

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Lebensaufgabe Sozialkompetenz! So wichtig wie Wasser und Brot, so kompliziert wie eine Operation am offenen Herzen. In der Serie „Hilfe, Menschen!“ berichten wir von unseren Sozialphobien. Heute: sich im Business-Umfeld alles andere als erwachsen fühlen.

Am ersten Schultag fing es an: Die Tür zum Klassenzimmer ging auf, wir alle strömten herein, mit unseren leeren Ränzen und vollen Schultüten, und jeder setzte sich raketenschnell auf einen leeren Platz – nur ich nicht. Ich stand gelähmt mitten im Raum. Irgendwann setzte ich mich doch irgendwohin, und zwar glücklicherweise neben Menschen, die nett waren.

Seitdem bin ich um etwa einen halben Meter gewachsen und wurde das, was man erwachsen nennt. Ich bekam keine Schultüte mehr, sondern einen Beruf und Kollegen. Trotzdem gibt es immer noch einen Moment, in dem ich in wenigen Sekunden um fünfzig Zentimeter schrumpfe: auf Kongressen, Konferenzen und Messen.

Die Tür öffnet sich zu einem Raum voll fremder Menschen. Wie damals haben alle schon vor mir ihren Platz gefunden. Und wie damals bleibe ich stehen. Einmal bin ich in so einem Moment auf der Ferse umgedreht und zurück in den Flur gehechtet. Als hoffte ich, dort meine Mutter zu finden, die mir gut zuredet: „Du schaffst das, mein Kind, du wirst sehen, die sind alle ganz nett da drin.“ (Ich sollte vielleicht erwähnen, dass meine Mutter, obwohl sie bemerkenswert nett ist, nie auf Konferenzfluren auf mich wartet.) 

Mittlerweile bin ich im Beruf sozial ganz kompetent. Ich kann Präsentationen halten, ohne Angstschweißausbrüche zu bekommen, eine Aufzugfahrt mit meinem Chef überstehen, ohne nervös zu pfeifen, und mit dem richtigen Druck Hände schütteln. Ich habe gelernt, nach dem Klogang noch mal meinen Reißverschluss zu kontrollieren und beim Business-Lunch keine Nudelsuppe zu bestellen. Aber in dem Moment, in dem ich eine Konferenz betrete, rennt all die Sozialkompetenz leider auf ihr Zimmer und schließt drei Mal ab.

Warum wirken alle Menschen auf Konferenzen, als würden sie sich von irgendwoher kennen? 

Denn die Dynamik auf Konferenzen ist ähnlich wie auf einem Kindergeburtstag: eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe wird für eine vorher festgelegte Zeit in einen Raum gesperrt und soll sich bitte möglichst gut verstehen. Ich hatte schon damals Angst: Was, wenn mich keiner mag? Was, wenn ich früher gehen will? Die Durchsage „Die kleine Sina möchte gerne aus dem Kinderparadies abgeholt werden“, hallte übrigens öfter durch unseren heimischen Ikea. Und so stampft in mir noch heute ein Kind, das sagt: „Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht.“ Und ich weiß bis heute nicht, was dagegen hilft.

Warum wirken alle Menschen auf Konferenzen, als würden sie sich auf wundersame Weise von irgendwoher kennen? Wohin ich schaue, Small-Talk-Grüppchen, die intensiv nicken und an ihrem dünnen Kaffee nippen. Wo und vor allem wie stelle ich mich da bitte dazu? Es fehlt ein Standard-Spruch wie auf Hochzeiten und Geburtstagen: „Und, woher kennst du X?“ Darum bleibe ich still, trinke zu viel Kaffee, studiere aufmerksam Flyer und Poster und beobachte durchs Fenster sehr lange den Parkplatz. Dann streife ich wie ein scheues Raubtier um die Grüppchen, in der Hoffnung, einen Gesprächsfetzen zu hören, der mir den Einstieg ermöglicht, oder eine Stille abzupassen, in der ich mich unauffällig dazustellen kann. 

Das Problem ist, dass man sich auf Konferenzen nicht nur als sozial, sondern auch als professionell und kompetent darstellen will. Da gibt es wenig Unpassenderes als an den Satz: „Kein Wunder, dass Orwell nach den US-Wahlen eine Renaissance erlebt“ anzuschließen mit: „Hallo alle, ich bin übrigens die Sina.“ Small-Talk bedeutet auf Konferenzen intellektuelle Performance. Aber wie geht die? Und wo ist da genau der Mehrwert? Warum glaube ich überhaupt, dass ich da mitmachen muss?

Auf meiner ersten Buchmesse schloss ich mich erstmal 20 Minuten auf dem Klo ein

Weil mich das alles so grenzenlos überfordert, schloss ich mich auf meiner ersten Buchmesse erstmal 20 Minuten auf dem Klo ein. Das klingt übertrieben. Aber zur Einordnung: Erfahrene Menschen haben auf der Buchmesse Desinfektionsmittel dabei, wegen der Masse an geschüttelten Händen. Kein Zeichen für entspannten zwischenmenschlichem Kontakt. Damals hab ich mir übrigens auch zum ersten Mal gewünscht, ich würde rauchen. Die Idee: Dadurch der grell beleuchteten Halle entfliehen und mit einer Gruppe Auserwählter gemeinsam paffen zu können, statt alleine dem Soundtrack acht benachbarter Klokabinen zu lauschen.

Ich glaube mittlerweile, dass es für mich nur diese drei Möglichkeiten gibt, auf Konferenzen und Messen zu bestehen: aussitzen, Angriff oder Flucht. Entweder, ich bleibe am Platz und fake Betriebsamkeit. Oder ich stelle mich zu einer Gruppe Fremder und lasse die Panik abebben, bis darunter vielleicht doch ein nettes Gespräch hervorkriecht. Oder ich gebe gleich auf, verschwinde aufs Klo, auf den Flur oder in einen anliegenden Park. 

Keine dieser Varianten ist so richtig schön – und vor allem: nicht besonders erwachsen. Und das ist schade. Konferenzen sind wahrscheinlich voll von interessanten Menschen, die ich nicht kennenlerne. Manchmal passiert es aber doch: Jemand steht ratlos vor den Thermoskannen und schaut schon seit Minuten intensiv auf den schlecht gerahmten Van-Gogh-Print? Da ist er, mein Konferenz-Freund! Wer ihn findet, sollte ihn nie wieder gehen lassen. Ich vermute ja: Genau so haben sich all die kennengelernt, die jetzt so vertraut in Grüppchen zusammenstehen. 

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