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Der Pflichtbesuch bei Verwandten

Illustration: Daniela Rudolf

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Lebensaufgabe Sozialkompetenz! So wichtig wie Wasser und Brot, so kompliziert wie eine Operation am offenen Herzen. In der Serie „Hilfe, Menschen!“ berichten wir  von unseren Sozialphobien. Heute: der Besuch bei der Großtante.

Soll ich oder soll ich nicht? Jedes Mal, wenn ich meinen Vater besuche, kommt früher oder später der Moment, in dem ich überlege, ob ich noch kurz bei meiner Großtante vorbeischauen soll. Einerseits wohnt sie im selben Ort wie mein Vater. Zu ihrem Haus sind es ungefähr zehn Gehminuten. Für einen Besuch bei ihr muss ich also keinen großen Umweg in Kauf nehmen. Ich muss nicht einmal in ein Auto oder einen Bus einsteigen. Andererseits graut es mir schon beim Gedanken daran, vor ihrer Tür zu stehen und den Klingelknopf zu drücken.

Dass ich meine Großtante nur ein- bis zweimal pro Jahr sehe, liegt nicht daran, dass sie unsympathisch oder irgendwie seltsam wäre. Wie eine dieser kauzigen, alten Katzendamen etwa, deren Lebensinhalt sich auf Füttern und Bürsten beschränkt. Im Gegenteil: Ich mag meine Großtante. Sie kocht sehr gut, verreist mehrmals pro Jahr und pflegt einen engen Kontakt zu ihren beiden Kindern. Das heißt, sie kann mich nicht nur mit Neuigkeiten aus ihrem eigenen Leben, sondern auch aus dem von anderen versorgen – und mit leckerem Essen. Der Gesprächsstoff geht uns so schnell nicht aus. Zumindest theoretisch.

In der Praxis sieht es anders aus. Schon nach zehn Minuten in ihrem Wohnzimmer – sie sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem beigen Sessel, ich in identischer Haltung auf dem beigen Sofa – ebbt die Unterhaltung ab. Was sie zuletzt gekocht hat, wohin sie vor drei Monaten gereist ist, wie es dem Großcousin und der Großcousine geht: Schwupps, haben wir alle Themen abgearbeitet. Und ich fange an, panisch das Zimmer abzusuchen. Nach Gegenständen, die mir vorher nicht aufgefallen sind („Ist das neu?“), nach Fotos, die ich, hoffentlich, noch nie gesehen habe („Wann war das denn?“) – schlicht: nach irgendetwas, das die Unterhaltung wieder zum Laufen bringen könnte.

Nervös stelle ich die Beine nebeneinander, wische die schwitzenden Hände an der Jeans ab. Während sich eine unangenehme Stille zwischen uns breit macht, wird mir wieder einmal bewusst, warum ich meine Großtante so ungern besuche: Obwohl wir miteinander verwandt sind, uns seit meiner Geburt jedes Jahr an Ostern und Weihnachten sehen, uns zu unseren Geburtstagen sogar gegenseitig Postkarten schicken, kenne ich sie gar nicht. Jedenfalls nicht so richtig. So, wie ich meine Mutter oder meinen Vater kenne oder die Onkel und Tanten, die ich regelmäßig treffe und mit denen ich ab und zu auch telefoniere.

Ich habe keine Ahnung, was sie gerade beschäftigt oder welche Sorgen sie hat. Auch nicht, was sie als Kind werden wollte. Ob sie sich, als sie klein war, besser mit ihrem Vater oder ihrer Mutter verstanden hat, was ihr Lieblings-Schulfach war. Ich weiß nicht einmal, welche Träume sie hatte, bevor sie sich das beige Sofa und den beigen Sessel gekauft hat. Vielleicht wollte sie einst Künstlerin in Paris werden statt Buchhalterin in der schwäbischen Provinz. (Es gibt keinerlei Indizien, die darauf hindeuten. Aber es wäre möglich.) 

Natürlich könnte ich sie ganz einfach nach all diesen Dingen fragen. Aber so aus dem Kontext gerissen traue ich mich das nicht. Es ist leider so: Für ein intimes, tiefergreifendes Gespräch fehlt uns die Basis – die gemeinsam verbrachte Zeit, während der all die großen und kleinen Lebensfragen wie von alleine aufpoppen. Wir waren nie zusammen wandern oder haben der jeweils anderen beim Umzug geholfen. Wir haben nie spätabends zu zweit eine Flasche Wein geleert. Auch keine Flasche Limo.

Die Besuche bei meiner Großtante haben, wie das eben bei den meisten Besuchen bei entfernten Verwandten der Fall ist, einen eher förmlichen Charakter: Ich komme zu ihr, wir betreiben Smalltalk bei Kaffee und Kuchen und spätestens nach einer halben Stunde frage ich mich, wann ich verschwinden kann, ohne den geltenden Höflichkeits-Kodex zu verletzen. Das Ganze ist höchst unangenehm, wahrscheinlich für beide Seiten.

Meine Großtante nicht mehr zu besuchen, ist aber auch keine Option. Immerhin teilen wir einige DNA-Abschnitte. Und der Rest der Verwandtschaft hätte dafür auch kein Verständnis. Das gemeinsame Erbe schweißt zwar nicht unbedingt zusammen, aber – zumindest auf dem Land ist das noch immer so – es verpflichtet. Zum Beispiel dazu, nicht nur die Verwandten, denen man sehr nahesteht, sondern auch Großtanten, -onkel, -cousins und -cousinen zu Feierlichkeiten wie Konfirmationen, Hochzeiten oder runden Geburtstagen einzuladen. Und ihnen nach einem Feiertag persönlich frohe Ostern, schöne Weihnachten, ein gutes neues Jahr zu wünschen.

Was eigentlich eine schöne Tradition ist. Bloß sind diese Besuche die allerschlimmsten – nicht nur wegen der angestrengten Konversation, sondern auch wegen des immer gleichen Abschlusses: Schon wenn ich reinkomme, weiß ich, dass meine Großtante mir am Ende Geld geben wird. Und darum komme ich mir die ganze Zeit über vor wie eine Halsabschneiderin, die 30 Minuten lang Interesse heuchelt, nur um beim Abschied einen 20-Euro-Schein zugesteckt zu bekommen. Dabei interessiere ich mich wirklich für meine Großtante. Oder versuche es zumindest. Doch ihr Geld macht es noch viel schwieriger, ein Verhältnis zwischen uns aufkommen zu lassen, das über nervöses Händekneten und den halbjährlichen Austausch von Alltäglichkeiten hinausgeht.

Auf dem beigen Sofa sitzend kann ich irgendwann nur noch an diesen einen Moment denken. An die Geldübergabe. Daran, wie ich sage: „Das ist doch gar nicht nötig.“ Daran, wie ich denke: „Ich will dein Geld doch gar nicht!“ Daran, wie sie nicht locker lässt, mir trotz meines Protests einen Umschlag in die Hand drückt und ich mich fühle wie ein kleines Kind, dem der Hausarzt nach dem Impfen stolz einen Lutscher überreicht: „Braves Mädchen.“ Es hilft alles nichts: Bei meinem nächsten Besuch werde ich mutig sein und sie endlich danach fragen, was sie früher einmal werden wollte. 

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