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Warum ich Konzerte hasse

Illustration: Katharina Bitzl

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Lebensaufgabe Sozialkompetenz! So wichtig wie Wasser und Brot, so kompliziert wie eine Operation am offenen Herzen. In der Serie „Hilfe, Menschen!“ berichten wir von unseren Sozialphobien. Heute: Wenn nur die anderen Konzertbesucher nicht wären...

Es ist Donnerstgabend, 19:43 und ich stehe irgendwo in der hinteren Hälfte einer Schlange, die in ein Konzerthaus führt. Vor fünf Wochen habe ich genau 38 Euro gezahlt und seitdem gleicht meine Vorfreude auf den heutigen Abend der eines kleinen Kindes in der Adventszeit, jeden Morgen den Kalender zu öffnen und die Schokolade zu vernaschen.

Denn gleich werde ich in diese Halle schlendern und mit voller Hingabe meine Teenie-Schmachtereien für meine Lieblingsband aufleben lassen, von denen ich ebenfalls auch gerne alle Bandmitglieder vernaschen würde.

Doch es ist wie beim One Night Stand: Egal wie groß die Vorfreude, wenn du eine gute Stunde in der selben Position verweilst, deine Füße kalt sind und dir dazu auch noch ein penetranter Billo-Parfüm-Duft entgegenströmt, ist die Freude schnell dahin und du möchtest einfach wieder nach Hause in dein (eigenes) Bett. 

Während ich ernsthaft darüber nachdenke zu gehen und mir, ähnlich wie bei einem misslungenen One Night Stand, schon überlege, ob ich für mein Fußbad lieber winterlichen Bratapfel oder doch spritzigen Limettenzusatz verwenden soll,  steht mein nachbarlicher Mitstreiter in der Schlange laustark vor der Entscheidung, ob er sein drölfhundertstes Snapchat-Selfie doch lieber mit Hundefilter oder ganz vielen Glitzerherzen versehen soll. 

Konzerte: Ja, ich hasse sie schon bevor sie anfangen. 

Dabei ist es ja eigentlich toll, diese eine Band live und in Farbe zu sehen, zu der ich im Mickey-Maus-T-Shirt mit ungewaschenen Haaren durch mein Zimmer tanze und mich fühle, als würde ich gerade mit Johnny Depp im Cabrio durch die sternenklare New Yorker Nacht fahren. Das Problem ist nur: In meinem Zimmer sind keine anderen Menschen. Auf dem Konzert schon. Und ordentlich anziehen muss ich mich auch.

Ich stehe hinter einem 60-Liter-sechs-Monate-Südostasien-Travel-Backpack mit Beinen

Endlich, die Türen werden geöffnet und die Massen an Menschen stürmen in die Halle. Nach Betrachtung der Ellenbogenanzahl, die hier existiert, sind es vielleicht auch keine Menschen, sondern sechsellbögige Aliens. 

Es beginnt die Raumverteilung. Vom Weltraum aus muss das gerade aussehen, wie wenn man eine Packung M&Ms auf dem Boden ausleert. Ich bin übrigens das kleine, unförmige schwarze, ganz hinten.

Ich lande eingequetscht hinter einem riesigen roten M&M, an dem ein kleiner orangener M&M vorne dran klebt. Übersetzt bedeutet das: Ich stehe hinter einem 60-Liter-sechs-Monate-Südostasien-Travel-Backpack mit Beinen. Von links hinten quetscht sich ein mit Wodka Lemon bestückter blonder Pferdeschwanz (mit Körper dran) vor zu seiner Backpack-BFF. 

Das Konzert beginnt und wenn nicht grade der Backpack mir so fest in meine Brüste ballert, dass ich Angst habe, niemals in meinem Leben stillen zu können, landet der erwähnte Pferdeschwanz nach einer wilden Schleuderparty in meinem Gesicht. Und ich frage ich, warum ich jemals dachte, dass dieser Abend voller fahrlässiger Körperverletzungen und mit dem absolut lächerlichen Versuch, meine Nerven und meinen Harndrang zu kontrollieren, die 38 Euro wert sei. 

Doch dann spielen sie diesen Song. Mit so richtig echten Gitarrenklängen und der richtig echten Stimme von diesem mysteriös-attraktiven Frontsänger, von dem ich die letzten Tage jedes schwarz-weiße Instagram Bild geliked habe. Und hey, der Backpack ist gerade sogar die zwei Zentimeter nach rechts gerutscht, sodass ich den Sänger sogar sehen kann. 

Der Pferdeschwanz feiert ein Comeback in meinem Gesicht und meine Augen tränen

Ich singe mit und der Pferdeschwanz vor mir singt mit und hey, eigentlich kann Miss Pferdeschwanz doch gar nicht so scheiße sein, wenn sie den Text von MEINEM Lied auswendig kennt. Musik verbindet doch schon auch. Irgendwie sind wir hier doch alle eins. Irgendwie wollen wir doch einfach nur glücklich sein, einfach nur im Moment leben und…

BÄM. Der Pferdeschwanz feiert ein wuchtiges Comeback in meinem Gesicht und meine Augen fangen an zu tränen. Ich sehe zwar nichts mehr, aber spüre, wie BFF Nummer 3 vom Klo kommt und es schafft, mir die letzten Zentimeter Lebensraum vor mir zu nehmen. Ihr Hintern reibt sich an meiner Intimzone und ihre Schulterblätter schlagen rhythmisch im Takt an mein Kinn. 

Die Kontrolle der Nerven ist nun offiziell gescheitert. Vergleichbar mit meinem heutigen Versuch mir einen Lidstrich zu ziehen. Fun Fact: Es landete in einer schmerzhaften Tättowierung meines Augapfels. Zumindest funktioniert die Kontrolle des Harndrangs. Noch.

Als es endlich vorbei ist, flutsche ich mir schnell meinen Weg durch die durchgeschwitze Menschenmasse, raus an die frische Luft, und pullere, um die Kloschlange zu vermeiden, in den nächsten Busch. Meine Blase würde, wenn sie könnte, lauthals jubeln und meine Gliedmaßen feiern ihre wiedererlangte, sehnsüchtig verhoffte Freiheit.

Und gerade will ich endlich dieses Gelände des Grauens verlassen, als ich das Konzertplakat meiner Lieblingsband entdecke. Live in concert. Die muss ich sehen. Scheiße.

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